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FRAGEN/035: Gewalt und Migration in Guatemala (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 140, 2/17

"Al final lo que queremos es ser mujeres libres"

Gewalt und Migration in Guatemala

Interview mit Elizabeth Cabrera und Samira Marty von Amina El-Gamal


Zwanzig Jahre nach Ende des Bürgerkriegs und der Unterzeichnung des Friedensvertrags herrschen weiterhin kriegsähnliche Zustände in Guatemala. Laut Amnesty International flüchten jährlich hunderttausende Menschen vor Gewalt, Armut und sozialer Ungleichheit. Vor allem guatemaltekische Frauen sind von diesen Umständen betroffen, aber auch alle jungen indigenen Menschen. Im Gespräch mit Elizabeth Cabrera und Samira Marty erhielt Amina El-Gamal nähere Informationen.


Das UNHCR berichtet, dass in Zentralamerika 2016 die Zahl der Menschen, die vor Gewalt geflohen sind, auf den höchsten Stand seit den bewaffneten Konflikten in den 1980er-Jahren gestiegen ist. Seit dem Bürgerkrieg in Guatemala in den 1960er-Jahren prägen Ausgrenzung, Diskriminierung, Vergewaltigung und Mord den Umgang der guatemaltekischen Regierung mit der weiblichen indigenen Bevölkerung. Sie sind einerseits Zielscheibe von Unterdrückung und Gewalt durch die Herrschenden, andererseits aber auch Symbol des Widerstands und der Transformation.

Hilda Elizabeth Cabrera López und Samira Marty sprachen bei der Veranstaltung "Das weibliche Gesicht des Widerstands" im April in Wien über den Kampf von indigenen Aktivistinnen gegen Unterdrückung und Gewalt in Guatemala. [1] Hilda Elizabeth Cabrera López ist Programmkoordinatorin von MIRIAM-Guatemala. MIRIAM ist eine Organisation zur Förderung von Aus- und Weiterbildung insbesondere von indigenen Frauen, die sich auch für Gleichberechtigung, Frauenrechte und gegen Gewalt einsetzt. Samira Marty ist Autorin von "Das weibliche Gesicht des Widerstands". Sie ist Kultur- und Sozialanthropologin an der Universität Oslo und war 2015 für ihre Forschung in Guatemala.


Wie sieht die alltägliche Realität von indigenen Frauen in Guatemala aus? Ist Guatemala ein sicherer Ort für Frauen?

Samira Marty (SM): Guatemala ist definitiv kein sicherer Ort für Frauen, insbesondere nicht für indigene Frauen. Die Hälfte der Frauen in Guatemala sind Indigene, nichtsdestotrotz wurden und werden sie immer noch marginalisiert und ignoriert. In Guatemala, wie auch in anderen Ländern Zentralamerikas, sind Frauen extremen Situationen ausgesetzt, und es ist schwierig, Widerstand zu leisten. Der guatemaltekische Staat hat den Genozid, der von der Armee und rechten paramilitärischen Gruppen an der indigenen Bevölkerung verübt wurde, immer noch nicht anerkannt.

Elizabeth Cabrera (EC): Von der Gewalt in Guatemala sind vor allem Frauen betroffen. Sie erleben oft Einschüchterungen und Drohungen. Bei MIRIAM sind auch wir durch unsere Arbeit mit Frauen mit Gewalterfahrungen ständiger Gefahr ausgesetzt. Der Staat garantiert Frauen ihre Menschenrechte nicht, daher müssen wir aktiv sein.

MIRIAM trägt zum Empowerment von indigenen Frauen in Guatemala bei. Ich selbst musste mit zehn Jahren nach Mexiko fliehen. Als ich zurückkam, war das Stipendium von MIRIAM sehr wichtig für mich. Das Projekt ermöglicht es Frauen, ihre Lebensumstände zu verändern. Einerseits werden Frauen durch Bildungsstipendien und Weiterbildungsprogramme unterstützt. Dies soll ihnen ermöglichen, sich in der Arbeitswelt zu integrieren und ein Einkommen zu finden. Aber sie sollen auch über ihre Rechte Bescheid wissen und sich selbst wertschätzen, um sich in Partnerschaften und im Alltag verteidigen zu können. Andererseits bietet das Projekt Programme für die Überlebenden von Gewalt. Viele von ihnen sind jugendliche Mütter. Sie bekommen psychologische Unterstützung, um Traumata aufgrund von Gewalterfahrungen bewältigen und ihr Leben weiterführen zu können.


Die Migrations- und Fluchtrate in und aus Guatemala ist sehr hoch, sei es in die USA oder aufgrund Binnenmigration. Wo seht ihr die Hauptursachen, und welche besonderen Problematiken und Herausforderungen ergeben sich dadurch für Frauen?

SM: Einerseits gibt es im Land eine wirtschaftliche Krise, von der die Elite profitiert, während der Großteil der Bevölkerung immer mehr benachteiligt wird. Gerade Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt oft ausgenützt und arbeiten im informellen Sektor, wo es keine Schutzmechanismen gibt. Gleichzeitig wandern viele junge Männer ab. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten für Frauen. Sie übernehmen neue Rollen und haben damit auch mehr Mitspracherechte.

Auch sind Geldtransfers von Migrant_innen aus dem Ausland sehr wichtig für Familien in Guatemala und für das ganze Land. Aber generell ist die Gefahr groß, dass Frauen, wenn sie sich für die Flucht entscheiden, dabei sexuell missbraucht oder durch Schlepper entführt werden. Viele Frauen verschwinden und können aufgrund fehlender Überwachung und Schutz nicht nachverfolgt werden.

EC: Frauen migrieren weiterhin in die USA trotz eines Lebens in der Illegalität. Die Frauen riskieren dafür ihr Leben. Es ist nicht sicher, dass sie überhaupt in den USA ankommen werden. Sie müssen oft ihre Kinder allein oder mit den Großeltern zurücklassen. Diese wachsen dann ohne Eltern auf. Väter übernehmen oft keine Verantwortung für ihre Kinder. Außerdem gibt es auch die Migration vom Dorf in die Stadt. Indigene Frauen sind dort großer Diskriminierung ausgesetzt und müssen, um zu überleben, ihre Identität verbergen.


Welche Lösungsstrategien würden die Situation in Guatemala verändern?

SM: Es gibt sehr vielschichtige Probleme in Guatemala, und deshalb müssen auch die Lösungen komplex sein. Ich habe kein Rezept, um diese Konflikte zu lösen. Aber ich meine, dass Rassismus und Diskriminierung uns auf der ganzen Welt beschäftigen. Und ich bin davon überzeugt, dass es einen sensiblen und selbstkritischen Umgang mit diesen Themen braucht.

EC: Ich glaube, Gewalt ist ein strukturelles Problem. Unsere Aufgabe ist es, dies sichtbar zu machen, die Gewalt zu dekonstruieren und zu externalisieren. Wir im Projekt MIRIAM sehen Bildung als den Schlüssel, um Frauen bessere Möglichkeiten zu bieten. Frauen müssen sensibilisiert werden, damit sie wissen, dass Rassismus und Diskriminierungen nicht normal sind und sie ihre Körper und ihre Rechte verteidigen müssen. MIRIAM versucht Frauen in die Politik zu bringen. Vor allem indigene Frauen sollten an höhere Positionen gelangen.

Außerdem haben wir einen umfangreichen Vorschlagkatalog vorgelegt, wie Überlebende von Gewalt vom Staat unterstützt werden sollten. Weil die staatlichen "hogares seguros" - die sicheren Heime für Gewaltopfer - nicht sicher sind. Der Staat muss Verantwortung übernehmen und erkennen, dass Gewalt ein nationales Problem ist. Letztlich wollen wir nur selbstbestimmte und unabhängige Frauen sein.


Anmerkung:
[1] Die Veranstaltung wurde vom Promedia-Verlag in Kooperation mit Frauen*solidarität, Guatemala Solidarität, kfb Wien, Welthaus und WIDE organisiert.

Lesetipp:
Marty, Samira (2016): Das weibliche Gesicht des Widerstands. Der Kampf indigener Aktivistinnen gegen Unterdrückung und Gewalt in Guatemala. Promedia: Wien.

Hörtipp:
Das Interview mit Hilda Elizabeth Cabrera López und Samira Marty wird am 27. Juni 2017 im Rahmen der Sendereihe Globale Dialoge der Women on Air auf Radio Orange 94.0 ausgestrahlt. Sie können es dann jederzeit auf www.noso.at nachhören.

Webtipp: http://flucht-migration.amnesty.at/2016/10/25/zentralamerika-flucht-vor-der-gewalt/

Zur Autorin:
Amina El-Gamal absolvierte ihre Bachelorstudien in Spanisch und Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck. Gegenwärtig studiert sie Internationale Entwicklung im Master und Orientalistik Bachelor an der Universität Wien und absolviert ein Praktikum bei der Frauen*solidarität.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 140, 2/2017, S. 24-25
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2017

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