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FRAUEN/860: Lateinamerika - Wie Feminist*innen in der Pandemie den öffentlichen Raum zurückerobern (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Lateinamerika
Wie Feminist*innen in der Pandemie den öffentlichen Raum zurückerobern

Von Sara Alvarado



Demonstrationszug in einer Straße mit Wohnhäusern - Bild: © Sara Alvarado

Demonstration zum 8. März in Berlin
Bild: © Sara Alvarado

Die Pandemie hat gezeigt, in welchen Beziehungen wir wirtschaftlich, politisch und kulturell zueinander stehen. Und, dass das Gewicht der Krise auf den Schultern der Frauen lastet.

(Berlin, 5. Juli 2022, npla) - Die gesundheitlichen Risiken der Covid-19-Pandemie haben viele Regierungen dazu veranlasst, Maßnahmen zu ergreifen, die die Verbreitung des Virus verhindern sollen: Abstandsregeln, Lockdowns, das Verbot von großen Menschenansammlungen. In manchen EU-Ländern, beispielsweise in Deutschland, durfte man sich zeitweise nur mit einer weiteren Person an der frischen Luft treffen. In Lateinamerika wurden noch härtere Maßnahmen ergriffen. Hier durften Personen ohne triftigen Grund für mehrere Monate ihre Häuser nicht verlassen.

Viele dieser Maßnahmen waren zwar unbedingt notwendig, dennoch haben sie auch Bürgerrechte verletzt - wie zum Beispiel die Versammlungsfreiheit. Die Einschränkungen dieser öffentlichen Räume verletzen auch das wichtige und notwendige Recht auf demokratische Partizipation. Trotz dieser Einschränkungen hat die Pandemie die Frauen in aller Welt auch dieses Jahr nicht davon abgehalten, beispielsweise am 8. März auf die Straße zu gehen.


Das Recht auf Stadt

Zum Recht auf Stadt gehört das Recht aller Menschen, die Städte und Dörfer, in denen wir leben zu nutzen, zu transformieren, zu regieren und diese Orte auch zu genießen. An diesen Orten treffen Unterschiede und Eigenheiten aufeinander. Es sind Orte, an denen die Gemeinschaft sich widerspiegelt und an denen sich unsere Familien und Freund*innen befinden. Es ist die Möglichkeit, eine Stadt zu schaffen, in der das Recht auf Stadt gelebt werden kann. Dazu gehört auch das Versammlungsrecht, das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, genau diese an die jeweiligen Machtzentren wie Unternehmen, Regierungen und Organisationen heranzutragen.

In diesem Beitrag möchten wir daher einen Blick auf die Beschränkung des öffentlichen Raumes während der Covid-19-Pandemie werfen. Und darauf, wie diese Beschränkungen vor allem Frauen getroffen haben. Gerade die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit am 8. März, einem Datum, das fundamental bedeutend ist für die Kämpfe, Errungenschaften und den Widerstand von Frauen weltweit. Der 8. März hat auch eine symbolische Bedeutung für die feministischen Bewegungen weltweit. Denn genau an diesem Tag kommen wir als Kollektiv zusammen, bündeln wir unsere Kräfte und zeigen, dass wir als Frauen im öffentlichen Raum präsent sind. Wir zeigen, dass wir weiter an unserem Ziel arbeiten, eine gerechtere, demokratischere, egalitärere und feministischere Gesellschaft zu schaffen.


"Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass das Patriarchat nicht funktioniert"

Die feministische Aktivistin Jocelyn López aus Mexiko hat sich mit dem Patriarchat als vertikal organisierte Gesellschaftsordnung beschäftigt, in der bestimmte Personen Macht über andere Personen ausüben. Sie meint: "In diesem System haben viele von uns wie Sklav*innen gelebt. Sklav*innen der kulturellen, historischen und sozialen Bedingungen. Versklavt bis in unsere Psyche hinein. Historisch gesehen sind wir Frauen am meisten betroffen von diesem archaischen Paradigma." Die Pandemie habe deutlich gemacht, dass dieses System nicht funktioniert: "Wir müssen über die Pflege- und Sorgearbeit sprechen. Vor allem Frauen und Mädchen tragen die Verantwortung, die Pflege in Zeiten der Krise aufrecht zu erhalten. Die Gemeinden verfügen nicht über die benötigten Kapazitäten, um diese unentbehrliche Arbeit zu leisten. Viele Frauen arbeiten deshalb Doppelschichten. Seit der Pandemie hat sich die Arbeitsbelastung verdreifacht, da auch die Pflegearbeit zugenommen hat."

López berichtet von einer Oxfam-Studie vom April 2022 über die Pflegearbeit in Lateinamerika und der Karibik. Demnach ließe sich die Schere der Geschlechterungleichheit erst in 135 Jahren schließen - vor der Pandemie wären es nur 99 Jahre gewesen. "Und dies in einer Zeit, in der die allgemeine sozio-ökonomische Situation sich für den Großteil verschlechtert. Ein anderer wichtiger Punkt dabei ist, dass nur ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Lateinamerika für Pflegearbeit eingeplant wird und in Europa nur zwei Prozent - übersetzt ist das gar nichts und zeigt die Prioriätensetzung, wenn es darum geht, Leben zu retten."


Das Leben in den Mittelpunkt stellen

Viele Frauen und Mädchen müssten ihre Autonomie und Träume aufgeben und sich in eine Spirale der Abhängigkeiten begeben, um die anfallende Pflegearbeit zu übernehmen, meint López. Daher fordert sie, das Leben gesellschaftlich in den Mittelpunkt zu rücken: "Wir sind immer noch stark verwurzelt im patriarchalen System. Als Gesellschaft müssen wir das Leben in den Mittelpunkt stellen - unser Leben, das der Natur und des Bodens. Wenn wir das Leben in den Mittelpunkt rücken, verändert sich die ganze Gesellschaft. So können wir sicherstellen, dass die Pflegearbeit gleich auf alle Teile einer Gemeinschaft verteilt ist. Wichtig sind auch die Zusammenarbeit, die Autonomie und die Ethik der Liebe. Genau darauf müssen wir unser Augenmerk legen. Wir müssen uns selbst kritisch betrachten: Welche Verhaltensweisen müssen wir ändern, um frei leben zu können? Uns zu unterstützen und gemeinsam einen Weg zu finden. Zum Glück sind viele von uns aufgewacht, wir organisieren uns, wir fordern, dass die Politik handelt. Wir bauen Netzwerke auf. So kämpfen wir weiter, für das was noch wichtiger ist als unser Leben, unsere Zeit und unsere Macht über uns."

Die Pandemie hat wie ein Brennglas gewirkt und die sozio-ökonomischen Probleme und Ungleichheiten noch verstärkt. Sie hat die Schwäche einiger Gesundheitssysteme ebenso aufgezeigt wie die Macht einiger Länder des globalen Nordens über die Länder des globalen Südens, den Konkurs des Bildungssystems und die soziale Ungleichheit. Das Gewicht der Pflege- und Haushaltsarbeit liegt vorwiegend auf den Schultern der Frauen. Und die Gewalt in der Familie und Misshandlungen haben seit Pandemiebeginn in vielen Ländern zugenommen.


Frauen tragen die Kosten der Krise allein - doch nicht ohne Protest!

Wenn es einen Zeitpunkt gab, an dem wir Frauen auf die Straße gehen sollten, dann war es gerade während dieser Zeit der Einschränkungen. Die Beschränkung des öffentlichen Raumes für Frauen hat zu einer Schwächung des sozialen Gefüges geführt. Es hat den 8. März als Akt der Kollektivbildung und -stärkung eingeschränkt. Die feministische Aktivistin Claudia Rodriguez aus Kolumbien gehört zum feministischen Netzwerk Red Rojo y Violeta, das mit kollektiven Aktionen für eine antikapitalistische, antipatriarchale, antirassistische und antiimperialistische Welt kämpft. Sie erzählt uns mehr über die feministischen Kämpfe in Kolumbien während der Pandemie: "Vor allem für die Mobilisierung der Frauen in Kolumbien hat Covid-19 eine große Rolle gespielt, da durch die Pandemie die Ungleichheit noch verstärkt wurde. Die Gewalt an Frauen hat zugenommen, und die Frauen waren mit den Tätern eingeschlossen. Massenkündigungen betrafen vor allem Frauen und sie übernahmen die Sorgearbeit unter prekären Bedingungen." Außerdem sei es wichtig, anzuerkennen, dass im Jahr 2020 durch die Krise eine neue Bewegung auf die Straße gegangen sei, um gegen die Gewalt und Morde an Frauen zu demonstrieren - und dagegen, dass sie allein die Kosten der Krise tragen.

Rodriguez berichtet von den Mobilisierungen: "Wir gingen auf die Straße, alles Frauen unterschiedlichen Alters, aus unterschiedlichen Kontexten und verschiedenen Organisationen und Regionen. Wir sind im September 2020 auf die Straße gegangen, trotz der Einschränkungen. Denn es ist unser Recht, uns zu versammeln und zu protestieren. Das war eine Vorbereitung für die große Demonstration am 25. November 2020. Unser Ziel war es, in verschiedenen Regionen präsent zu sein." Ihr Ziel sei es gewesen, die Regierung darauf aufmerksam zu machen, wie sehr die Politik in der Krise die Rechte der Frauen eingeschränkt, die in prekären Verhältnissen leben und die Sorgearbeit übernehmen. Und wie sehr auch die politische Organisation darunter leidet.


Hoffnung auf eine inklusive, gendersensible und plurale Gestaltung des öffentlichen Raums

Die Einschränkungen des öffentlichen Raumes haben also weitreichendere Effekte als die gesundheitliche Gefährdung durch Covid-19. Die materiellen Voraussetzungen des Alltags haben die Geschlechterungleichheit noch verstärkt. Die Arbeit, die Hauswirtschaft, die Sorge und Pflegearbeit haben aufgezeigt, wie wir zusammenleben. In welcher Beziehung wir Menschen wirtschaftlich, politisch und kulturell zu einander stehen. Sie zeigen uns, dass wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, in der das Gewicht der Krise auf den Schultern der Frauen lastet - einer Gesellschaft, die großen sozialen Druck ausübt, vor allem auf berufstätige Frauen, die nebenbei noch den Haushalt schmeißen und sich um die Kinder kümmern sollen.

Diese Erkenntnis bietet uns aber auch die Möglichkeit, die Machtstrukturen zwischen Frauen und Männern aufzubrechen und die Überlastung von Frauen im Pflege- und Haushaltsbereich zu erkennen. Sie bietet uns die Möglichkeit, Räume mit Geschlechterperspektive zu schaffen. Das bedeutet, die Last zu verteilen und sichere Räume zu schaffen, in denen das Recht auf Wohnen gewährleistet wird.

Das Recht auf Stadt bedeutet für Frauen, sich einen Ort vorzustellen, an dem sie als Mütter, Töchter, Freundinnen, als Frauen miteinbezogen werden. Es ist das Recht auf eine sichere, freundliche, respektvolle Stadt. Es geht hier bei um soziale Gerechtigkeit. Es ist die Hoffnung auf einen sozialen und kulturellen Paradigmenwechsel. Und auf das Recht auf eine inklusive, gendersensible und plurale Stadtgestaltung.


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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. August 2022

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