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GENDER/017: Pflegen in der Krise - Einsichten aus der Geschlechterperspektive (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011

Pflegen in der Krise - Einsichten aus der Geschlechterperspektive

Von Barbara Stiegler


Das Jahr 2011 wurde von der Regierung zum Jahr der Pflege ausgerufen, aber außer dieser Ankündigung hat sie nichts entschieden, was die Krise im Pflegesystem wenigstens eingrenzen könnte. Ein feministischer Blick auf die Pflegearbeit kann einen Weg aufzeigen.


Die Krise im Pflegesystem wird oft mit dem demografischen Wandel erklärt: In Zukunft würde es immer mehr pflegebedürftige Menschen geben und immer weniger Jüngere, die sie pflegten. Die Kosten würden bei einer immer geringer werdenden Anzahl von Beitragszahlenden ansteigen. Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil der Krisenursache erschließt sich, wenn man die Pflegearbeit selbst betrachtet: die private, die ehrenamtliche, die semiprofessionelle und die professionelle. Erst dieser Blick eröffnet eine tiefer liegende Problematik, die mit der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation, der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und der gesellschaftlichen Bewertung der Pflegearbeit zusammenhängt. Die Analyse von Arbeit hat im feministischen Diskurs eine lange Tradition: die Teilung in bezahlte und unbezahlte Arbeit, ihre Zuordnung zu Männern und Frauen und ihre gesellschaftliche Organisation. In Deutschland gibt es bisher nur ein geringes Wissen über die Strukturen, den Umfang und das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Arbeit. Die Zeitbudgetuntersuchungen erlauben grobe Schätzwerte zum Umfang. Danach wurden im Jahr 2001 (neuere Untersuchungen liegen nicht vor) 96 Mrd. Stunden unbezahlt, aber nur 56 Mrd. bezahlt gearbeitet und 10 Mrd. Stunden für Wegezeiten verbraucht.

Die 96 Milliarden unbezahlter Arbeitsstunden verteilen sich nicht gleich auf Männer und Frauen. So kommen Männer auf durchschnittlich 22,5 bezahlte Stunden in der Woche, Frauen dagegen nur auf zwölf. Männer leisten umgekehrt 19,5 unbezahlte Stunden in der Woche, Frauen dagegen 30.


Pflegearbeit als weitgehend unentdeckter Teil der Care-Arbeit

Der Begriff "Care-Arbeit" umfasst bezahlte und unbezahlte Arbeit, die in der Fürsorge für Abhängige (sei es wegen Alter, Krankheit oder Behinderung) besteht. Während die unbezahlte Care-Arbeit im Bereich Kleinkinderbetreuung seit längerem politisch diskutiert und vor allem im Westen Deutschlands aktuell verstärkt in professionelle Formen überführt wird, wird ein anderer Teil bislang kaum thematisiert: die private Pflegearbeit. Auch hier ist zunächst das Wissen um Umfang und Formen dieser Arbeit sehr gering. Erste Analysen zeigen, dass es sich jährlich um ca. 4,9 Milliarden Stunden handelt, ein Arbeitsvolumen, das in etwa 3,2 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätzen entsprechen würde.

Diese Pflegearbeit für ältere Menschen ist zurzeit zwischen Männern und Frauen höchst ungleich verteilt. Frauen pflegen viel häufiger als Männer, die familiäre Verpflichtung als Partnerin, als Tochter oder Schwiegertochter ist stärker als die der Männer, die eher als Partner pflegen. Frauen arbeiten eher Teilzeit, um Erwerbsarbeit und Pflegearbeit zu vereinbaren und sie geben ihre Erwerbsarbeit zur Pflege eher auf als Männer. Männer pflegen meist erst im Rentenalter, sie betreiben eher ein Pflegemanagement. Frauen begeben sich insgesamt eher in finanzielle Abhängigkeit, wenn sie private Pflegearbeit leisten.

Aufgrund des höheren Lebensalters des Partners und dessen geringerer Lebenserwartung ist für Frauen die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass sie bei Pflegebedürftigkeit alleine leben und nicht auf einen pflegenden Partner zählen können. Insbesondere Frauen, die zunächst private Arbeit für ihre Kinder und dann später die private Pflegearbeit für Angehörige leisten, leben in finanzieller Abhängigkeit von Familienmitgliedern oder vom Staat. Die Erwerbszentriertheit der sozialen Sicherungssysteme führt viele Frauen in der Folge in die Altersarmut. Im Bereich der privaten Pflegearbeit polarisieren und hierarchisieren sich also die Lebenslagen über die Geschlechtszugehörigkeit in traditioneller Weise und Frauen sind dabei die Benachteiligten.

Bei dem professionellen Teil der Pflegearbeit sieht es nicht besser aus: Die meisten Frauen können von ihrer beruflichen Pflegearbeit nicht leben: Die Löhne in den typischen Frauenberufen wie Altenpflege oder Haushaltshilfe sind zu gering. Im Pflegebereich ist selbst die Einführung von Mindestlöhnen schon von erheblichen Widerständen begleitet. Aber auch die Organisation der Arbeit in einer Vielzahl prekärer Arbeitsverhältnisse, von Teilzeit bis zum Minijob, tragen zur mangelnden Existenzsicherung bei. Und oft liegt die Lösung für das ("rund um die Uhr") Pflegeproblem auf den Schultern von schlecht bezahlten Migrantinnen, die wiederum eigene Kinder und Pflegebedürftige in ihren Herkunftsländern nicht versorgen können.

Durch die gegenwärtige Gestaltung des Pflegesystems werden also in doppelter Weise geschlechtsbezogene Ungerechtigkeiten aufrechterhalten: Die private, unbezahlte Arbeit ist überwiegend Sache der Frauen und bringt für sie ein finanzielles Absicherungsproblem, die professionell geleistete Arbeit ist durchgängig unterbezahlt. Die demografischen Veränderungen verschärfen dieses Problem, sie sind nicht dessen Ursache.


GestaItungsansätze

Care-Arbeit und damit auch die Pflegearbeit ist in den europäischen Sozialstaaten sehr unterschiedlich gestaltet. Damit ist klar: Es wird politisch entschieden, wer die Verantwortung für diese Arbeit trägt (Familie oder Staat, Männer oder Frauen), welche Arbeiten bezahlt werden und welche nicht und über die Rechte derer, die diese Arbeit leisten sowie derer, die sie empfangen.

In Deutschland sind die Diskussionen um die notwendigen Veränderungen im Pflegesystem noch rudimentär, eine umfassende Vision und ein politisch getragenes Konzept zur Gestaltung der Pflegearbeit in Zukunft stehen noch aus. Dabei geht es gerade nicht nur um die finanzielle Absicherung des Pflegerisikos. Es fehlt ein konzeptioneller Diskurs über vielfältige Formen der Versorgung durch Angehörige und professionelle Kräfte, ihr Zusammenspiel und ihre jeweiligen Verantwortlichkeiten. Ein genaueres Bild über den heutigen Umfang der Arbeit, die Strukturen sowie über die Lebenslagen derer, die pflegen und derer, die gepflegt werden, würde zeigen, dass in Zukunft erheblich andere Rahmenbedingungen erforderlich sind und dass sich die Formen, in denen heute gepflegt wird, als nicht tragfähig für die Zukunft erweisen werden: Es wird immer weniger Töchter/Ehefrauen geben, die zur Pflege bereit und/oder in der Lage sein werden. Aus der Geschlechterperspektive legt dies den Schluss nahe, die Söhne/Ehemänner in gleicher Weise für diese Aufgabe zu motivieren. Aber auch wenn die Männer die private Pflegearbeit in gleichem Maße übernehmen würden wie die Frauen, wird es für beide in Zukunft viele Umstände geben, unter denen sie diesen Anforderungen gar nicht gerecht werden können (z.B. fehlende Regelungen im Bereich der Erwerbsarbeit). Und weil gute Pflege auch professionelle Pflege ist, ist dieser Bereich in Zukunft weitaus stärker auszubauen, als dies heute angedacht wird: Die Bereitschaft, den Pflegeberuf zu erlernen, muss in gewaltigem Ausmaß zunehmen. Ohne eine Verbesserung der Pflegeberufe im Qualifikationsniveau, in der Bezahlung, in den Arbeitsbedingungen und in der Durchlässigkeit zu anderen und höherwertigen Berufen wird das kaum gelingen. Darüber hinaus braucht es eine Debatte um die Bewertung von Care-Arbeit und ihren gesellschaftlichen Stellenwert. Die enge Bindung an überholte Rollenbilder muss abgelöst, Sorge und Pflege als ein wesentlicher Teil auch des männlichen Lebens gesehen werden.

Die Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist ein erster Schritt, dessen Umsetzung schon lange überfällig ist. Eine auch geschlechtergerechte Lösung wird zu einer Umverteilung und Neuorganisation der bisher privat geleisteten Care-Arbeit für Pflegebedürftige führen. Dabei wird es umso geschlechtergerechter, je weniger private Arbeit zu tun verbleibt und je gerechter die bezahlte und die unbezahlte Arbeit zwischen Männern und Frauen verteilt ist. Dass es dazu einer Veränderung in den Geschlechterbildern bedarf, liegt auf der Hand.


Barbara Stiegler ist bis 1.12.2011 Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der FES.
www.stiegler-barbara.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2011, S. 55-57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2011