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JUGEND/319: Kinder- und Jugendschutz - Stiefkind auf der staatlichen Agenda? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014 - Nr. 106

Kinder- und Jugendschutz: Stiefkind auf der staatlichen Agenda?

Von Reinhard Wiesner



Ein zeitgemäßer Kinder- und Jugendschutz braucht andere Maßnahmen und Strategien, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Nicht zuletzt der Einzug der digitalen Möglichkeiten in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zeigt, dass die gesetzlichen Grundlagen für den Kinder- und Jugendschutz teilweise völlig veraltet sind.


Diese Überschrift mag zunächst provokant erscheinen, steht doch der Kinderschutz im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit, was Einzelfälle von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung oder etwa die Aufarbeitung sexueller Übergriffe in Heimen der 1950er- und 1960er-Jahre betrifft und im Bundeskinderschutzgesetz seinen Ausdruck gefunden hat. Zudem hat die Debatte um einen besseren, wirksameren Kinderschutz auch zur Etablierung sogenannter Früher Hilfen geführt - dennoch bleiben viele (andere) Fragen ungelöst beziehungsweise bedürfen einer intensiven Bearbeitung. Wer sich mit den Rechtsgrundlagen für den Kinder- und Jugendschutz befasst, der sieht sich mit einem Spektrum von Gesetzen konfrontiert, die ähnliche Namen tragen - wie etwa dem Bundeskinderschutzgesetz, dem Jugendschutzgesetz oder dem Jugendarbeitsschutzgesetz. Wird bei letzteren noch ein spezifischer Anwendungsbereich erkennbar, nämlich der Schutz junger Menschen "bei der Arbeit" (ursprünglich als Instrument zur Sicherung des soldatischen Nachwuchses gedacht), so scheinen das Bundeskinderschutzgesetz und das Jugendschutzgesetz vor allem altersgruppenorientiert nach Kindern und Jugendlichen zu differenzieren.

Wer sich aber näher damit befasst, weiß, dass beide Gesetze dem Schutz von Kindern und Jugendlichen dienen. Die Unterscheidung muss also an anderer Stelle getroffen werden. Das Jugendschutzgesetz dient dem Schutz der Kinder und der Jugend in der Öffentlichkeit, was bis zum Jahre 2002 auch in der Bezeichnung des Gesetzes zum Ausdruck kam. Ihm gegenüber steht das Bundeskinderschutzgesetz, das wiederum in das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) und ein Paket von Änderungen im Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe (SGB VIII) zerfällt.

Im SGB VIII ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl von Anfang an benannt - also seit dem Jahre 1990. Das betrifft den Paragraphen 1 - gewissermaßen als Generalauftrag der Kinder- und Jugendhilfe (Paragraph 1 Abs. 3 Nummer 3 SGB VIII) sowie im zweiten Kapitel "Leistungen der Jugendhilfe" den "erzieherischen Kinder und Jugendschutz" - als eigenständige Leistung der Kinder- und Jugendhilfe ausformuliert (Paragraph 14 SGB VIII).

Es wäre jedoch unzutreffend, den Schutzbereich der Gesetze nach Öffentlichkeit (Jugendschutzgesetz) und Privatheit (Bundeskinderschutzgesetz, SGB VIII) zu differenzieren. Der zentrale Unterschied liegt in den Adressatinnen und Adressaten, nämlich einerseits den Personen und Institutionen, die Gefahrenquellen in der Öffentlichkeit eröffnen, und andererseits den Eltern, die im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung die Pflicht haben, Kinder und Jugendliche vor Gefahren zu schützen. Das bedeutet, Kinder und Jugendliche keinen Gefahren im privaten oder öffentlichen Raum auszusetzen.

Nahm der klassische Kinder- und Jugendschutz in der Öffentlichkeit vor 100 Jahren seinen Anfang in der Kontrolle der sogenannten Schund- und Schmutzliteratur und zum Schutz der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen - also vor Gefahren in der realen Welt - so lauern mögliche Gefahren heute zunehmend in der digitalen Welt. Angesichts der föderalen Struktur in Deutschland ist der Jugendschutz (in der Öffentlichkeit) damit zweigeteilt: Das Jugendschutzgesetz regelt heute zum einen den Verkauf, die Abgabe und den Konsum von Tabak und Alkohol, zum anderen die Abgabe - zum Beispiel Verkauf und Verleih - von Filmen und Computerspielen sowie den Aufenthalt in Gaststätten und bei Tanzveranstaltungen (zum Beispiel in Diskotheken).


Die Gefahren kommen verstärkt aus der digitalen Welt

Die Rechtsgrundlage für den Jugendschutz in elektronischen Medien (Internet, Fernsehen, Rundfunk) ist der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag der Länder. Dieser Staatsvertrag ist - wie zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6. April 2014 berichtet - völlig veraltet: Die geltenden Standards stammen aus dem Jahr 2002, einer Zeit, als es noch keine sozialen Netzwerke und keine Chatrooms für Kinder und Jugendliche gab. Deshalb sind Kinder und Jugendliche nicht vor Inhalten geschützt, die Erwachsene dort einstellen und die Minderjährigen schaden. Vor allem geht es dabei um Sexualität und Gewalt sowie den Schutz der Privatsphäre. Dieser Staatsvertrag muss daher dringend erneuert werden.

Gleichzeitig werden auch die Grenzen der Beherrschung und Kontrolle von Gefahrenquellen im elektronischen Zeitalter, das keine nationalen Grenzen kennt, deutlich. Dies betrifft zunächst den Staat und seine Möglichkeiten der Grenzziehung und der Kontrolle, dann aber auch die Eltern bei der Ausübung ihrer Erziehungsverantwortung. Sie sollen einerseits Kinder vor Gefahren für ihr Wohl schützen, andererseits aber auch Kindern und Jugendlichen alters- und entwicklungsgerechte Spielräume für ihre freie Entfaltung eröffnen. Da der Staat nach Artikel 6 Abs. 2 GG den Eltern die primäre Verantwortung für die Erziehung zuweist, definieren diese auch - innerhalb bestimmter Grenzen - das Kindeswohl und damit die Spielräume für eigene Erfahrungen des Kindes oder Jugendlichen.

Als ein generelles Ziel der Erziehung nach dem Menschenbild des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Grundsatzentscheidung vom 29. Juli 1968 (1 BvL 20/63, 31/66 und 5/67) die Hinführung des Kindes zur Selbstverantwortung herausgestellt. Deshalb werden Eltern dazu angehalten, bei der Pflege und Erziehung die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen - wie es im sogenannten Leitbild der Erziehung heißt, das seit dem Jahre 1980 als Teil der Grundsatzkonzeption der elterlichen Sorge rechtlich fixiert ist (Paragraph 1626 Abs. 2 Satz 1 BGB).

Dieses Leitbild hat beziehungsweise muss auch Auswirkungen auf die Art und Weise der elterlichen Aufsichtspflicht haben, wie sie als Teil der Personensorge in Paragraph 1631 Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommt. So heißt es in einem Standardkommentar: "Beaufsichtigung und Erziehung sind eng miteinander verbunden. Gegenüber dem Kind übernimmt Beaufsichtigung die negativ-verbietende Komplementärfunktion zur positivanleitenden Erziehung, ist also zugleich Erziehungsaufgabe und wird bestimmt vom Wohlergehen des Kindes und vom Erziehungsziel nach Paragraph 1626 Abs. 2" (Münchener Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 6. Aufl., München 2012; Paragraph 1631 BGB Randnummer 7; Bearbeiter: Prof. Dr. Peter Huber).


Kinder- und Jugendschutz müsste mehr auf Beratung angelegt sein

Wie schwierig es heute für Eltern geworden ist, ihrer Aufsichtspflicht und damit ihrer Verantwortung gegenüber dem Kind, aber auch gegenüber Dritten, denen sie gegebenenfalls für Schäden haften müssen, gerecht zu werden, zeigen die bekannt gewordenen Fälle über teure Abmahnungen wegen des Downloads eines Musikstücks, eines Computerprogramms oder Hörspiels durch Kinder, die Mobiltelefone oder Computer nutzen. Angesichts der Gefahren, aber auch der leichten Zugänglichkeit zum Internet wird es für Eltern zunehmend schwieriger, ihrer Aufsichtspflicht im gebotenen Umfang nachzukommen - wobei zu klären wäre, was darunter im Einzelfall zu verstehen ist.

Der Staat ist gehalten, die Rechte Dritter auf Ersatz des Schadens und die Pflichten der Eltern neu auszutarieren. Auch Versicherungen tragen mit ihren Vertragsklauseln dazu bei, die Spielräume für eigenes Erkunden und Entdecken klein zu halten. Vielleicht kann die Debatte um Kinderrechte und um die Weiterentwicklung einer kinderfreundlichen Gesellschaft hier einen Beitrag dazu leisten, dass die Erwachsenengesellschaft mehr Toleranz gegenüber Kindern und Jugendlichen übt und bereit ist, auf Rechtspositionen im Interesse von Kindern und Jugendlichen zu verzichten.

Waren die staatlichen Aktivitäten lange Zeit vom Auftrag zur Gefahrenabwehr und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung motiviert, so treten in den letzten Jahrzehnten zunehmend Aufklärung, Information und Beratung - also die Vermittlung von Handlungskompetenzen - hinzu. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Sie hat die Aufgabe, die Bereitschaft der Bürger zu fördern, sich verantwortungsbewusst und gesundheitsgerecht zu verhalten und das Gesundheitssystem sachgerecht zu nutzen. Ihre Schwerpunkte wie Aids-Prävention, Sexualaufklärung, Suchtprävention bei legalen und illegalen Drogen, Kinder- und Jugendgesundheit zielen dabei vor allem auch auf junge Menschen.

Ein anderes Beispiel für diese Form des Kinder- und Jugendschutzes ist der sogenannte erzieherische Kinder- und Jugendschutz. Der Paragraph 14 SGB VIII nennt dazu einige Schutzformen: Jungen Menschen und Erziehungsberechtigten sollen Angebote des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes gemacht werden. Die Maßnahmen sollen junge Menschen befähigen, sich vor gefährdenden Einflüssen zu schützen und sie zur Kritikfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit sowie zur Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen führen. Ziel ist es, Eltern und andere Erziehungsberechtigte besser zu befähigen, Kinder und Jugendliche vor gefährdenden Einflüssen zu schützen.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen kann und muss aber wohl noch wesentlich breiter verstanden werden, nämlich als Auftrag zur Schaffung kinder- und jugendgerechter Lebensbedingungen (sogenannter "struktureller Kinder- und Jugendschutz"). Dazu ist neben allen staatlichen Akteuren wie der Kinder- und Jugendhilfe (siehe dazu Paragraph 1 Abs. 3 Nummer 4 SGB VIII), der Schule, der Arbeitsverwaltung und dem Gesundheitswesen auch die Gesellschaft als Ganze aufgerufen. Hier besteht auch eine enge Verknüpfung mit der Umsetzung des Inklusionsparadigmas.

Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Planungsaktivitäten in den verschiedenen Lebensbereichen zu, die auch einer guten Koordinierung bedürfen. Lebensräume von Kindern und Jugendlichen sollen hierbei angepasst und verbessert werden, indem gesellschaftliche Zusammenhänge und Strukturen, die die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen können, erkannt und durch gestaltende und planende Maßnahmen beseitigt werden. Dazu gehören etwa die Finanz-, Verkehrs- und Stadtplanung, die Spielraum- und Freizeitstättenplanung, der Umweltschutz und die Verhinderung von Armut und struktureller Vernachlässigung.

Ein Kinder- und Jugendschutz benötigt im Jahre 2014 also andere Strategien und Instrumente als vor 100 Jahren. Die Strategie der Prohibition (Verbot von Alkohol und Drogen) war seit jeher ein bekanntes Instrument (nicht nur) im Kinder- und Jugendschutz. Mit ihr wurde primär die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründet und immer auch der Schutz der Unversehrtheit der einzelnen Person mit angeführt. Diese Prohibitionsstrategie kommt bereits in der analogen Welt an ihre Grenzen. In der digitalen Welt lassen sich Gefahren durch Verbote des nationalen Gesetzgebers nicht mehr beherrschen. So ist auch die Wirkung eines (verschärften) Verbots der Herstellung oder Verbreitung kinderpornographischer Schriften nur begrenzt erfolgreich. Der eigenverantwortliche Umgang mit den (neuen) Medien wird zu einer Schlüsselkompetenz im digitalen Zeitalter. Ihre Vermittlung stellt eine zentrale Herausforderung für Eltern (und Familienbildung), für die Fachkräfte in der Jugendhilfe und für die Schulen dar. Damit aber alle Kinder und Jugendlichen über die notwendigen Teilhabe- und Verwirklichungschancen (auch im Medienkontext) verfügen, muss an den benachteiligenden Lebenslagen und exkludierenden (gesellschaftlich ausschließenden) Angebotsformen angesetzt werden. Der Abbau von sozialer Ungleichheit und die Verknüpfung von öffentlicher und privater Verantwortung bei der Neugestaltung des Aufwachsens junger Menschen - wie dies im 14. Kinder und Jugendbericht ausführlich dargestellt wird - sind daher zentrale Voraussetzungen für einen wirksamen Kinder- und Jugendschutz.


DER AUTOR

Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner war als Ministerialrat bis 2010 Leiter des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Er ist Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie und als Rechtsanwalt tätig. Reinhard Wiesner ist Herausgeber eines Kommentars zum SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - (5. Aufl. in Vorbereitung) und Mitherausgeber des Handbuchs "Kinder- und Jugendhilferecht" (2. Aufl. 2011) sowie der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ). Darüber hinaus ist er Vorsitzender der Fachkonferenz "Grundsatz- und Strukturfrage" des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht. Er hat zahlreiche Beiträge zu den verschiedenen Themen des Kinder- und Jugendhilferechts (unter anderem zum Kinderschutz und dem Ausbau der Kindertagesbetreuung) und zum Kindschaftsrecht publiziert.
Kontakt: Wiesner@msbh.de


DJI Impulse 2/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014
- Nr. 106, S. 25-28
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2014