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FAMILIE/281: Lebens- und Familienformen im Wandel (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108

Lebens- und Familienformen im Wandel

Von Johannes Huinink


Die Vielfalt der Lebens- und Familienformen in Deutschland ist groß - es gibt Partnerschaften mit und ohne Trauschein, mit und ohne Kinder, es gibt Patchworkfamilien, Singles in allen Altersstufen oder gleichgeschlechtliche Lebensformen. Die Familie als Zwei-Generationen-Haushalt mit leiblichen Kindern bleibt aber die zahlenmäßig häufigste Lebensform. Ein Essay.


In den letzten 50 Jahren vollzog sich in der deutschen Gesellschaft ein Wandel der Lebensformen, der das Ende der Hoch-Zeit der bürgerlichen Familie eingeläutet, wenn auch bis heute nicht vollendet hat. Selten wird darauf hingewiesen, dass dieser Wandel weniger völlig neue Lebensformen hervorgebracht hat, sondern dass immer mehr Menschen - in altersspezifisch unterschiedlich starker Ausprägung - Lebensformen wählen, die in der jüngeren Vergangenheit durch das bürgerliche Familienmodell verdrängt worden waren. Geht man weiter in die Vergangenheit zurück, stellt man fest, dass fast alle der sogenannten neuen Lebensformen schon in früheren Jahrhunderten aufgetreten sind. Die heutige Verbreitung dieser also nicht ganz so neuen Lebensformen hat jedoch andere Ursachen als in der Zeit vor dem Siegeszug der bürgerlichen Familie.

Besondere Kennzeichen des Wandels der letzten 50 Jahre sind die Veränderung der Organisation der Wohlfahrtsproduktion in Paar- und Familienhaushalten, ein ansteigendes Alter bei der Familiengründung sowie die De-Institutionalisierung und abnehmende Stabilität partnerschaftlicher und familialer Lebensformen. Der Anteil der Alleinlebenden wächst in allen, aber besonders stark in der jungen Altersgruppe. Der Anteil von Personen, die in einer nichtehelichen Paargemeinschaft mit oder ohne gemeinsamen Haushalt sowie mit oder ohne Kinder leben, ist stetig angestiegen. Die Zahl gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit und ohne Kinder nimmt ebenfalls zu. Die Scheidungs- beziehungsweise Trennungsrisiken sind größer geworden. Auch deshalb haben Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien und Patchworkfamilien unter den Familienformen an Bedeutung gewonnen. Die Heiratsneigung sinkt und Kinder sind immer weniger ein Anlass dafür zu heiraten. Zudem sind neue Formen von nicht-biologischer oder nicht-genetischer Elternschaft durch die Reproduktionsmedizin möglich geworden, wenngleich diese bisher nicht alle in Deutschland erlaubt sind.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts ist die durchschnittliche Kinderzahl der Frauen, die gegen Ende der 1960er-Jahre geboren wurden, auf circa 1,5 gesunken. Das heutige Alter von Frauen bei der Familiengründung ist mit durchschnittlich über 29 Jahren sehr viel höher als früher. In Deutschland leben also weniger Frauen und Männer als verheiratete Paare mit ihren leiblichen Kindern zusammen. Diese Gruppe war unter der Bevölkerung im mittleren Erwachsenenalter (35 bis 45 Jahre) mit knapp 50 Prozent im Jahr 2012 jedoch immer noch die größte.

Die Arbeitsteilung der erwachsenen Haushaltsmitglieder im Haushalt und bei der Erwerbsarbeit entsprechen jedoch auch in diesen Familien immer weniger dem traditionellen, bürgerlichen Modell. Die Erwerbstätigkeit der Mütter wird die Regel, wobei sich diese immer noch danach richtet, in welchem Alter die Kinder sind. Viele Mütter - vor allem westdeutsche - gehen einer Teilzeitbeschäftigung nach.


Der Staat sichert zunehmend die Lebensrisiken ab

Diese nur grob skizzierten Veränderungen sind in einen umfassenden sozialen Wandel eingebettet. Seit der Industrialisierung ist die Produktion von Gütern immer mehr aus dem Zuständigkeitsbereich der Familie ausgelagert worden und findet in kleineren und größeren Unternehmen und Fabriken statt. Im Zuge dessen trat die bürgerliche Familie ihren Siegeszug an, die den Strukturen der durch eine geschlechtstypische Arbeitsteilung gekennzeichneten industriellen Gesellschaft gut angepasst war.

Im weiteren Verlauf zeichnen sich (mindestens) drei Wandlungstrends ab, die zur Erosion des modernen, bürgerlichen Familienmodells beigetragen und erneut einen Wandel der Lebensformen beschleunigt haben: Erstens sind die Anforderungen der Wirtschaft an die Verfügbarkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umfassender geworden, indem nunmehr beide Geschlechter als Arbeitskräfte nachgefragt werden. Aber auch die Qualifikation und die persönliche Bereitschaft, sich den Gesetzen des globalisierten Marktes zu stellen, sind gestiegen. Die Ansprüche an die Beschäftigten ergeben sich allerdings vornehmlich aus marktökonomischen Interessen der Arbeitgeber und nicht aus den persönlichen Bedürfnissen und der individuellen Lebensführung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Daher müssen Frauen und Männer auch mit biografischen Unsicherheiten, beruflichen Instabilitäten und mit hohen sozialen und räumlichen Mobilitätsanforderungen rechnen.

Zweitens hat die wohlfahrtstaatliche Sozialpolitik zunehmend die Absicherung existenzieller Risiken von Familienhaushalten und ihren Mitgliedern übernommen. Auch in Zeiten, in denen wohlfahrtstaatliche Leistungen immer mehr eingeschränkt werden, bleibt die individuelle Existenzsicherung ein Basiselement der Politik.


Ent-Traditionalisierung von Partnerschaft und Ehe

Drittens gibt es einen Trend zur Ent-Traditionalisierung sozialer Beziehungen und zu immer persönlicheren Vorstellungen davon, wie soziale Beziehungen im Allgemeinen und private soziale Beziehungen in Partnerschaft und Familie im Besonderen gestaltet werden sollen. Dieser Prozess, der mehr individuelle Autonomie ermöglicht, führt dazu, dass zugeschriebene Merkmale wie zum Beispiel das Geschlecht an Bedeutung verlieren. Ebenso werden normative, institutionalisierte Bindungen (zum Beispiel die Ehe) sowie traditionelle Symbole und Selbstverständlichkeiten als Regulatoren sozialer Beziehungen und sozialen Austauschs irrelevanter (zum Beispiel die geschlechtstypische Verantwortung gewisser Tätigkeiten).

Aus diesen Trends lassen sich für den Wandel der Lebensformen thesenhaft vor allem drei Entwicklungen ableiten: Erstens verstärkt sich der Anreiz dafür, den sozio-normativen und rechtlichen Verbindlichkeitsgrad von Lebensformen zumindest für eine längere Phase im Lebenslauf gering zu halten. Partnerschaft und Familie werden für die Daseinssicherung des Einzelnen immer weniger wichtig. Ein Grund dafür ist die Erwerbsarbeit von Frauen, die ihnen höhere wirtschaftliche Unabhängigkeit sichert; ein weiterer ist die Absicherung des Einzelnen durch den Sozialstaat. Allerdings bleibt das Risiko für Alleinerziehende bestehen, temporär in Armut leben zu müssen. Gleichzeitig verlangt die hohe Flexibilität im Erwerbsleben Entscheidungsautonomie in der individuellen Lebensführung. Dies geht mit dem Bemühen um eine authentische, durch Selbstwirksamkeit geprägte Gestaltung des privaten Zusammenlebens einher - also einer Haltung, die Vertrauen in die Wirksamkeit des eigenen Verhaltens hat und in starken emotionalen Bedürfnissen der Menschen begründet liegt.


Hohe emotionale Anforderungen an Partnerschaft und Familie

Zweitens sind sowohl die ökonomischen Veränderungen als auch die Ent-Traditionalisierung sozialer Beziehungen mit einer unumkehrbaren Veränderung des Geschlechterverhältnisses verknüpft. Da Frauen (und eben auch Mütter) zunehmend erwerbstätig sind, funktioniert die traditionelle Arbeitsteilung im modernen Familienhaushalt auf Dauer nicht mehr. Der Wandel dieses Aspekts der Lebensformen scheint sich allerdings nur vergleichsweise langsam zu vollziehen, da auch in nicht-institutionalisierten Lebensformen häufig noch traditionelle Muster der Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen gelebt werden. Außerdem sind Frauen in vielen Bereichen des Erwerbslebens benachteiligt. Das Ideal der Gleichstellung widerspricht immer noch der tatsächlichen Geschlechterungleichheit.

Drittens sind die Menschen in der Gesellschaft systematisch einem Dilemma in ihrer Lebensführung ausgesetzt. Viele streben eine emotionale Bindung durch eine Paarbeziehung oder durch Elternschaft an. Aber diese ist oft nur schwer mit den Ansprüchen an das eigene Leben in Einklang zu bringen oder steht auch den Anforderungen entgegen, die von anderen Personen oder von anderen Familienmitgliedern an das Individuum gestellt werden. Mehr noch: Aufgrund ihrer "kostenträchtigen" Bindungsfolgen sind die emotionalen Ansprüche an Partnerschaft und Elternschaft hoch. Die Beteiligten drohen von ihren Ansprüchen überwältigt zu werden. Ihr Versuch, die für ihre Psyche wichtigen, engen Beziehungen zu Partner und Kind mit möglichst großer Flexibilität bei der Verfolgung ihrer außerfamiliären Interessen (zum Beispiel einer Berufskarriere) zu verbinden, droht fehlzuschlagen.

Damit ist ein Scheitern solcher Beziehungen wahrscheinlicher geworden. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen können für die Beteiligten gravierend sein. Wenn sie neue, oft komplexere Familienkonstellationen eingehen (zum Beispiel Stieffamilien oder Patchworkfamilien), müssen sie sich auch neuen Herausforderungen stellen. Ein wiederholtes Scheitern ist möglich.

Der Wandel der Lebensformen muss als Facette eines umfassenderen sozialen Wandels verstanden werden, womit er auch tief in dessen "Ungleichzeitigkeiten" und Widersprüchlichkeiten verstrickt ist. Daher drängt sich vor allem die Frage auf, was unternommen werden sollte, um die angedeuteten Dilemmata der Lebensführung zu entschärfen. In der aktuellen Forschung steht eine überzeugende Antwort darauf noch aus.


DER AUTOR Prof. Dr. Johannes Huinink ist Professor für Theorie und Empirie der Sozialstruktur am "Institut für empirische und angewandte Soziologie" (EMPAS) der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialstrukturforschung, die Soziologie des Lebenslaufs, die Soziologie der Lebensformen und die Bevölkerungssoziologie. Er ist Mitglied im Beirat des DJI-Surveys AID:A ("Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten").
Kontakt: huinink@empas.uni-bremen.de


DJI Impulse 4/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108, S. 4-6
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2015

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