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INTERNATIONAL/098: Sri Lanka - Tausende Vermisste seit Bürgerkriegsende gesucht, auch viele Kinder (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. Juli 2012

Sri Lanka: Tausende Vermisste seit Bürgerkriegsende gesucht - Auch zahlreiche Kinder

von Amantha Perera


rauen in Allankum, wo im Bürgerkrieg viele Menschen verschwanden - Bild: © Amantha Perera/IPS

Frauen in Allankum, wo im Bürgerkrieg viele Menschen verschwanden
Bild: © Amantha Perera/IPS

Colombo, 19. Juli (IPS) - Als der blutige Bürgerkrieg in Sri Lanka Anfang 2009 seinen Höhepunkt erreichte, stand eine Tamilen-Familie vor der schweren Entscheidung, ob sie eine geistig behinderte Verwandte auf ihrer Flucht zurücklassen sollte. Die ältere Frau war von Geburt an krank und brauchte ständige Pflege.

Thangamathi wurde schließlich von ihrem Bruder in ein Heim für geistig Behinderte gebracht. Er hoffte, dass sie dort bis zu seiner Rückkehr betreut würde. "Es war eine harte Entscheidung, doch niemand von uns war stark genug, sich um sie zu kümmern. Wir wussten selbst kaum, wie wir am Leben bleiben sollten", erzählt er.

Der Bruder und seine Frau überlebten die letzte Phase der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und der tamilischen Befreiungstiger LTTE. Unterschiedlichen Quellen zufolge wurden in dem Krieg zwischen 7.000 und 40.000 Menschen getötet.

Schon lange bevor das Paar Anfang 2010 aus einem staatlichen Auffanglager in sein Dorf Tharmapuram in dem nördlichen Distrikt Kilinochchi zurückkehrte, hielt es Ausschau nach der Schwester des Mannes. Doch seit drei Jahren haben sie keine Spur zu Thangamathi gefunden.

Ein Bekannter sagte ihnen, dass die behinderte Frau mitten unter rund 280.000 Flüchtlingen gesehen worden sei, die dem letzten Gefecht im April 2009 entkamen. Doch auch dieser Hinweis lief wieder ins Leere. "Wir suchen weiter, aber wir wissen, dass es vorbei ist", sagt der Bruder. Für die Einwohner von Kilinochchi, einer einstigen Hochburg der Rebellen, ist Thangamathis Geschichte nichts Ungewöhnliches.


Suche in ehemaligen Rebellen-Hochburgen

In dem ehemaligen Kampfgebiet, in dem sich die schlimmsten Kriegsgräuel ereigneten, suchen noch immer tausende Menschen nach Verwandten. Santhirakumar der aus dem an Kilinochchi angrenzenden Distrikt Mullaitivu stammt, vermisst drei Angehörige. Über das Schicksal des Ehemanns seiner Cousine und zwei seiner Neffen hat er bisher nichts erfahren.

Er hörte nur, dass mindestens einer der Verwandten am 17. Mai 2009, zwei Tage vor der Siegeserklärung der Regierung, gesehen wurde. Die schier endlose Suche geht für Santhirakumar weiter, und er sieht kaum mehr als einen kleinen Hoffnungsschimmer.

"Wir sind in jedem Gefängnis und in Lagern in Colombo, Boossa im Süden sowie an anderen Orten gewesen. Doch in drei Jahren konnten wir sie nirgendwo finden. Dennoch haben wir nicht aufgegeben, sondern setzen die Suche fort", sagt Santhirakumar. "Auch die Polizei haben wir benachrichtigt. Wir wissen nicht, wo wir sonst hingehen sollen. Die Familie meines Schwagers und andere Verwandte brauchen uns, um zu überleben."

Das Amt für Statistik hat in der nördlichen Provinz zwischen Juni und August vergangenen Jahres zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder eine Volkszählung durchgeführt. Dabei kam heraus, dass zwischen Januar und Mai 2009 2.635 Menschen als 'unauffindbar' gemeldet wurden. Menschenrechtsorganisationen gehen jedoch davon aus, dass die Zahl erheblich höher liegt.

In Vavuniya, dem südlichsten Zipfel des ehemaligen Kriegsgebiets, suchen Regierungsbeamte und das Weltkinderhilfswerk UNICEF seit 2010 gemeinsam nach vermissten Minderjährigen. Piencia Charles, die höchste Regierungverantwortliche für diesen Distrikt, erklärte, sie habe sich für die Einrichtung eingesetzt, nachdem sie täglich mit verzweifelten Frauen zu tun gehabt habe, die alle nach Verwandten gesucht hätten.

Nachdem zunächst nur nach Kindern gesucht werden sollte, wurden auch immer mehr Fälle vermisster Erwachsener bekannt, die an andere Organisationen übertragen wurden. In einer Rede vor Diplomaten sagte kürzlich der srilankische Verteidigungsminister Gotabaya Rajapaksa, dass in der Suchbehörde bis Juli 2011 mehr als 2.500 Anträge eingegangen seien. 1.888 hätten sich auf vermisste Erwachsene und 676 auf Kinder bezogen. 64 Prozent dieser Kinder sind nach Angaben der Eltern von Tamilen-Rebellen rekrutiert worden.


40 Kinder wieder zu Familien zurückgebracht

UNICEF-Vertreter in Colombo erklärten, dass zurzeit 747 Fälle vermisster Kinder untersucht würden. Bislang wurden demnach 40 Minderjährige bereits wieder zu ihren Familien zurückgebracht, während 30 in Kürze mit ihren Verwandten zusammengeführt werden sollten. 70 weitere Fälle würden noch bearbeitet.

Zu den tausenden Vermissten werden jedoch nicht nur diejenigen gezählt, die in der Endphase des Kriegs vor den Kämpfen geflohen sind. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) geht bei den Nachforschungen 20 Jahre zurück. In jener Zeit tobten in dem Land zwei Konflikte mit Rebellen: Im Norden waren die Tamilen aktiv, im Süden junge kommunistische Singalesen.

"Dem IKRK-Jahresbericht 2011 zufolge ging das Rote Kreuz in Sri Lanka Ende Dezember des Jahres 15.780 Fällen nach. Dies entspricht der Zahl der Fälle, die dem IKRK seit 1990 gemeldet wurden", sagte die IKRK-Sprecherin Sarasi Wijerathne. Im Laufe des vergangenen Jahres wurden 1.382 neue Fälle aufgenommen, darunter 369, die sich auf Minderjährige bezogen. Insgesamt konnte das Rote Kreuz bisher erst 136 Vermisste ausfindig machen. (Ende/IPS/ck/jt/2012)


Links:

http://www.unicef.org/
http://www.icrc.org/eng/where-we-work/asia-pacific/sri-lanka/index.jsp
http://www.ipsnews.net/2012/07/a-grim-search-for-the-missing/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2012