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INTERNATIONAL/137: Island - Ratgeber hilft, mutmaßliche Opfer von Menschenhandel aufzuspüren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Januar 2013

Island: Die vielen Gesichter des Menschenhandels - Mit Ratgeber mutmaßliche Opfer aufspüren

von Lowana Veal



Reykjavik, 4. Januar (IPS) - Der Chinese Xing Haiou war wegen eines Jobs nach Island gekommen. Nach einem anstrengenden Zwölf-Stunden-Tag in der isländischen Hauptstadt Reykjavik stand ihm eine fensterlose Kammer mit einer Massageliege zur Verfügung, auf der er seine müden Knochen ausstrecken konnte: Abend für Abend 18 Monate lang.

Nach Island hatte es den jungen Mann verschlagen, weil er von Lina Jia, einer entfernten Verwandten, angefordert worden war. Doch bald musste er erkennen, dass seine Arbeitgeberin es mit der Bezahlung nicht so genau nahm. Zwischen Juni 2002 und Dezember 2003 wurde er nicht entlohnt. Nur die Eltern daheim erhielten eine kleine Aufwandsentschädigung für ihre Bereitschaft, den Sohn zu 'verleihen'.

Schließlich hatte Xing Haiou die Nase voll und zog vor Gericht. Inzwischen hat er sein sauer verdientes Geld rückwirkend erhalten: den isländischen Mindestlohn für 18 Monate. Auch seine Überstunden wurden bezahlt, obwohl er als Opfer von Menschenhandel und Zwangsarbeit nicht offiziell anerkannt war.

Nun will die isländische Regierung mit einem Ratgeber Polizei und Öffentlichkeit für Menschenhandel und Zwangsarbeit sensibilisieren. Wie aus gut informierten Kreisen zu hören ist, soll dies im Grunde durch die Beantwortung von drei Fragen geschehen: Was wird der potenziell betroffenen Person angetan? Welche Methoden kommen dabei zur Anwendung und welcher Zweck steckt dahinter?


Mit falschen Vorstellungen aufräumen

Die Anleitung zum Aufspüren mutmaßlicher Opfer von Menschenhandel fußt weitgehend auf einem entsprechenden norwegischen Ratgeber. Sie soll auf drei weit verbreitete Fehleinschätzungen hinweisen: Dass Menschenhandel und Zwangsarbeit nicht vorliegen, solange die mutmaßlichen Opfer keinen Fluchtversuch unternehmen, sich ihre Lebensbedingungen verbessert und sie keine nationalstaatliche Grenze überschritten haben.

"Sich auf eine Definition des Begriffs 'Menschenhandel' zu beschränken, bedeutet einen Teil der Opfer auszublenden", meint Margret Steinarsdottir vom Isländischen Menschenrechtszentrum (ICEHR). "Grundsätzlich lässt sich sagen, dass ein Fall von Menschenhandel vorliegt, wenn diejenigen, die sich in einer schwachen Position befinden, ausgebeutet werden. Selbst dann, wenn die Menschen aus freien Stücken nach Island gekommen sind und sich von vornherein der Gefahr der Ausbeutung bewusst waren, müssen sie möglicherweise als Opfer von Menschenhandel betrachtet werden."

Die Anwältin Steinarsdottir hat mit einer Vielzahl von Menschen gesprochen, die in dieses Raster passen. Wie sie betont, sind nicht alle Opfer weiblich und als Prostituierte beschäftigt. In Island seien Zwangsarbeiter in der Baubranche und der Landwirtschaft anzutreffen, als Au Pairs in Privathaushalten oder als Aushilfen in Restaurants. Die meisten seien Osteuropäer, die täglich bis zu 16 Stunden arbeiten müssten.

Ein weiterer Irrglauben ist offenbar, dass der Menschenhandel ausschließlich von kriminellen Banden betrieben wird. In vielen Fällen werden die Betroffenen einfach nur mit falschen Versprechen angelockt. Der Chinesin Sun Fulan hatte man einen Acht-Stunden-Tag in einem Privathaushalt in Aussicht gestellt. Von leichter Hausarbeit war die Rede gewesen und von arbeitsfreien Sonntagen. Tatsächlich musste sie dann 14 bis 15 Stunden lang als Haushaltshilfe, Zeitungsausträgerin und Mitarbeiterin eines Massagesalons arbeiten sowie bei der Renovierung von drei Häusern im Besitz von Lina Jia mithelfen - der gleichen Frau, die schon Xing Haiou ausgebeutet hatte.

Trotz der langen Arbeitszeit erhielt sie nur einen Bruchteil des ursprünglich zugesagten Lohns. Im Februar entschloss sie sich dann dazu, die isländischen und chinesischen Behörden einzuschalten.


Eindeutige Indizien

Steinarsdottir hat mit Migrantinnen gesprochen, die in Island geheiratet haben und von ihren Männern in die Prostitution gezwungen wurden. Den Frauen werde das verdiente Geld weggenommen und damit gedroht, sie in die Heimat zurückzuschicken, sollten sie es wagen, sich zu beschweren.

Auch Steinunn Gydu-og Gudjonsdottir, die das kürzlich eingerichtete Frauenschutzhaus 'Kristinarhus' führt, hatte mit einer Zwangsprostituierten zu tun. "Alle Symptome für Menschenhandel waren vorhanden: Sie hatte keinen Pass, durfte kein Geld behalten und wurde bedroht."

Auf die Frage, wie die Behörden in solchen Fällen vorgehen, meint Asgeir Karlsson vom Nationalen Polizeikommissariat, dass man diese mutmaßlichen Opfer in der Regel zu den Gewerkschaften oder aber zu der für sie zuständigen Polizeiwache schicke.

Steinarsdottir ist nach eigenen Angaben im Neuen Jahr noch kein Fall von Zwangsarbeit untergekommen. "Möglicherweise sind die Fälle seit dem Bankenkrach 2008 rückläufig", meint sie. "Ebenso gut kann es sein, dass die Betroffenen aus Angst, keinen neuen Job zu finden, nicht aufmucken." (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

https://www.politi.no/vedlegg/rapport/Vedlegg_41.pdf
http://www.humanrights.is/english/
http://conventions.coe.int/Treaty/EN/Treaties/Html/197.htm
http://www.ipsnews.net/2012/12/iceland-tackles-invisible-trafficking/

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IPS-Tagesdienst vom 4. Januar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2013