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INTERNATIONAL/219: Chile - Das Leid der Migrant*innen (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile
Das Leid der Migrant*innen

Von Arnaldo Pérez Guerra


(Lima, 14. Juni 2017, noticias aliadas) - 1992 lebten in Chile 100.000 Migrant*innen. Im Jahr 2013 zählte man schon gute 400.000; heute sind es fast eine halbe Million. Die meisten leben in der Hauptstadtregion, in Valparaíso und im Norden des Landes. Der größte Teil ist im Dienstleistungssektor, im Bergbau, in der Industrie, in der Landwirtschaft sowie im Bildungs- und im Gesundheitssektor tätig.

Laut einer "Umfrage zur Erhebung sozioökonomischer Daten auf Landesebene" (CASEN) aus dem Jahr 2009 sind 54 Prozent der Migrant*innen Frauen. Nach Angaben der Migrationsbehörde DEM (Departamento de Extranjería y Migración) aus dem vergangenen Jahr stellen Migrant*innen etwa 2,08 Prozent der 18 Millionen Einwohner*innen Chiles. Davon stammen 78 Prozent aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern: Peru (31,7 Prozent), Argentinien (16,3 Prozent), Bolivien (8,8 Prozent), Kolumbien (6,1 Prozent), Ecuador (4,7 Prozent), Brasilien (drei Prozent) und Venezuela (1,9 Prozent).


Kinder werden zu Staatenlosen gemacht

Im Jahr 2005 unterzeichnete die chilenische Regierung das internationale Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeiter*innen und ihrer Angehörigen, das auf einen Beschluss der UNO aus dem Jahr 1990 zurückgeht. Jedoch weicht die chilenische Gesetzgebung weiterhin von den internationalen Standards ab. Das in Artikel 44 des internationalen Übereinkommens garantierte Prinzip der Familienzusammenführung wird im chilenischen Recht nicht berücksichtigt. Außerdem werden Kinder von Personen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus als "Nachkommen von Ausländer*innen ohne Bleibeabsicht" eingestuft. Das widerspricht den Grundsätzen der Internationalen Kinderrechtskonvention: So werden Kinder zu Staatenlosen gemacht und erhalten keinen Zugang zu den öffentlichen Initiativen zum Kinderschutz.


Rassismus gegenüber Zugewanderten in allen Gesellschaftsschichten

In den letzten Jahren hat der Zulauf von Migrant*innen aus Kolumbien und Haiti zugenommen. Soziale und kulturelle Vorurteile, Klassismus und Rassismus gegenüber den Zugewanderten ziehen sich durch alle Gesellschaftsschichten - bis hin zu Menschen mit niedrigstem Einkommen - und sind auch bei den Mapuche und in anderen indigenen Bevölkerungsgruppen anzutreffen. Besonders betroffen von rassistisch und klassistisch motivierten Diskriminierungen sind Kolumbianer*innen, Dominikaner*innen und Haitianer*innen mit afrikanischen Wurzeln. Der Bildungsstand der Zugewanderten liegt mit durchschnittlich 12,6 Jahren höher als der der Chilen*innen im erwerbsfähigen Alter, die im Schnitt 10,3 Jahre mit Schule und beruflicher Bildung verbringen.

Laut der CASEN-Umfrage aus dem Jahr 2013 stellen Migrant*innen etwa fünf Prozent der Erwerbstätigen. 65 Prozent arbeiten als Arbeiter*innen oder Angestellte; davon 62 Prozent im Privatsektor und 8,4 Prozent als Haushaltshilfen. Bei den Frauen gehen 34 Prozent aller Migrantinnen einer Beschäftigung als Haushaltshilfe nach, in der Regel im informellen Sektor; das heißt, zu ungünstigsten Arbeitsbedingungen, gegen minimale Bezahlung und unter Umgehung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen. Erhebungen der Migrationsbehörde DEM zufolge sind 70 Prozent der Männer Lohnarbeiter, dagegen haben nur 48 Prozent der erwerbstätigen Frauen einen Arbeitsvertrag.


Misstrauen trotz hohem Bildungsniveau

Nach Ansicht von Manuel Hidalgo, peruanischer Volkswirt und Leiter des Lateinamerikanischen Integrationsverbands APILA (Asociación de Inmigrantes por la Integración Latinoamericana y del Caribe) stellt in Chile das Anerkennungsverfahren ausländischer Bildungsabschlüsse eine besondere bürokratische Hürde dar.

"Besonders schwierig ist es gerade mit Haiti", so Hidalgo gegenüber Noticias Aliadas. "Chile hat überhaupt nur mit zwölf Ländern Anerkennungsabkommen, und Haiti ist nicht darunter. Eine weitere Barriere ist die Einstellungspolitik im öffentlichen Sektor. Um in diesem Bereich tätig zu werden, muss man häufig erst einmal die chilenische Staatsbürgerschaft erwerben. Dazu kommen soziokulturelle Barrieren: Eine ungute Mischung aus Nationalismus und Rassismus erzeugt Misstrauen und soziale und kulturelle Vorurteile seitens der Arbeitgeber*innen, und das wiederum führt dazu, dass die Fertigkeiten und Qualifikationen, das Bildungsniveau und die fachliche Erfahrung der Migrant*innen nicht angemessen gewürdigt werden."


Spezielle Haftanstalten für Migrant*innen

Der Anwalt und Präsident des Komitees geflüchteter Peruaner*innen in Chile, Rodolfo Noriega, kritisierte gegenüber Noticias Aliadas die "im Rahmen des neuen Migrationsgesetzes geplante Einführung eines Geheimregisters mit Namen von Migrant*innen, das dem Innenministerium unterstellt werden soll. Wozu ein Spezialregister? Wenn die Polizeibehörden die einzigen sind, die dazu Zugang haben, dann heißt das doch, dass die Anwesenheit von Migrant*innen prinzipiell als Sicherheitsrisiko betrachtet wird."

Das Erschreckendste sei jedoch, dass es inzwischen spezielle Gewahrsamseinrichtungen gebe: "Wir haben eines in der Calle Seminario in Santiago de Chile entdeckt. Die Polizei musste es vor der Menschenrechtskommission des Senats zugeben. Der landesweite Chef der internationalen Polizei musste zugeben, dass sich dort ein Gewahrsamszentrum für Ausländer*innen befindet."


Angekündigter Gesetzesentwurf liegt bis heute nicht vor

Der neue Gesetzesentwurf zu Migration, den Frau Bachelet in ihrem Regierungsprogramm angekündigt hat und der den Vorschlag ihres Vorgängers Sebastián Piñera [2010-2014] ersetzen soll, liege bis heute nicht vor, kritisiert Hidalgo. Der 2013 vorgelegte Entwurf Piñeras sei auf Ablehnung bei christlichen Verbänden gestoßen, die mit Migrant*innen arbeiten - Servicio Jesuita a Migrantes und Red Scalabriniana -, sowie sämtlicher Organisationen der Migrant*innen-Community, so dass das Projekt bis auf weiteres stagniere.

Hidalgo weiter: "Im Jahr 2014 [zu Beginn der Bachelet-Regierung] initiierte Rodrigo Sandoval, der neue Chef der Migrationsbehörde, einen neuen Konsultationsprozess, in den auch Migrant*innenverbände und Initiativen zum Schutz der Rechte von Migrant*innen mit einbezogen waren und der zum Ziel hatte, einen neuen Gesetzesentwurf zu entwickeln. Ende 2014 hieß es, im ersten Halbjahr 2015 werde der Entwurf vorgelegt. Seither sind zwei Jahre vergangen, und es ist immer noch nichts passiert."

Die Rechte hat derweil begonnen, den fremdenfeindlichen Diskurs in ihren Wahlkampf im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im November einzubauen. Wie die jüngste Umfrage des regierungsunabhängigen Zentrums für Öffentlichkeitsforschung CEP (Centro de Estudios Públicos) vom Mai 2017 ergab, sind die Chilen*innen heutzutage eher bereit, den von Migrant*innen geleisteten wirtschaftlichen und kulturellen Beitrag zur chilenischen Gesellschaft anzuerkennen. Die Ansicht, Migrant*innen sollten gleichen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten bekommen, "gewinnt in der chilenischen Gesellschaft zunehmend an Boden, während der Mythos, die Migrant*innen nähmen den Chilen*innen die Arbeitsplätze weg, mehr und mehr verblasst. Andererseits ist die Zahl derer, die der Meinung sind, Migrant*innen seien schuld an der steigenden Kriminalitätsrate, auf 41 Prozent gestiegen. Hier spiegelt sich der Erfolg der nationalistisch ausgerichteten rechten Propaganda wider, die dieses Thema in ihrem Wahlkampf ausschlachten möchte", so Hidalgo.

Menschenrechte werden nicht respektiert

In der Zeitschrift Revista Sur berichtet die Journalistin Bárbara Barrera über etwa 100 Migrant*innen im Hauptstadtviertel Quilicura, die in der Calle San Luis "auf engstem Raum mit einer Gemeinschaftsküche und zwei Badezimmern zusammengepfercht leben. Für fünf Quadratmeter zahlen sie monatlich 130.000 Pesos [ca. 175 Euro]. Die Haitianerin Guedelin Orzil musste ihr Kind im Krankenhaus San José in einem Rollstuhl zur Welt bringen, weil das Personal ihr die Behandlung verweigerte. Das Baby fiel auf den Boden, und trotzdem wurden keinerlei Untersuchungen vorgenommen. Damit sich die Lebensumstände dieser Menschen verbessern, ist einfach staatliches Eingreifen gefragt."

Wie Rodolfo Noriega berichtet, bestätigt der am 11. Mai erschienene Report "Arbeitsmarkt in Lateinamerika und der Karibik ("Coyuntura Laboral en América Latina y el Caribe"), ein gemeinsamer Bericht der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO (Organización Internacional del Trabajo) das hohe durchschnittliche Bildungsniveau der Migrant*innen: Obwohl die Menschen zum größten Teil im Haushalt und tätig sind oder andere körperliche Arbeit verrichten, haben 79 Prozent mindestens zehn Schuljahre absolviert.


Überqualifiziert und trotzdem benachteiligt

"Es gibt eine ganze Reihe von Hindernissen, die die Beschäftigung von Migrant*innen in ihren erlernten Berufen erschweren", erzählt Noriega. "Zunächst einmal braucht man eine feste Anschrift und einen Identitätsnachweis. Die Anerkennung der Bildungsnachweise und Abschlüsse stellt eine weitere Hürde dar. Damit sind die Leute einerseits überqualifiziert und andererseits benachteiligt durch Illegalisierung und die fehlende Anerkennung ihrer Abschlüsse. Das betrifft alle Migrant*innen, insbesondere Menschen aus Peru, Kolumbien und Bolivien. Bei Leuten aus nicht-spanischsprachigen Ländern, also für Menschen aus Haiti, Nepal, aus den Philippinen und aus afrikanischen Ländern, kommt dann noch die Sprache als ein weiteres Problem dazu."

Das Einwanderungsgesetz oder Gesetz 1.094 folge einem Selektionsprinzip, das bestimmte Migrant*innen aufgrund ihrer Qualifikationen und ihrem Beitrag zu den "nationalen Interessen" bevorzuge, erklärt Noriega. Dieses Prinzip könne man, mit leichten Abwandlungen, sowohl in Piñeras als auch in Bachelets Konzept finden. Beide Entwürfe "folgen dem ökonomischen Ansatz und stellen marktwirtschaftliche Interessen in den Vordergrund. Den rechtlichen Schwerpunkt lassen sie außer Acht, wahrscheinlich absichtlich."

Die große Mehrheit der Migrant*innen übe Tätigkeiten mit einem sehr geringen Stellenwert aus, so Hidalgo: "In der Regel sind es Arbeiten, die die Chilen*innen nicht machen möchten oder bei denen es einen ausgeprägten Mangel an Angeboten gibt, so wie Kindermädchen oder Jobs im Gesundheitssektor. Angesichts der bürokratischen und soziokulturellen Hindernisse ist es sehr schwer für sie, an Jobs zu kommen, die ihren Qualifikationen und beruflichen Erfahrungen entsprechen."

Viele Migrant*innen schicken Geld in ihre Herkunftsländer, obwohl ihre eigene Lebenssituation das kaum zulässt: Sie leben auf engstem Raum, zusammengepfercht und mit unzureichenden sanitären Anlagen. Seit Jahren fordern Migrant*innenverbände die Legalisierung der Einwanderung. Eine Amnestie für alle Illegalisierten hatte die chilenische Regierung bereits 1997 und 2007/2008 beschlossen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2017

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