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FRAUEN/497: Sahrauischer Frühling (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 123, 1/13

Sahrauischer Frühling
Der lange Kampf für nationale Selbstbestimmung

Von Gundi Dick



Seit 1975 kämpfen Sahrauis gegen die marokkanische Besetzung und für die Selbstbestimmung der Westsahara. Sahrauische Frauen sind an Kämpfen sehr aktiv beteiligt. Wie beschreiben sie selbst ihre Rolle und ihr politisches Engagement? Dazu mehr im folgenden Beitrag.


Noam Chomsky, der scharfe US-amerikanische Kapitalismuskritiker, behauptet es, und auch die Sahrauis sind überzeugt davon: "Der arabische Frühling begann in der besetzten Westsahara mit dem massiven Protest von Gdeim Izik." Das Lager der Würde wurde Ende 2010 in der Nähe der sahrauischen Hauptstadt El Ayun errichtet, und die 20.000 protestierenden Sahrauis - also etwa 10% der Bevölkerung - forderten ein Ende der sozialen, ökonomischen und politischen Diskriminierung und das Selbstbestimmungsrecht für die Westsahara.(1)

Die Behauptung soll verdeutlichen, dass Proteste der Bevölkerung gegen Missstände in der Westsahara und in anderen Ländern länger zurückreichen als das im vom Westen wahrgenommene Zeitfenster des arabischen Frühlings. Ausgedrückt werden soll auch, dass es Proteste gab und gibt, die außerhalb der Wahrnehmung einer westlichen Öffentlichkeit stattfinden.

Das Lager der Würde wurde nach einem Monat Bestehen, am 8. November 2010, vom marrokanischen Militär brutal niedergebrannt, Tausende Zelte überrollt, Menschen kamen ums Leben, Hunderte Sahrauis wurde verhaftet, später wieder entlassen, 23 sitzen bis heute im berüchtigten Militärgefängnis Salé in Rabat und warten auf ihren Prozess.(2)


Der Widerstand der Frauen

Sahrauische Frauen waren am Protest in Gdeim Izik beteiligt, so wie sie schon in den langen Jahrzehnten davor im Widerstandskampf gegen Marokko an vorderster Stelle mitgewirkt hatten. Dass ihre Rolle eine herausragende ist, wie Wissenschafterinnen feststellen, zeigt sich in der Person der Menschenrechtsaktivistin Aminatou Haidar, der Galionsfigur des sahrauischen Widerstands, und an den Beschreibungen der Sahrauis selbst.

Was motiviert sahrauische Frauen, sich politisch so stark zu engagieren? Wofür kämpfen sie? Und wie lässt es sich erklären, dass sie trotz guter Position innerhalb ihrer Gesellschaft den Kampf für mehr Frauenrechte hintanstellen? Oder ist dieses "trotz" unserem westlichen Denken verhaftet und für sahrauische Frauen keineswegs ein Widerspruch?

Ihre Motivation liegt im Erleben der Unterdrückung, sagt Nadjat Hamdi, ehemalige Polisario-Vertreterin in Österreich: "Die Erfahrung, jemand unterdrückt mich ständig, nährt den Widerstandswillen. Marokko selbst nährt den Widerstand. Da braucht man gar keine UNO-Resolutionen, die Geschichte oder die völkerrechtliche Seite der Westsahara zu kennen, da braucht man nur dort zu leben und zu erfahren, dass man unterdrückt wird."

Die 21-jährige Suelma H. lebt in den besetzten Gebieten in der Hauptstadt El Ayun. Sie war bereits mit 15 Jahren das erste Mal im Gefängnis, erlitt dort Folter und wurde später ein zweites Mal gefangen genommen. Sie beschreibt die politisierende Stimmung, die sie bereits als Kind mitbekam und in die sie hineinwuchs: "Von klein auf sehen wir, hören wir, erfahren wir von denen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, wir sehen, wie unsere Eltern zu Verhören mitgenommen werden, wir sehen, wie die Besatzer in die Häuser der Leute reinkommen und alles zerstören. (...) Wir hören von den Geschichten von Ghalia, von Aminatou, von Sukaina, von vielen Frauen, die gefoltert und ins Gefängnis gesteckt wurden. Das wächst in uns drin. (...) Es entsteht das Gefühl, ich muss was tun, ich muss was ändern, ich muss auch meinen Teil beitragen, und dann ist es vielleicht auch eine Pflicht. Aber auch der eigene Wunsch, die Situation zu ändern."

Warum führen das Ausmaß der Unterdrückung und die jahrzehntelange Dauer, die geringen politischen Erfolge und die zahlreichen Rückschläge nicht zu Resignation? Nadjat Hamdi, die 1975 als Siebenjährige mit ihrer Familie vor der Besatzung geflohen ist und in den sahrauischen Flüchtlingslagern in Algerien aufgewachsen ist, begründet das Durchhaltevermögen so: "Weil sich nichts geändert hat. Die Besatzung ist noch da, das Unrecht setzt sich fort. Die Gründe, die die Leute veranlasst haben, ihr Land, ihre Städte, ihre Familie hinter sich zu lassen, sind noch gültig. Viele sind überzeugt, dass sie das Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit haben. Das ist nicht widerlegt. Die Welt, die nichts macht, unterstützt diese Zwangssituation.

Die Menschen haben schon viel für den Freiheitskampf gegeben. Wir haben sehr viele verloren, es ist schon viel Blut geflossen. Jeder Tag, den die Leute in der Hitze verbringen, ist ein Opfer. Jeder Tag wird kostbarer, je länger wir bleiben, umso kostbarer wird die Freiheit. Es läuft also umgekehrt. (...) Jetzt wächst eine neue Generation heran, die in der ungerechten Situation zur Welt gekommen ist. Sie versuchen, etwas zu verändern, und werden immer wütender. Sie sagen, unsere Großeltern sind hier alt geworden, unsere Eltern werden auch schon alt, und wir werden hier nicht ewig bleiben."


Selbstbestimmung zuerst

Die Kraft, nicht aufzugeben, nährt sich aus der kollektiven Erfahrung der Ungerechtigkeit und der Überzeugung, ein legitimes Recht zu beanspruchen. Das Recht auf Selbstbestimmung soll durch ein Referendum erreicht werden, so wie es bereits 1991 zugesagt worden war. Die Abhaltung des Referendums war Teil des Waffenstillstands, der unter UNO-Vermittlung zwischen Marokko und der Polisario geschlossen wurde.

Selbstbestimmung ist für alle das vorrangige Ziel, sie ist Voraussetzung für einen eigenen Staat, und sie würde ermöglichen, dass das sahrauische Volk, das seit 37 Jahren durch eine Mauer getrennt in den besetzten Gebieten und in prekärer Lage in Flüchtlingslagern in Algerien lebt, wieder zusammenkommt.

Erst wenn diese Selbstbestimmung erreicht ist, kann für mehr Frauenrechte gekämpft werden, sagt Nadjat: "Dieser Kampf wird sich ergeben - in einem freien Land. Jetzt haben wir ein politisches Ziel, jetzt haben wir keine Machtkämpfe, weil es in den Flüchtlingslagern keine Wirtschaft in dem Sinne gibt, und in den besetzten Gebieten ist alles in der Hand der Besatzungsmacht, da kann der sahrauische Mann genauso wenig machen wie die Frau. (...) Die Leute denken, es ist erst mal wichtig, dass wir eine Heimat haben, dass wir frei sind, damit wir auch streiten können. Jetzt können wir uns das nicht erlauben, im fremden Territorium, mit fremden Mitteln, was haben wir? Das habe ich auch von vielen Frauen gehört. Sie sagen: 'Das ist jetzt nicht das Wichtigste.' (...) Es ist für uns ein Luxus, über Frauenrechte zu streiten."

Die Kämpfe der sahrauischen Frauen sind vielfältig - ihre Forderungen, Ziele und Methoden verstehen sie als Teil eines gemeinsamen Widerstandskampfes, der nur im Kollektiv mit allen, Frauen und Männern, Jungen und Alten, eine Chance hat. Das Danach wird kommen, und da werden die ehemals starken Nomadinnen wieder zu kämpfen wissen.


ANMERKUNGEN:

(1) Democracy Now! 21.3.2011:
www.youtube.com/watch?v=JTjOtOPzOBQ

(2) Gdeim Izik - El campamento de la Resistencia Saharaui: Castellano Documental HD Sáhara Occidental:
www.youtube.com/resistenciasaharaui


ZUR AUTORIN:

Gundi Dick ist seit vielen Jahren frauen- und entwicklungspolitisch aktiv. Sie verfasste im Rahmen des Master-Lehrgangs "Internationale Genderforschung und Feministische Politik" am Rosa-Mayreder-College Wien ihre Thesis zum Thema "Für Selbstbestimmung kämpfen wir gemeinsam: Die Handlungsfähigkeit sahrauischer Frauen in den besetzten Gebieten und in den Flüchtlingslagern". Dazu führte sie Interviews mit elf sahrauischen AktivistInnen. Sie lebt in Baden bei Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 123, 1/2013, S. 16-17
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2013