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FRAUEN/587: Indien - Prügelnde Männer am Dorfpranger, mit lokalen Lösungen gegen häusliche Gewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Juni 2015

Indien: Prügelnde Männer am Dorfpranger - Mit lokalen Lösungen gegen häusliche Gewalt

von Stella Paul



Bild: © Stella Paul/IPS

Mitglieder der Frauenrechtsorganisation NMS im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh
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BETUL, INDIEN (IPS) - Mamta Bai erinnert sich noch gut an das erste Mal, als die Polizei in ihrem Dorf erschien. Die 36-Jährige hatte einen Notruf abgesetzt, als ihre Nachbarin Purva Bai von ihrem Mann bis zur Besinnungslosigkeit verprügelt wurde.

Kaum waren die Polizisten zur Stelle, zerrten sie den Schläger aus dem Haus und fragten die Dorfbewohnerinnen, ob sie seine Festnahme wünschten. "Ja", lautete ihre einstimmige Antwort. Doch zunächst wurde der Gewalttäter an einen Pfahl gebunden. "Wir wollten, dass alle sehen, was mit denjenigen geschieht, die ihre Frauen misshandeln", berichtet Bai, eine 'Kanooni Sakhi' (Hindi für 'zuverlässige Freundin')

Bai ist Mitglied der Frauenorganisation 'Narmada Mahila Sangh' (NMS), die in 213 Dörfern in Madhya Pradesh Opfern häuslicher Gewalt hilft, zu ihrem Recht zu kommen. Die Frauen wissen um die Korruption, bürokratischen Hürden und tiefverwurzelten patriarchalischen Strukturen innerhalb des Rechtssystems, von denen gewalttätige Männer profitieren.

Deshalb suchen die 'zuverlässigen Freundinnen' nach eigenen Problemlösungen. Im Fall der im Dezember letzten Jahres verprügelten Purva Bai wollten sie verhindern, dass ihr Mann nach ein paar Tagen Gefängnis nach Hause zurückkehrte, um dann erneut auf seine Frau loszugehen. Er musste der Polizei schriftlich zusichern, nie wieder die Hand gegen seine Frau zu erheben.


Eine Front aus 42 Frauen

"Wir wollten ihm eine Lektion erteilen. Die Festnahme und die Demütigung, für alle sichtbar an einen Schandpfahl gebunden zu werden, haben ihm Angst gemacht", sagt Santri Bai, ebenfalls Mitglied von NMS. "Jetzt weiß er, dass 42 Frauen bereit stehen, ihn ins Gefängnis zu bringen, sollte er jemals wieder seine Frau angreifen."

Die Organisation ist in den Distrikten Betul und Hoshangabad in Madhya Pradesh tätig, einem Bundesstaat mit einem außergewöhnlich hohen Anteil an geschlechtsspezifischer Gewalt. Dort machen 62 Prozent der Frauen Gewalterfahrungen. In ganz Indien sind es 52 Prozent.

Zu den Vergehen gehören sexuelle Belästigung, Vergewaltigung in der Ehe und Misshandlungen. Außerdem fallen viele Frauen Mitgiftmorden zum Opfer. Andere, die der Hexerei beschuldigt werden, werden misshandelt und/oder verbrannt. Im Zeitraum 2013 bis 2014 wurden in dem Bundesstaat 10.000 Fälle von Gewalt gegen Frauen aktenkundig, 4.000 davon im Distrikt Betul.

NMS war nicht mit dem vorrangigen Ziel gegründet worden, gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen. Im Jahr 2002 schlossen sich mehrere Selbsthilfegruppen zusammen, um Frauen in der Region mit Hilfe von Krediten zu größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu verhelfen.

Laut der Planungskommission Indiens ist die Armutsrate in Madhya Pradesh mit 35 Prozent im nationalen Vergleich extrem hoch. Etwa 30 Millionen Einwohner des Bundesstaates müssen mit weniger als 1,25 US-Dollar täglich auskommen.


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Phulkali Bai wurde von ihrer Familie misshandelt, weil sie sich der Organisation NMS angeschlossen hatte, doch sie wusste sich zu wehren
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Als die Frauen sich gegenseitig besuchten und Treffen organisierten, um über Möglichkeiten der Armutsbekämpfung und Bildungschancen zu diskutieren, bekamen sie den Widerstand ihrer Männer und ihrer Dorfgemeinschaften zu spüren. "Die Männer erzürnte vor allem, dass die Frauen die traditionellen Autoritätsverhältnisse in Frage stellten. Zur Strafe teilten sie Prügel aus", berichtet Asha Ayulkar aus dem Dorf Chiklar.

2012 verzeichnete NMS bereits mehr als 9.000 Mitglieder. Die Organisation begann mit einem Feldzug gegen die patriarchalischen Gesellschaftsmuster, die sie als grundlegendes Hindernis für die wirtschaftliche Gleichstellung der Frau betrachtet.


Rechtsberatung und Ausbildungsmöglichkeiten

NMS bot den Mitgliedern Ausbildungsmöglichkeiten an - ein großer Schritt in einem Bundesstaat wie Madhya Pradesh, in dem etwa 40 Prozent der Frauen Analphabetinnen sind und viele Mädchen die Schule abbrechen, bevor sie einen höheren Abschluss erwerben können.

Mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen werden zurzeit 30 NMS-Mitglieder zu Rechtsassistentinnen fortgebildet. Sie werden später Frauen in anderen Dörfern über ihre Rechte aufklären und sie auf Besuche bei der Polizei vorbereiten. Auch wenn die Initiative nur ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein bedeutet, hat sie unter Beweis gestellt, dass sie oftmals mehr bewegen kann als das zentralisierte indische Justizsystem.

Sexuelle und physische Gewalt gegen Frauen wird laut einer kürzlich veröffentlichten Studie des 'American Journal of Epidemiology' zumeist verschwiegen. Lediglich zwei Prozent der Opfer bringen die Misshandlungen offiziell zur Anzeige. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Täter in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Etwa 70 Prozent werden nach Angaben der Behörde für Kriminalstatistik wieder auf freien Fuß gesetzt. Diejenigen, die verurteilt werden, können die Gefängnisse nach wenigen Jahren und oftmals sogar schon nach einigen Tagen verlassen. NMS-Aktivistinnen fanden heraus, dass viele Täter ihre Freiheit durch die Zahlung von Bestechungsgeldern erlangten. In vielen Fällen weigern sich die Behörden, überhaupt Anzeigen aufzunehmen. Manche Frauen bringen mehrere Tage auf den Polizeiwachen zu, bevor sie sich Gehör verschaffen können.

Rechtsanwälte aus der indischen Hauptstadt Neu-Delhi und aus Bhopal, der Hauptstadt von Madhya Pradesh, beteiligen sich an der Fortbildung der Frauenrechtlerinnen. "Die Frauen protokollieren jeden einzelnen Fall", sagt Angana Gupta von der in Mumbai ansässigen Firma 'L&T Finances'. Sich mit den Gesetzen vertraut zu machen, ist der erste Schritt. Weit schwieriger ist es, die sozialen Gegebenheiten in den ländlichen Gebieten zu verändern.

Ramvati Bai, eine Indigene aus dem Dorf Bakud, wurde nach dem Tod ihres Mannes drei Jahre lang von ihrem Schwiegervater sexuell belästigt und attackiert. Als sie endlich den Mut fand, zur Polizei zu gehen, wurde sie auf der Wache nicht ernst genommen. Mit der Bemerkung, es handele sich um eine "Familienangelegenheit", wurde sie wieder nach Hause geschickt. Erst nachdem NMS-Mitglieder ihr zur Hilfe kamen, wurde der Täter festgenommen. Allerdings musste Bai das Haus der Familie verlassen.

Phulkali Bai aus dem Dorf Borgaon wurde ebenfalls von den Verwandten vor die Tür gesetzt. Auch sie hatte sich gerichtlich gegen die Schläge ihrer Schwiegereltern gewehrt, die der NMS-Beitritt der Schwiegertochter erboste. NMS stand beiden Frauen zur Seite, half ihnen bei der Arbeitssuche und beim Bau neuer Wohnstätten. "Wir wollen ein Leben in Würde führen, ohne Gewalt", sagt Ramvati Bai. "Es gibt nichts, was wichtiger wäre." (Ende/IPS/ck/15.06.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/06/legal-friends-fight-gender-violence-in-rural-india/

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IPS-Tagesdienst vom 15. Juni 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2015

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