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INTERNATIONAL/049: Venezuela - Extreme Armut rückläufig, Gewalt nimmt rasant zu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Oktober 2011

Venezuela: Extreme Armut rückläufig - Gewalt nimmt rasant zu

von Humberto Márquez


Caracas, 13. Oktober (IPS) - In Venezuela ist es gelungen, die Zahl der Ärmsten im Lande im letzten Jahrzehnt um zwei Drittel zu senken. Doch im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Menschen, die einem tödlichen Gewaltverbrechen zum Opfer fielen, in dem südamerikanischen Land verdreifacht. Konfliktforscher erwarten nun noch eine Zunahme der politischen Gewalt im Vorfeld der Wahlen 2012.

Die Kriminalitätsrate in dem rund 28 Millionen Einwohner zählenden Land ist schon jetzt sehr hoch. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen werden jedes Jahr zwischen 17.000 und 19.000 Morde begangen. Dutzende von Kugeln durchlöcherte Leichen werden an den Wochenenden in die Pathologie gebracht, wie politische Beobachter berichten. Millionen Schusswaffen sind illegal im Umlauf.

Hinter jedem Todesfall verbirgt sich ein Einzelschicksal. Ein Baby starb in den Armen seiner Mutter, die bei einer Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Banden in die Schusslinie geriet. Bei einer Abrechnung im kriminellen Milieu wurden 40 Schüsse auf einen Jugendlichen abgefeuert. Acht Männer attackierten mit großen Waffen 150 Schüler auf dem Weg zum Camping. Und ein Schneider wurde von einem Kunden niedergestochen, der sich über eine schlecht gearbeitete Hose empörte.


Große Zahl von Waffen im Umlauf

Wie Silke Pfeiffer vom renommierten Konfliktforschungsinstitut 'International Crisis Group' (ICG) betonte, war politisch motivierte Gewalt bisher ein eher kleines Problem. Angesichts der starken Polarisierung im Land, der großen Zahl von Waffen und der Aushöhlung der institutionellen Mechanismen zur Konfliktlösung steigen ihrer Ansicht nach jedoch gerade die Risiken für eine Eskalation der Gewalt bei den Wahlen.

Das Oppositionsbündnis 'Mesa de Unidad Democrática' (MUD) hat bereits angekündigt, die unsichere Situation in den Städten zum Wahlkampfthema zu machen. Mehrere Umfragen ergaben, dass die öffentliche Sicherheit die größte Sorge der Venezolaner in allen Gesellschaftsschichten ist.

"Seit Hugo Chávez vor zwölf Jahren an die Regierung kam, hat die Kriminalität so stark zugenommen, dass wir inzwischen zu den Ländern mit den weltweit höchsten Gewaltraten gehören", sagte Luis Izquiel, der bei MUD für Sicherheitsfragen zuständig ist. Die Zustände seien inzwischen schlimmer als im Bürgerkriegsland Kolumbien und in Mexiko, wo die Regierung militärisch gegen das organisierte Verbrechen vorgeht. Die Bilanz sind mehr als 40.000 Tote.

Nach Angaben des venezolanischen Statistikamts liegt die Mordrate in Venezuela bei 48 pro 100.000 Einwohner. In Kolumbien, das ebenfalls zu den gefährlichsten Ländern der Region zählt, kommen nach Polizeiangaben 33 Mordopfer auf 100.000 Menschen.

Die unabhängige Venezolanische Beobachtungsstelle für Gewalt verzeichnete zwischen 2007 und 2010 etwa 44.000 Tötungsdelikte. Besonders gefährlich ist das Leben in der Hauptstadt Caracas, wo auf je 100.000 Einwohner 140 Morde kommen. Im Vergleich dazu beträgt die Rate im kolumbianischen Bogotá 22 und in São Paulo in Brasilien 14 pro 100.000.

In Venezuela gibt es mehr als 100 nationale, regionale und lokale Polizeieinheiten. In diesem Jahr nahm zudem die neue Nationale Bolivarische Polizei (PNB) ihre Arbeit auf. Die Gründung war von Justizminister Tarek El Aissami und der Direktorin der staatlichen Experimentellen Universität für Sicherheit, Soraya El Achkar, vorangetrieben worden. Zurzeit sind hunderte dieser Polizisten im Westen von Caracas im Einsatz. Nach und nach soll die PNB landesweit Präsenz zeigen.

"Wir erkennen die Anstrengungen der Regierung an", sagte Pfeiffer. Es werde aber nicht schnell und nicht umfassend genug gehandelt. Izquiel warf dagegen vor allem Chavez vor, nicht den nötigen politischen Willen zur Lösung des Kriminalitätsproblems zu zeigen. In den staatlichen Rundfunksendern werde das Thema so gut wie nie angeschnitten.


Bewaffnete Gruppen von Regierung toleriert

Aus einem ICG-Bericht geht hervor, dass es außer den städtischen Verbrecherbanden auch bewaffnete Organisationen gibt, die einerseits gewöhnliche Verbrechen begehen und zugleich Präsident Chávez politisch unterstützten. Sie könnten daher auf eine gewisse Toleranz seitens der Regierung zählen.

Der Report verweist auf Guerillagruppen aus dem benachbarten Kolumbien, die nach Venezuela vordringen, und auf die Bolivarischen Befreiungstruppen, die an der Grenze zu Kolumbien operieren. Hinzu kommen die so genannten 'urbanen Kollektive', die vor allem in dem Armenviertel '23 de Enero' in Caracas anzutreffen sind. Diese Jugendbanden sind schwer bewaffnet, schließen sich der linken Rhetorik der Regierung an und üben Kontrolle über bestimmte Gebiete im Westen der Hauptstadt aus.

ICG wirft der Regierung Defizite im Rechtswesen und bei der Koordinierung der Polizei vor. Die nationalen Sicherheitsbehörden und die Polizei in den von der Opposition regierten venezolanischen Bundesstaaten würden oft nicht zusammenarbeiten, hieß es.

Der UN-Menschenrechtsrat hat im Rahmen seiner Universellen Periodischen Überprüfung der Chávez-Regierung 148 Empfehlungen zur Verbesserung der Menschenrechtslage unterbreitet. 95 hat Caracas akzeptiert, die Annahme von 15 weiteren wird in Erwägung gezogen. 38 Empfehlungen, die die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit und den Schutz der Nichtregierungsorganisationen betreffen, hat Caracas als "respektlos und Einmischung in die inneren Angelegenheiten" des südamerikanischen Landes zurückgewiesen. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.unes.edu.ve/
http://www.unidadvenezuela.org/
http://www.observatoriodeviolencia.org.ve/site/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99187

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 14. Oktober 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2011