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EHRENAMT/036: Rückzug der Armen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 128/Juni 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Rückzug der Armen

Der Umfang freiwilligen Engagements hängt von der materiellen Lage ab - und von Bildung

Von Petra Böhnke und Dietmar Dathe


Kurzgefasst: Je niedriger das Einkommen, desto seltener engagieren sich Menschen ehrenamtlich. Und je länger Bürger in Armut leben, desto weniger sind sie zu freiwilligem Engagement bereit. Materielle Verarmung als solche kann die Abkehr vom Ehrenamt aber nur in Teilen erklären. An das Einkommen geknüpfte Bildungswege spielen ebenfalls eine Rolle, ebenso wie Persönlichkeitsmerkmale. Obwohl ihr Engagement nachlässt, halten deshalb Absteiger aus der Mittelschicht eher am Ehrenamt fest als das Gros der Armen. Die Stärkung der Zivilgesellschaft durch freiwilliges Engagement ist also nur mittelbar eine Frage der materiellen Ressourcen der Bürger.


Teilhabe an der Gesellschaft ist mehr als ein Arbeitsplatz und ein angemessener Lebensstandard - es geht auch um das soziale, politische und kulturelle Mitgestalten. Freiwilliges Engagement spielt hier eine besondere Rolle: Wer ehrenamtlich tätig ist, engagiert sich für das Gemeinwohl, lebt demokratische Werte, gilt als sozial integriert. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt kommt dem Ehrenamt also eine Schlüsselfunktion zu. Der Umfang ehrenamtlichen Engagements ist dabei je nach sozialen Umständen sehr unterschiedlich. Als entscheidende Faktoren gelten ein hohes Bildungsniveau, ein Arbeitsplatz und relativer Wohlstand - vor allem Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte sind ehrenamtlich aktiv. Die Mittelschicht gilt als Stützpfeiler der demokratischen Ordnung, als wichtigster Träger bürgerlicher Werte und als Garant für dauerhaften sozialen Frieden. Deshalb rührt die Frage nach den Folgen zunehmender Ungleichheiten und der Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte am Kern der Zivilgesellschaft: Gefährdet ein Verarmungsrisiko, das bis in die Mittelschicht hineinreicht, das zivilgesellschaftliche Fundament der Gesellschaft?

Aktuelle Forschungsergebnisse geben am Beispiel ehrenamtlicher Tätigkeit Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Menschen verschiedener Einkommensgruppen und ihren Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe. Die Ergebnisse beruhen auf Berechnungen mit Daten des Soziooekonomischen Panels (SOEP), einer seit 1984 in Deutschland jährlich wiederholten repräsentativen Umfrage. Die Befragten sollten zum Thema freiwilliges Engagement angeben, wie oft sie in ihrer Freizeit in Vereinen, Verbänden oder sozialen Diensten ehrenamtlich aktiv sind - wöchentlich, monatlich, seltener oder nie. Für die Analyse wird zum einen der Zusammenhang zwischen Einkommen und Engagement untersucht. Zudem wird sie um eine Verlaufsperspektive ergänzt: Dieselben Personen werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten befragt, um genauer abschätzen zu können, ob Ehrenämter wegen Verarmung aufgegeben werden oder nicht.


Je höher das Einkommen, desto größer das Engagement

Abbildung 1 zeigt das Engagement von Menschen unterschiedlicher Einkommensgruppen: Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt demnach über alle Gruppen hinweg das regelmäßige Engagement - also mindestens monatlich - zu. Die Gesamtquote stieg von 1992 bis 2007 von 12,9 Prozent auf 16,9 Prozent. Es gibt dabei zwei Gruppen, die regelmäßig Engagierten (zwei Drittel aller Engagierten) und nur sporadisch Engagierte, deren Quote über die Zeit stark schwankt. Zugleich sind die Engagementquoten stark vom Einkommen abhängig - je höher das Einkommen, desto größer das Engagement. Unterdurchschnittlich engagieren sich die unteren drei Einkommensgruppen (Armut, prekärer Wohlstand- und untere Mittelschicht), überdurchschnittlich die obere Mitte und die Oberschicht. Die Befürchtung scheint also durchaus berechtigt, dass eine wachsende soziale Polarisierung durch immer größere Verarmungsrisiken bzw. ein Schrumpfen der Mittelschicht die Zivilgesellschaft zu schwächen drohen.

Welche konkreten Folgen für das freiwillige Engagement gehen nun mit Verarmung einher? Und gibt es hier Unterschiede abhängig von der Höhe des Einkommensverlusts bzw. der Tiefe des "Absturzes", der mit dem Abstieg verbunden ist? Zwar zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Einkommensniveau und Engagement. Ob aber Verarmung als solche einen Rückzug vom Ehrenamt nach sich zieht, ist damit nicht bewiesen - diese Frage lässt sich nur durch Verlaufsanalysen beantworten. Bisherige Verlaufsanalysen zur Entwicklung des freiwilligen Engagements von Bürgern untersuchen vor allem den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Engagement und den Einfluss ehrenamtlichen Engagements auf den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt; sie betrachten dessen Nutzenfunktion für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Ihre Ergebnisse sind nicht eindeutig. Insgesamt mangelt es an Wissen über die Entwicklung von Engagement und im weiteren Sinne von sozialem Kapital im individuellen Lebensverlauf.


Verarmung: Abschied vom freiwilligen Engagement?

Verarmung und die Aufgabe freiwilligen Engagements - warum sollte hier überhaupt ein Zusammenhang bestehen? Zunächst erscheint es plausibel, dass ein massiver Einkommensverlust zum Sparen zwingt und damit das Geld fehlt für Vereinsbeiträge und Geselligkeiten. Engagement muss man sich leisten können. Zugleich kann Armut zu Resignation und Scham und zum Rückzug aus der Öffentlichkeit führen. Altruistische Motive und Solidaritätsgefühl mit Schwächeren treten möglicherweise in den Hintergrund, wenn es darauf ankommt, das eigene Existenzminimum zu sichern. Wer keinen Arbeitsplatz hat, neigt häufiger zu einem Rückzug.

Gibt es auch andere denkbare Entwicklungen? In der Literatur wird oft auf den Nutzen freiwilligen Engagements beispielsweise zum Knüpfen von Kontakten und sozialen Netzwerken hingewiesen. Dies spräche dafür, sich in einer schwierigen, wirtschaftlich unsicheren Lebenslage besonders intensiv freiwillig zu engagieren. Oder besteht womöglich gar kein Zusammenhang zwischen ehrenamtlicher Tätigkeit und Verarmung, weil freiwilliges Engagement stärker als von der wirtschaftlichen Lage von einer gefestigten Persönlichkeit abhängt und von Einstellungen, die sich langfristig durch Sozialisation und Bildung entwickelten - oder gar genetisch bedingt sind?

Auch Abbildung 2 zeigt die Quote freiwilligen Engagements je nach Einkommen und hilft, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Zusätzlich wird hier noch nach der Nähe der Bürger zur Armut, der Dauer von Armut und ihrem Einkommen vor dem wirtschaftlichen Abstieg differenziert. Sowohl ein Abstieg in Armut aus einer Mittelschichtlage heraus als auch Verarmung aus dem armutsgefährdeten prekären Wohlstand hat die gleiche Wirkung - freiwilliges Engagement wird aufgeben. Aber: In jeder dieser "Verarmungs"-Phasen bleibt das Engagementniveau der ehemaligen Mittelschichtangehörigen deutlich höher als das der Absteiger aus dem prekären Wohlstand. Und es zeigt sich, dass Menschen, die kurz vor dem Abstieg in die Armut stehen, sich im Schnitt weniger engagieren als diejenigen ohne Abstiegsrisiko. Es ist also eine selektive, offensichtlich auch schon vor dem Abstieg weniger partizipierende Bevölkerungsgruppe, die verarmt. Wer langfristig arm ist - und dies betrifft nur noch eine kleine Gruppe der Mittelschicht-Absteiger - hat die niedrigsten Engagementquoten.

Weiterführende statistische Berechnungen, die einschneidende Erfahrungen wie etwa Einkommens- oder Jobverlust als Ursache einer veränderten Bereitschaft zu freiwilligem Engagement untersuchen, zeigen: Der Abstieg in die Armut mindert zwar, unabhängig etwa von Arbeitslosigkeit oder Scheidung ehrenamtliche Aktivitäten - allerdings nicht besonders stark. Es verarmen vor allem Menschen, die bereits vorher zu den sogenannten armutsnahen Einkommensgruppen gehörten - das Überschreiten der Schwelle zur Armut geht daher meist nicht mit einem so großen Einkommensverlust einher, dass sich die Lebensweise massiv verändert. Wer verarmt, hat mit großer Wahrscheinlichkeit auch vorher schon mit prekären Lebensbedingungen zu kämpfen gehabt und war nur selten ehrenamtlich aktiv, so dass die Veränderungen minimal sind. Dies erklärt weitgehend, warum die Abkehr vom freiwilligen Engagement nur selten eine direkte Folge von Verarmung ist.

Lebensrisiken wie Verarmung lassen zwar auch das Engagement bei Mittelschicht-Absteigern sinken, aber es fällt nicht auf das niedrige Niveau derjenigen, die aus dem prekären Wohlstand heraus abgestiegen sind. Zusammen mit der Tatsache, dass eine gute Bildung und ein Arbeitsplatz ehrenamtliche Aktivitäten begünstigen, lässt das die Vermutung zu, dass Engagement auch in Armut von stabilen Faktoren wie Bildung, Herkunft und Sozialisation mitbestimmt wird. Für 2005 kann mit dem SOEP der Einfluss von Bildung und Persönlichkeitsmerkmalen auf das Engagement-Verhalten bereits verarmter Menschen analysiert werden. Dabei zeigt sich, dass insbesondere das Bildungsniveau eine wichtige Rolle spielt: Unter den Armen sind diejenigen mit höherer Bildung und guter Qualifikation noch am ehesten freiwillig aktiv. Auch gewisse persönliche Eigenschaften und Einstellungen sind relevant, die wiederum eng an Bildungswege gekoppelt sind. Menschen, die sich als phantasievoll, originell und kreativ einschätzen und glauben, dass man die Verhältnisse auch selber beeinflussen kann, sind trotz Armut engagiert.

Bildungsnähe und damit verknüpfte persönliche Eigenschaften und Einstellungen, über die Menschen aus der Mittelschicht eher verfügen, helfen also nicht nur, Armut zu verhindern, sondern auch in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit am freiwilligen Engagement festzuhalten. Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive wäre natürlich eine von Abstieg bedrohte Mittelschicht ein Grund zur Sorge. Besondere Aufmerksamkeit sollte aber den unteren Einkommensschichten gelten, die seit Jahren unter oder nur knapp über der Armutsschwelle leben. Eine Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die diesen Schichten Aufstiege ermöglichte, würde gleichzeitig die Zivilgesellschaft stärken.


Petra Böhnke, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration forscht vor allem zu Armut, Integration und Sozialkapital. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Universität Harvard übernimmt sie Anfang Juli am WZB die Leitung der Schumpeter-Nachwuchsgruppe Soziales Kapital im Lebensverlauf.
boehnke@wzb.eu

Dietmar Dathe ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Zivilengagement. Er forscht vor allem zur Zivilgesellschaft, zum Dritten Sektor, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der sozialen Lage in den östlichen Bundesländern und Einkommensungleichheit.
dathe@wzb.eu


Literatur

Petra Böhnke. Abwärtsmobilität und ihre Folgen: Die Entwicklung von Wohlbefinden und Partizipation nach Verarmung, 38 S. (WZB-Bestellnummer SP I 2009-205)

Eckhard Priller, Mareike Alscher, Dietmar Dathe, Rudolf Speth (Hg.), Zivilengagement. Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, Reihe Philanthropie, Bd. 2, Berlin u.a.: LIT Verlag 2010, 360 S. (Im Erscheinen)

Susanne Strauß (2007): Volunteering and Social Inclusion. Interrelations between Unemployment and Civic Engagement in Germany and Great Britain, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 290 S.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abbildung 1 - Graphik: Engagement nach Einkommen (mindestens monatliche Ausübung des Ehrenamts); bis 1990 nur alte Bundesländer; Haushaltsnettoeinkommen, äquivalenzgewichtet nach OECD2-Skala
Datenbasis: SOEP 25, gewichtet, Berechnung von Eric Scholz
Abbildung 2 - Graphik: Engagementquoten (mindestens monatlich) nach Armutsnähe und -dauer sowie nach vorheriger Einkommensposition (1985-2007); Mittelschicht = 80-150% und prekärer Wohlstand = 60-80% des Median-Nettoäquivalenzeinkommens; vor Verarmung = Jahr vor messbarer Verarmung; arm = weniger als 60% es Median-Nettoäquivalenzeinkommens
Datenbasis: SOEP 25, gewichtet, eigene Berechnung

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 128, Juni 2010, Seite 14-17
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2010