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FRAUEN/505: Pakistan - Ein Leben lang entstellt, Säureanschläge auf Frauen nehmen zu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Juli 2013

Pakistan: Ein Leben lang entstellt - Säureanschläge auf Frauen nehmen zu

von Ashfaq Yusufzai


Bild: Ashfaq Yusufzai/IPS

Überlebende eines Säureattentats
Bild: Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, 3. Juli (IPS) - Frauen in Pakistan wissen, was Horror ist. In dem 176 Millionen Einwohner zählenden Land haben 90 Prozent von ihnen häusliche Gewalt erfahren, und jedes Jahr fallen mehr als 1.000 Pakistanerinnen so genannten 'Ehrenmorden' zum Opfer. Für Frauen und Mädchen, so die 'Thomson Reuters Stiftung' vor zwei Jahren, ist Pakistan der gefährlichste Ort der Welt.

Zu den grausamsten Übergriffen gehören Säureanschläge. Sie werden vor allem in den ländlichen Gebieten der Nordprovinzen Pakistans begangen. Der Täter benötigt nicht mehr als ein Fläschchen mit Salzsäure, die er in wenigen Sekunden auf Gesicht und Körper des Opfers spritzt. Die Frauen werden dadurch für ihr Leben gezeichnet.

Brennende Schmerzen, langwierige und teure Behandlungen, die dauerhafte Entstellung und soziale Ausgrenzung sind die offensichtlichsten Folgen. Verborgen bleiben meist die seelischen Qualen der Überlebenden. Sie leiden unter schweren Traumata und großer Einsamkeit.

Erst kürzlich wurde die 18-jährige Schauspielerin Shazia Begum aus dem Distrikt Nowshera in der nördlichen Provinz Khyber Pakhtunkhwa durch Säure schwer verätzt. Sie hatte einen Heiratsantrag des Filmproduzenten Shaukat Khan abgelegt, wie ihre Mutter Shamim Begum berichtete. Am folgenden Tag drang Khan in das Haus der Familie ein und goss der Schlafenden Säure ins Gesicht.

Shazia wurde sofort in das Lady-Reading-Krankenhaus in Peshawar gebracht. Wie viele andere Säureopfer war sie stark dehydriert und musste an den Tropf. Den behandelten Ärzten zufolge wird sie bis zur vollständigen Verheilung ihrer Wunden unter Anämie leiden. Nach zwei Tagen intensiver medizinischer Versorgung konnte Shazia mit Schmerzmitteln und Vitaminen nach Hause geschickt werden. Sie wird noch eine ganze Weile ärztliche Hilfe brauchen.

"In diesem Jahr wurden bereits an die zwölf Verbrennungsfälle in unsere Klinik eingeliefert", berichtet der Arzt Abuzar Khan, der auf die Behandlung solcher Verletzungen spezialisiert ist. "Bei acht der Verletzten waren 50 Prozent des Körpers verätzt."


Geringe Überlebenschance

Von den 27 Säureopfern, die im vergangenen Jahr in dem Krankenhaus behandelt wurden, haben nur vier überlebt. Die meisten starben an einer Sepsis, die durch schwere Infektionen ausgelöst wird. Die wenigen Menschen, die mit dem Leben davonkommen, leiden an zahlreichen Beschwerden. Die Säure zerstört die Knorpel in Nase und Ohren. Viele Opfer werden taub und verlieren den Geruchssinn. Wenn sich die Lippen auflösen, sind die Verletzten kaum noch in der Lage zu sprechen oder zu essen. Sind die Augenlider weggeätzt, kommt es zur Erblindung. Und ohne die schützenden Haut- und Fettschichten treten die Knochen offen zutage.

Nach solchen Angriffen müssen die Frauen nicht nur mit extremen, wenn nicht gar unerträglichen Schmerzen leben. Sie haben keine Chance mehr, ein normales Leben zu führen, geschweige denn einen passenden Partner zu finden und Kinder zu kriegen. Manche von ihnen sind so stark entstellt, dass sie die Öffentlichkeit vollständig meiden. Andere werden von ihren Familien aus Scham versteckt.


"Lieber wäre ich tot"

Auch die 22-jährige Razia Begum aus Khyber Pakhtunkhwa wurde zum Säureopfer. Sie hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen, um einen anderen zu heiraten. Ihr Ex-Mann verfolgte sie zu der neuen Wohnung und schüttete ihr Säure ins Gesicht. Muskeln, Sehnen und Gewebe sind seitdem geschrumpft. "Niemand will mein Gesicht sehen. Es ruft Ekel hervor", sagt sie. "Lieber wäre ich tot, als so zu leben wie jetzt."

Nur wenige Überlebende können sich die chirurgischen Eingriffe leisten, durch die sie halbwegs wiederhergestellt werden könnten. Die Operationen sind auch deshalb so teuer, weil es in der Region nur wenige Spezialisten gibt. Wie Abuzar Khan berichtet, kommen auf 2,5 Millionen Menschen lediglich 20 Ärzte, die in plastischer Chirurgie ausgebildet sind. Ein grundlegender Eingriff an einem kleinen Teil des Gesichts kostet bereits umgerechnet 500 US-Dollar. Und die Gefahr von Folgeinfektionen ist groß.

Die meisten Männer, die Säureverätzungen erleiden, verletzen sich bei der Arbeit in Streichholzfabriken. Sie machen etwa ein Fünftel aller Verbrennungsopfer aus. Laut Khan verdanken die weiblichen Opfer ihre Verätzungen fast immer ungewollten Verehrern oder Verwandten. Innerhalb der strengen patriarchalischen Strukturen im Norden Pakistans, die Männer und Frauen gleichermaßen auf rigide Geschlechterrollen festlegen, fühlen sich auch Männer minderwertig, wenn sie unverheiratet bleiben.

"Das erklärt vielleicht, warum die meisten Täter Männer sind, deren Heiratsanträge abgelehnt wurden", sagt Noor Alam Khan, die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation 'Stimme der Gefangenen', die Säureopfer und jugendliche Straftäter rechtlich betreut. "Sie wollen die Frauen entstellen, die sie abgewiesen haben. Sie sollen ihre natürliche Schönheit verlieren, damit sie kein anderer Mann mehr ansehen oder heiraten will."


Mehr als 150 Attacken im letzten Jahr

Nach Angaben von Valerie Khan, der Vorsitzenden der Vereinigung der überlebenden Säureopfer (ASF), hat ihre Organisation im vergangenen Jahr in Pakistan etwa 150 Angriffe dokumentiert. Nur 49 wurden der Polizei gemeldet. Die Mehrheit der Opfer schreckt vor Anzeigen zurück, "weil Gewalt gegen Frauen in unserem Land lange ignoriert wurde ".

Eine rigide Umsetzung des 2011 erlassenen Gesetzes, das für Säureattacken Haftstrafen von mindestens 14 Jahren bis lebenslänglich und Geldbußen in Höhe von bis zu einer Million US-Dollar vorsieht, könnte nach Ansicht von Noor Alam Khan diese Situation ändern. Immerhin hat das Gesetz, dass auch eine Freilassung der mutmaßlichen Täter auf Kaution ausschließt, die Verurteilungsrate von sechs Prozent 2011 auf 18 Prozent 2012 erhöht. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.acidsurvivors.org/
http://www.ipsnews.net/2013/06/acid-survivors-say-theirs-is-a-fate-worse-than-death/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 3. Juli 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2013