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FRAUEN/799: Sündenbockpolitik (Frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 147, 1/19

Sündenbockpolitik
Anmerkungen zur Instrumentalisierung eines feministischen Kampfes

von Claudia Thallmayer


Während dieser Artikel geschrieben wird, ist Österreich vom Mord an fünf Frauen bzw. Mädchen in weniger als drei Wochen schockiert. Die Autonomen Frauenhäuser weisen auf den Anstieg an tödlicher Gewalt gegen Frauen in den letzten Jahren hin; diverse mediale Rufe von "Wo bleibt der Aufschrei?" bis "härtere Strafen" werden laut.


Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) greift dankbar das Hölzel auf und fordert die Abschiebung nicht nur schwer krimineller (das ist bereits geltendes Recht), sondern überhaupt aller in irgendeiner Weise straffällig gewordener (männlicher) Asylwerber bzw. Asylberechtigter. Wer "unsere" Werte nicht akzeptiert, habe nicht verdient, hier zu leben, so sinngemäß die Staatssekretärin im Innenministerium, Karoline Edtstadler (ÖVP), in einem ORF-Interview.

Die Situation verweist auf ein Dilemma, in dem sich Feministinnen wiederfinden. Frauenorganisationen fordern seit Jahren ein "Hinschauen" auf geschlechtsspezifische Gewalt, die sich vorwiegend in Beziehungskonstellationen abspielt, aber mit gesellschaftlichen Machtstrukturen, patriarchalen Normen und Frauen verachtenden Einstellungen zusammenhängt.


"Importierte Gewalt"

Nun haben sich die Rechtspopulist_innen des Themas "Gewalt gegen Frauen" angenommen, und sie zeigen mit dem Finger auf die - tatsächlich überproportional häufig ausländischen - Täter und definieren das Problem als eines der "Anderen". Dass allerdings erst durch die Frauenbewegung die patriarchalen Strukturen aufgebrochen wurden und das alles eine recht junge Geschichte ist, bleibt ausgeblendet. Dabei ist gerade die Frauenhausbewegung eine Erfolgsgeschichte, und die Regierung täte gut daran, auf die Vorschläge der NGO-Expertinnen zu hören.

Diese beinhalten vieles - insbesondere die gesetzliche und finanzielle Absicherung von Opferschutzeinrichtungen, aber nicht die Forderung nach härteren Strafen und mehr Abschiebungen. Doch die Rechten an der Macht nutzen den berechtigten Aufschrei wegen der tödlichen Gewalt gegen Frauen, um sich ein weiteres Mal als Hardliner in Sachen Migrations- und Flüchtlingspolitik zu zeigen.


Grenzregime und Gewalt

Im Diskurs über die öffentliche Sicherheit in Europa bleibt demgegenüber weitgehend ausgeblendet, in welch hohem Ausmaß Frauen auf der Flucht geschlechtsspezifischen Formen von Gewalt ausgesetzt sind. Politiker_innen in Europa, so auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in seiner Funktion als Vorsitzender der EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018, argumentieren, dass eine "Eindämmung der Migration" nur durch konsequentes Abweisen von Migrant_innen möglich sei - von Flüchtlingen wird gleich gar nicht mehr gesprochen. Das bedeutet mehr Abschiebungen, Im-Stich-Lassen von in Seenot Geratenen auf dem Mittelmeer und die militärische Überwachung der Wüste.

Die Schlepperei wird dafür verantwortlich gemacht, dass Menschen unsägliche Gewalt erleben und ums Leben kommen. Doch Schlepperei ist nicht die Ursache von Flucht und Migration, sie ist nur ein Mittel zum Zweck in Anbetracht kaum überwindbarer Grenzen. Es gibt viele Gründe zur Flucht, und in der Regel ist das Gewalt - in Form von Kriegen, Bürgerkriegen, Repression und Willkür.

Auch Frauen fliehen vor Gewalt, zudem auch vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie befinden sich praktisch überall in einer besonders prekären Situation, und die europäische Abschottungspolitik hat für sie dramatische Konsequenzen. Dabei hätten sie laut Istanbul-Konvention des Europarats Anspruch auf Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt.


Fehlende Solidarität

Eine Kursänderung ist nicht absehbar, denn genau dieser Kurs hat diese Regierung ja an die Macht gebracht, und diese gilt es zu erhalten! Daher bleibt auch das fragwürdige Dublin-Abkommen aufrecht, das den südeuropäischen Staaten die Last der Aufnahme von Flüchtlingen aufbürdet, und die Grenzsicherung wird immer weiter vor die tatsächlichen EU-Grenzen verlagert. Zu diesem Zweck wird auch mit zerfallenen Staaten wie Libyen und Diktaturen wie dem Sudan kooperiert und die Durchreise von Flüchtlingen und Migrant_innen illegalisiert.

Zwar wurde aus den propagierten "Anlandeplattformen" in Nordafrika nichts, weil die Folter und sexuelle Gewalt in libyschen Lagern durch die Medien gingen und andere Staaten wie Ägypten keine Flüchtlingslager im Auftrag der EU einrichten wollten. Seither ist auch vom "Resettlement" besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge nach Europa nicht mehr die Rede. Das wäre eine wichtige Maßnahme, aber war das je ernst gemeint?


Frauenhandel

Im Rahmen eines zweijährigen Erasmus-Projekts haben sich fünf Mitgliedsorganisationen des europäischen WIDE+-Netzwerks mit den Folgen des restriktiven europäischen Grenzregimes auseinandergesetzt. Frauen auf der Flucht und in der Migration erleben in verschiedensten Situationen Formen von Gewalt. Eine davon ist mit dem Phänomen des Frauenhandels als Form der Migration und Ausbeutung von Frauen verbunden, was von Kolleginnen aus Spanien in dem Projekt thematisiert wurde.

Sie setzen sich dafür ein, dass Behörden Opfer von Frauenhandel besser erkennen, ihnen Unterstützung anbieten und sie davor bewahren, über mafiöse Netzwerke weiter gehandelt und in der Prostitution ausgebeutet zu werden. Vom "Trafficking" (Frauenhandel) über die spanische Südgrenze nach Europa sind vor allem Frauen aus Westafrika betroffen. Viele von ihnen sind schwanger, wenn sie in Spanien ankommen, was auf das hohe Ausmaß an sexueller Gewalt im Zuge von Flucht und Migration hinweist.


Kampf gegen Genitalverstümmelung (FGM)

Die österreichische Außenministerin Karin Kneissl (parteilos, von FPÖ nominiert) hat sich im letzten Jahr einer anderen Form geschlechtsspezifischer Gewalt angenommen: FGM. Es ist sehr begrüßenswert, wenn Mittel zur Aufklärung und Unterstützung von Betroffenen in Österreich sowie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden. In den letzten Jahren sind vermehrt Frauen, die selbst von FGM betroffen sind, als Flüchtlinge nach Österreich gekommen; daher ist das Phänomen präsenter geworden.

Doch während international - vor allem in Ostafrika - beträchtliche Erfolge im Kampf gegen diese extrem frauenfeindliche Praxis zu verzeichnen sind, wäre es doch überraschend, wenn FGM plötzlich in Österreich Fuß fassen sollte, wie das die Rede vom Ansteigen von FGM in Österreich suggeriert. Es gilt daher, genau hinzuschauen.

Aufklärungsarbeit ist unbedingt nötig, und die Einbindung der betreffenden Communities ist dabei essenziell - das zeigte im Rahmen des Erasmus+-Austauschs etwa die Arbeit der belgischen Migrantinnen-Initiative GAMS gegen FGM. Aber ein Skandalisieren bedient im hiesigen Kontext auch die Populismus-Schiene und kann zur Stigmatisierung Betroffener beitragen. Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter; sie ist immer grauenhaft und in jeder Form inakzeptabel. Frauenorganisationen treten entschieden dagegen auf, und es muss möglich sein, über Gewalt und notwendige Maßnahmen zu sprechen, ohne dass daraus eine Sündenbockpolitik resultiert.


WEBTIPP:
WIDE (Hg.) (2018): The Europe we want? Feminist approaches to gender, migration, and democracy,
www.wide-netzwerk.at/index.php/publikationen/366-wide-publikation-the-europe-we-want

ZUR AUTORIN:
Claudia Thallmayer ist (Ko-)Koordinatorin von WIDE, dem entwicklungspolitischen Netzwerk für Frauenrechte und feministische Perspektiven in Wien.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 147, 1/2019, S. 28-29
Text: © 2019 by Frauensolidarität / Claudia Thallmayer
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2019

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