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JUGEND/278: Kleine Seele in Not (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Kleine Seele in Not

Von Tina Gadow


Menschen mit psychischen Problemen leiden nach wie vor unter Vorurteilen. Dies gefährdet die frühzeitige Unterstützung von auffälligen Heranwachsenden, denn viele Familien scheuen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wie die Kinder- und Jugendhilfe das Wissensdefizit verringern kann.


Psychische Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für körperliches Wohlergehen, die Teilhabe an der sozialen Gemeinschaft sowie effektive Lern- und Bildungsprozesse. Nach der Einschätzung der Eltern entwickeln sich zwar 85,3 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen in Deutschland psychisch gesund, wie aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts hervorgeht (Hölling u. a. 2007). Doch für die betroffenen Heranwachsenden ist das Risiko hoch, dass sie erst sehr spät Hilfe erfahren. Denn das Wissensdefizit über psychische Erkrankungen in großen Teilen der Gesellschaft ist groß, was oft zu unbegründeten Ängsten führt.

Nach den Angaben der befragten Eltern zeigen 7,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen zumindest Hinweise auf eine psychische Beeinträchtigung. Bei 7,2 Prozent der jungen Menschen liegen dagegen bereits deutliche Merkmale für psychische Auffälligkeiten vor (Hölling u. a. 2007). Nicht alle Altersgruppen sind gleichermaßen betroffen: Es sind die Sieben- bis 13-Jährigen, die in besonderem Maße psychisch belastet sind.


Jungen sind stärker psychisch belastet als Mädchen

Das Auftreten psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen variiert nicht nur in Abhängigkeit vom Alter, sondern wird zudem wesentlich durch sozioökonomische Variablen beeinflusst. Die Daten des KiGGS belegen eine beträchtliche Verbreitung von Merkmalen psychischer Auffälligkeit bei Kindern von Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status oder mit Migrationshintergrund. Bei fast jedem vierten Kind (23,2 Prozent) aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sind Hinweise auf zum Teil massive psychische Probleme zu erkennen, während in Familien mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status nur etwa jedes siebte (13,4 Prozent) beziehungsweise jedes zwölfte Kind (8,1 Prozent) solche Anzeichen zeigt. Am häufigsten fallen Kinder und Jugendliche durch aggressiv-dissoziales Verhalten, Schwierigkeiten im Kontakt mit Gleichaltrigen sowie emotionale Probleme auf (siehe Grafik). Nahezu in allen Problembereichen zeigt sich, dass Jungen stärker als Mädchen psychisch belastet sind.

Die sogenannte BELLA-Studie liefert detaillierte Ergebnisse zu psychischen Erkrankungen bei Sieben- bis 17-Jährigen: 10 Prozent dieser Altersgruppe leiden an Angsterkrankungen, 7,6 Prozent an (aggressiv-dissozialen) Störungen des Sozialverhaltens, 5,4 Prozent an Depressionen und 2,2 Prozent an der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Ravens-Sieberer u. a. 2007).


Der Leidensweg ist vorbestimmt

Vor allem für Erkrankungen aus dem Spektrum der neuen Morbidität (siehe Bulletin Plus) haben neben biomedizinischen vielfach psychosoziale Faktoren an Bedeutung gewonnen, wie etwa soziale Benachteiligungen und damit assoziierte Lebensbedingungen oder Erwartungen des Bildungswesens an Schüler (Bitzer u. a. 2009). In modernen Krankheitsmodellen wird deshalb von einer biopsychosozialen Verursachung ausgegangen. Internationale Forschungsbefunde belegen, dass es bestimmte Muster im Entwicklungsverlauf von Kindern und Jugendlichen gibt, die den frühzeitigen Beginn von psychischen Störungen kennzeichnen und den Verlauf maßgeblich beeinflussen. Viele Verhaltensprobleme, die bereits in frühen Jahren festzustellen sind, ziehen weitere Beeinträchtigungen nach sich, beispielsweise psychosoziale Anpassungsschwierigkeiten im Erwerbsleben oder die Entwicklung von psychischen Begleiterkrankungen wie Suchtstörungen.

Die Daten aus der KiGGS-Studie und das Wissen über den Verlauf von psychischen Beeinträchtigungen zeigen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung ein gesteigertes Gesundheitsrisiko in diesem Bereich hat. Gleichzeitig herrscht im öffentlichen Bewusstsein aber immer noch eine einseitig ablehnende Haltung bis hin zu Ängsten gegenüber Menschen mit psychischen Problemen vor: Ihnen wird mangelnde Disziplin, ein »Nicht-Wollen«, ein »Stören« oder sogar ein Gefährdungspotenzial für die Allgemeinheit unterstellt. Ursache hierfür ist unter anderem ein eingeschränktes Wissen über die Hintergründe beeinträchtigter psychischer Gesundheit. Dies führt häufig dazu, dass sich viele Betroffene und deren Angehörige schämen und die frühzeitige Inanspruchnahme von Hilfen dadurch verhindert wird.


Agressiv, hyperaktiv und ängstlich 
 Die Anteile der Jungen und Mädchen im Alter von 3 bis 17 Jahren, 
 die nach Aussagen ihrer Eltern psychische Auffälligkeiten zeigen, in Prozent



Emotionale Probleme
agressiv-dissoziale
Verhaltensauffälligkeit
Unaufmerksamkeit/
Hyperaktivität
   Probleme mit
   Gleichaltrigen
Probleme, sich sozial
angemessen zu verhalten

auffällig grenzwertig
auffällig grenzwertig
auffällig grenzwertig
auffällig grenzwertig
 Auffällig grenzwertig
Jungen
8,6        6,9   
17,6       17,5     
10,8        7,3   
13,1       11,3   
4,7        9,0     
Mädchen
9,7        7,5   
11,9       14,5     
4,8        4,5   
9,9        9,6   
2,5        5,0     

Quelle: Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGS), Robert Koch-Institut



Auf die Sensibilität der Fachleute kommt es an

Ganz allgemein ist von den in der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen eine gesteigerte Sensibilität gegenüber psychischen Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen gefordert, da eine nicht unerhebliche Zahl ihrer Klientel betroffen ist (Kuschel u. a. 2008; Schmid 2007). Dies meint vor allem die Ausdifferenzierung des Wissens über die Hintergründe und die Entwicklung psychischer Beeinträchtigungen im Rahmen von Aus-, Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte. Gleichzeitig ist es im Austausch zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen notwendig, (lokale) Kooperationspartner einzubeziehen, um frühzeitig Aussagen über Art und Verlauf der Beeinträchtigung machen zu können. Denn letztlich können Fehlentwicklungen nur vermieden werden, wenn Betroffene frühzeitig effektive Hilfsangebote erhalten.

Beispielhaft an dieser Stelle sind im Gebiet der Gesundheitsförderung eine (politische) Aufwertung von Angeboten der Familienbildung (nach § 16 SGB VIII) über die Frühen Hilfen hinaus sowie im Bereich der Prävention zum Beispiel die bessere Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit ambulanten erzieherischen Hilfen (etwa Erziehungsberatungsstellen) zur Vermeidung oder Abklärung von Beeinträchtigungen psychischer Gesundheit bei Kindern vorzuschlagen. Bei der Ausgestaltung der Angebote sind Aspekte des vereinfachten Zugangs und der Erreichbarkeit für Risikogruppen zu berücksichtigen.

Aber nicht nur im Bereich der psychosozialen Gesundheitsförderung und der Prävention psychischer Auffälligkeiten, sondern auch in der Versorgung von Heranwachsenden mit psychischen Erkrankungen ergeben sich - unter Berücksichtigung der Angebote der Hilfen zur Erziehung (§§ 27-35 SGB VIII) und der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII) - Handlungsaufträge für die Jugendhilfe. So sollten die Hilfen im Sinne der Salutogenese (siehe Bulletin Plus) ausgestaltet werden.

Kontakt: gadow@dji.de


Literatur:

Bitzer, Eva Maria / Walter, Ulla / Schwartz, Friedrich-Wilhelm (2009): Perspektiven und Potenziale. In: Bitzer, Eva Maria u. a. (Hrsg.): Kindergesundheit stärken. Vorschläge zur Optimierung von Prävention und Versorgung. Heidelberg, S. 320-327

Hölling, Heike / Erhart, Michael / Ravens-Sieberer, Ulrike / Schlack, Robert (2007): Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt, Heft 5/6, S. 784-793

Kuschel, Annett / Heinrichs, Nina / Bertram, Heike / Naumann, Sebastian / Hahlweg, Kurt (2008): Psychische Auffälligkeiten bei Kindergartenkindern aus der Sicht der Eltern und Erzieherinnen in Abhängigkeit von soziodemografischen Merkmalen. In: Kindheit und Entwicklung, Heft 3, S. 161-172

Ravens-Sieberer, Ulrike / Wille, Nora / Bettge, Susanne / Erhart, Michael (2007): Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt, Heft 5/6, S. 871-878

Schmid, Marc (2007): Psychische Gesundheit von Heimkindern. Prävalenz psychischer Störungen in der stationären Jugendhilfe. Weinheim/München


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S.18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2009