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JUGEND/277: Wenn Kinder Eltern sein müssen (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Wenn Kinder Eltern sein müssen

Von Hanna Permien und Mike Seckinger


Mehr als 1,6 Millionen Minderjährige in Deutschland haben mindestens einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist. Dennoch sind verlässliche Hilfsangebote für solche Familien noch die Ausnahme. Entlang der Geschichte der zehnjährigen Lena, die realen Fällen nachempfunden ist, lassen sich Unterstützungsmöglichkeiten und Defizite aufzeigen.


Morgens 6:30 Uhr, die zehnjährige Lena steht auf, schaut nach ihrem kleinen Bruder, macht Frühstück, räumt die Küche auf und bringt ihren kleinen Bruder in den Kindergarten, bevor sie sich auf den Weg zur Schule begibt. Sie vermisst ihren Vater, der vor einem Jahr ausgezogen ist. Er hat sich von der Depression seiner Frau überfordert gefühlt. Seither muss Lena für eine Tagesstruktur sorgen, die der kleinen Familie Halt und Orientierung gibt. Zum Glück gibt es noch Anna, eine Nachbarin, die ab und zu die Kinder zum Mittagessen einlädt, mit ihnen Ausflüge macht und Lenas Mutter immer wieder motiviert, zum Arzt zu gehen. Wenn sie abends nicht einschlafen kann und jemanden braucht, der sie in den Arm nimmt, schleicht sich Lena manchmal zu Anna.

Es wäre nicht notwendig, dass die zehnjährige Lena allein die Verantwortung für den Alltag der Familie zu tragen hat. Seit einigen Jahren werden unterschiedliche Hilfen entwickelt, die Kinder psychisch erkrankter Eltern unterstützen und in ihrer Entwicklung fördern sowie zum verbesserten Therapieerfolg der Eltern beitragen können. Aber leider wissen Lena, ihre Mutter sowie die Nachbarin nichts von diesen Möglichkeiten. Sowohl Krankenkassen und Rehabilitations-Träger als auch Jugendämter haben die gesetzlichen Grundlagen und damit die Rahmenbedingungen, um der Familie eine Haushaltshilfe zur Seite zu stellen. Nach dem achten Sozialgesetzbuch (§ 20 SGB VIII) könnte eine Familienhelferin zumindest in den Phasen den Alltag in der Familie managen, in denen die Mutter krankheitsbedingt nicht in der Lage ist. Dies könnte zu einer erheblichen Entlastung von Lena beitragen. Auch für die Nachbarin wäre eine Unterstützung beispielsweise im Rahmen eines Programms für Patenfamilien hilfreich. So würde sie mit ihren Belastungen im Umgang mit der psychisch erkrankten Mutter nicht allein gelassen und könnte auch gegenüber den Kindern mehr Handlungssicherheit erlangen.

Trotz dieser Möglichkeiten kann von einer flächendeckenden und den Problemen angemessenen Versorgung nicht die Rede sein. Hilfen für diese Heranwachsenden, die im Rahmen der Jugendhilfe dauerhaft gefördert werden und mit den Versorgungssystemen für kranke Eltern kontinuierlich und verlässlich kooperieren, bilden die Ausnahme (Lenz 2008). Unterstützungsangebote für Kinder psychisch oder auch schwer körperlich erkrankter Eltern werden oftmals nur durch das persönliche Engagement einzelner Personen, zum Beispiel Mitarbeitende in Beratungsstellen, Kliniken oder Einrichtungsträgern initiiert. Vielfach erfolgt die Finanzierung dieser Hilfen begrenzt im Rahmen von Modellvorhaben regionaler Träger sowie durch Stiftungen, durch Spenden und gelegentlich auch durch kommunale Zuwendungen. Hinzu kommt, dass nur sehr wenige Projekte fachlich und theoretisch fundiert und ausreichend dokumentiert, geschweige denn evaluiert sind. Dies erschwert beziehungsweise verhindert eine fachliche Weiterentwicklung bestehender Angebote (Klein 2007; Lenz 2008).

Obwohl Lena nach wie vor eine gute Schülerin ist, macht sich die Lehrerin zunehmend Sorgen. Lena ist häufig sehr müde, lacht nicht mehr und zieht sich auch sozial zurück. Die Lehrerin hat deshalb die Mutter schon mehrfach gebeten, in die Sprechstunde zu kommen - ohne Erfolg. Mit jedem Versuch der Lehrerin, Kontakt mit der Mutter aufzunehmen, wächst der Stress für Lena, denn es darf niemand erfahren, dass ihre Mama so oft weinen muss, so wenig Kraft hat und deshalb ganze Tage nur im Bett verbringt. Lena hat Angst, dass sie und ihr Bruder ins Heim müssen. Es darf keiner wissen, wie es der Mama geht. Aber wie schön wäre es, wenn man darüber reden könnte, wenn man jemanden hätte, den man fragen könnte, was mit der Mama überhaupt los ist und wie das weitergehen soll. Wenn jemand da wäre, der einem sagt, dass man nichts falsch gemacht hat. Wenn nur die Angst nicht wäre, selbst so zu werden wie die Mama, die Lena befällt, wenn sie vor lauter Sorgen selber weinen muss.

Erst in wenigen Regionen gibt es Gesprächsgruppen für Kinder mit einem ähnlichen Schicksal wie Lena. Studien zeigen, wie wichtig es für Kinder wäre, kompetente Gesprächpartner zu haben, die ihnen all ihre Fragen im Zusammenhang mit der elterlichen Erkrankung beantworten. Aber noch immer werden psychische Erkrankungen innerhalb der Familie tabuisiert und in der Öffentlichkeit stigmatisiert, so dass die betroffenen Mädchen und Jungen mit ihren Fragen allein bleiben. Auch psychisch erkrankte Eltern haben vielfach eine Hemmschwelle, sich an die Kinder- und Jugendhilfe zu wenden, die zum einen bedingt ist durch Angst vor Stigmatisierung durch das Umfeld, zum anderen durch die »Komm-Struktur« der Angebote, vor allem aber durch Angst und Misstrauen gegenüber dem Jugendamt (Kölch 2009). Die Eltern fürchten unter anderem, dass ihre psychische Erkrankung vom Jugendamt gleichgesetzt wird mit Erziehungsinkompetenz. Diese könnte wiederum als potenzielle Kindeswohlgefährdung gelten und einen (Teil-)Sorgerechtsentzug beziehungsweise eine Inobhutnahme des Kindes durch das Jugendamt nach sich ziehen. In letzter Konsequenz hat dies zur Folge, dass von Seiten der Eltern bestehende Unterstützungsangebote für Kinder selten oder erst zu spät in Anspruch genommen werden (Schone/Wagenblass 2002; Kölch 2009).

Um das große Risiko von Kindern psychisch kranker Eltern, selbst einmal ähnlich zu erkranken (ungefähr ein Drittel) zu verringern, wäre es jedoch sinnvoll, wenn die Kinder frühzeitig Unterstützung erfahren würden. Wie dies gehen könnte, ist längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem ist das Unterstützungsangebot noch immer unzureichend. Um dies zu verändern, müssten Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendhilfe und die Eingliederungshilfe viel enger als bisher zusammenarbeiten. Bereits bei Beginn einer psychiatrischen Behandlung müsste geklärt werden, ob die Patientinnen und Patienten Kinder haben. Zu prüfen wäre, welche Unterstützung die Familie braucht und wie die Kinder während der Phasen stationärer Behandlung versorgt sind. Notwendig wäre es, das Angebot an Mutter-Kind-Stationen in psychiatrischen Einrichtungen zu erweitern und die Kinder altersgerecht über die Erkrankung der Eltern aufzuklären; verheimlichen kann man sie sowieso nicht. Weiter bedarf es spezieller Beratungsstellen, an die sich Kinder und Familien wenden können (wie zum Beispiel in Leipzig), sowie der Etablierung gemeinsamer Fallbesprechungen zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe, um wechselseitige Abwehr und Unkenntnis zu überwinden.

Lena und ihr Bruder haben Glück. Als sich die Depression ihrer Mutter verstärkt und sie ins Krankenhaus geht, wird sie bereits bei der Aufnahme danach gefragt, wer sich um ihre Kinder kümmern wird. Die in den vergangenen Jahren entwickelte Zusammenarbeit zwischen der Klinik und dem Jugendamt ermöglicht es, dass sich noch am selben Tag eine Familienhelferin bei Lena und ihrem Bruder meldet. Gemeinsam mit der Nachbarin Anna gelingt es, den Krankenhausaufenthalt der Mutter für die Kinder nicht zu einer Überforderung werden zu lassen. Die Ärztin auf der Station bespricht gemeinsam mit Lena, ihrem Bruder und deren Mutter, wie sie gemeinsam mit der Erkrankung leben können. Die Medizinerin nimmt sich Zeit für die Kinder und ihre Fragen. Auch nach dem Klinikaufenthalt bricht die Hilfe nicht ab. Für Lena und ihren Bruder hat sich die Situation inzwischen etwas entspannt. Sie verheimlichen die Krankheit der Mutter nicht mehr. Die Familie wird in ihrem Alltag regelmäßig unterstützt, was eine große Entlastung für Lena darstellt. Sie hat in den Gesprächen mit den verschiedenen Helfern und mit Kindern in ähnlichen Situationen auch gelernt, dass sie nicht an der Erkrankung ihrer Mutter schuld ist.

Nicht alle Kinder machen diese positiven Erfahrungen mit dem Hilfesystem. Wie notwendig jedoch ein flächendeckendes Netz an guten, evaluierten und präventiv ausgerichteten Angeboten für Kinder psychisch erkrankter Eltern wäre, verdeutlicht allein schon die Anzahl der Betroffenen. Konservativ geschätzt haben etwa 1,6 Millionen Minderjährige in Deutschland mindestens einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist (Schmid u. a. 2008). 2,65 Millionen Heranwachsende unter 18 Jahren erleben zeitweise oder dauerhaft elterlichen Alkoholmissbrauch (Klein 2008). Mehr als ein Drittel der Drogenabhängigen in Deutschland hat Kinder; somit leben in Deutschland ungefähr 50.000 Kinder bei drogenabhängigen Eltern. Unbekannt ist die Zahl der Kinder von Eltern mit »Spielsucht« oder »Internetsucht« (Lenz 2009). Etwa vier Prozent der Kinder im Alter von vier bis 17 Jahren haben einen Elternteil mit einer langfristigen körperlichen Erkrankung, wobei es sich bei einem Drittel der Fälle um Krebserkrankungen handelt (Barkmann u. a. 2007). Kinder von psychisch-, sucht- oder chronisch körperlich kranken Eltern stellen also eine relativ große Gruppe von Heranwachsenden mit einem speziellen Förder- und Unterstützungsbedarf dar, die nicht länger vernachlässigt werden darf.

Kontakt:
permien@dji.de; seckinger@dji.de


Literatur :

Barkmann, Claus / Romer, Georg / Watson, Maggie / Schulte-Markwort, Michael (2007): Parental physical illness as a risk for psychosocial maladjustment in children and adolescents. Epidemiological findings from a national survey in Germany, In: Psychosomatics, issue 48, S. 476-481

Klein, Michael (2007): Kinder suchtkranker Eltern. Stuttgart

Klein, Michael (2008): Kinder aus alkoholbelasteten Familien. In: Klein, Michael (Hrsg.): Kinder und Suchtgefahren. Risiken, Prävention, Hilfen. Stuttgart, S. 114-127

Kölch, Michael (2009): Hilfen für Kinder aus Sicht ihrer psychisch kranken Eltern. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht

Lenz, Albert (2008): Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern. Grundlagen, Diagnostik und therapeutische Maßnahmen. Göttingen

Lenz, Albert (2009): Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern - Stärkung ihrer Ressourcen durch Angebote der Jugendhilfe. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht

Schmid, Marc / Schielke, Anietta / Fegert, Jörg / Kölch, Michael (2008): Kinder psychisch kranker Eltern. Eine Befragung von stationär behandelten Eltern. In: Nervenheilkunde, Heft 27, S. 521-526

Schone, Reinhold / Wagenblass Schone (2002): Kinder psychisch kranker Eltern zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie. Weinheim/München


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S. 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2009