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DISKURS/022: Zeit zum Leben für alle Geschlechter (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015

Zeit zum Leben für alle Geschlechter

Von Eva Kocher


Leben ist Arbeit. Ohne philosophisch werden zu wollen: Arbeit verbürgt Teilhabe an der Gesellschaft, ermöglicht die Mitgestaltung gesellschaftlichen Wohlstandes und individuellen Wohlergehens. In der Arbeit erleben Menschen ihre Selbstwirksamkeit, die Arbeit prägt Identitäten und Selbstverständnisse. Und das gesellschaftliche Leben ist auf Güter und Dienstleistungen, auf produktive und reproduktive Arbeit in ganz unterschiedlichen Formen angewiesen.

Und doch scheinen Leben und Arbeit zunehmend als verschiedene Dinge wahrgenommen zu werden, wie das allseitige Basteln an der "Work-Life-Balance" belegt. Hintergrund ist die zunehmende Entgrenzung der Erwerbsarbeit, verschärft durch die Möglichkeiten der digitalen Technik. Arbeit heißt zunehmend, jederzeit flexibel und präsent zu sein und auf Anfragen und Anforderungen reagieren zu können - ohne zeitliche oder örtliche Grenzen, weltweit auf dem Weg zum Burnout. Diese Entwicklung führt nicht nur die deutsche Gesellschaft langsam aber sicher in eine "Reproduktionskrise": Menschen wird es zunehmend unmöglich, den Selbst- und Fremderwartungen gerecht zu werden und die eigene Arbeits- und Lebenskraft zu bewahren.

Verständliche Nostalgie?

In dieser Situation erinnert sich mancher gern an die Vergangenheit. Der Zeichentrickfilm über "Klaus, den Cloudworkern, mit dem die Gewerkschaft ver.di das digitale Crowdworking kritisiert, zeigt nostalgisch, wie schön es für Vati war, morgens Mutti einen Kuss zu geben, das Haus zu verlassen, von 9 bis 17 Uhr zu arbeiten, und das 40 Jahre lang. Was nicht erwähnt wird, sind die Kinder, die bei Mutti im Haus verblieben. Die Grenzen und damaligen vermeintlichen Sicherheiten in der Erwerbsarbeit beruhen auf dem familienpolitischen Leitbild des "Familienernährers", auf der Entgrenzung, Entwertung und Unsichtbarkeit der Sorgearbeit. Diese Organisation der Erwerbsarbeit kann nur funktionieren, soweit die Sorge- und Reproduktionsarbeit in unbezahlter Arbeit erledigt wird.

Die Partner/innen der Vollzeitbeschäftigten waren und sind in der großen Mehrheit Frauen, die heute noch zusätzlich zur Betreuungs- und Sorgearbeit wirtschaftlich nicht ausreichend abgesicherte Erwerbsarbeit leisten ("Zuverdienermodell" oder "modernisiertes Ernährermodell"). Dementsprechend zeigt die Verteilung des Arbeitszeitvolumens zwischen den Geschlechtern ein Gerechtigkeitsproblem auf (Gender Time Gap). In den meisten europäischen Ländern haben Frauen im Schnitt kürzere Erwerbsarbeitszeiten als Männer. Das heißt: Natürlich arbeiten Frauen im Durchschnitt sogar mehr als Männer - allerdings wird ein Drittel ihrer Arbeitszeit laut Erhebungen des Statistischen Bundesamtes nicht bezahlt.

Für die Probleme der Work-Life-Balance und die Reproduktionskrisen sind deshalb nicht nur Flexibilität und Entgrenzung und die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen verantwortlich zu machen. Die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und die gewachsenen Ansprüche von Frauen auf Gleichberechtigung und partnerschaftliche Teilhabe an allen gesellschaftlichen Gütern sind mitverantwortlich, denn sie machen den Rückzug auf die nostalgische Lösung unmöglich. Und nicht zu vergessen: Auch viele Männer haben erkannt, dass ein Wandel der Zeitregime ihnen mehr und bessere Verhaltensalternativen zur Verfügung stellen könnte. Immer weniger Väter akzeptieren es, dass ihr Kind die ersten Schritte ohne sie macht, dass sie als Ernährermaschine funktionieren müssen, oder dass sie ihre eigenen Eltern im Alter nicht begleiten können.

Die Work-Life-Balance ist deshalb vor allem eine Frage der Arbeits-und Zeitverteilung zwischen den Geschlechtern. Denn die Gesellschaft schätzt eben nur einen Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit wert - und das ganz unabhängig von den gesellschaftlichen Werten, die geschaffen oder erhalten werden. Die Sorge für andere und die Sorge für sich selbst, das ist notwendige gesellschaftliche Arbeit, die entwertet und auf weibliche Personen verlagert ist. Weil zunehmend weniger akzeptiert wird, dass mit diesen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen Abwertung, Diskriminierung, Altersarmut, Gewalt, gläserne Decken und Wände verbunden sind, entstehen Vereinbarkeitskonflikte, die in ihrer Summe "Leben" und "Arbeiten" aus dem Gleichgewicht bringen. Es fehlt an der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, von Sorge und Erwerbsarbeit, von Pflege und Beruf. Der Druck lastet verstärkt auf Menschen, die aufgrund körperlicher oder psychischer Einschränkungen ohnehin gesellschaftlich behindert werden. Der Druck lastet verstärkt auch auf Menschen, deren Einkommenssituation den Rückgriff auf das Zuverdienermodell nicht erlaubt, weil die Finanzierung ihres Haushalts auf zwei Vollzeiteinkommen angewiesen ist. Er lastet besonders auf Alleinerziehenden. Und der Druck lastet in besonderer Weise auf selbstständig Erwerbstätigen, denen kaum die minimalsten Rechte zur Begrenzung ihrer Risiken zur Verfügung stehen.

Zeitsouveränität und Familienarbeitszeit

Einige der wichtigsten Antworten auf die Herausforderungen lassen sich mit den Stichworten "lebensphasenorientierte Gestaltung der Arbeitszeit" und "Zeitsouveränität" zusammenfassen: "Neue Arbeitszeiten braucht das Land", so das Motto der letzten IG Metall-Frauenkonferenz, oder: "Von der eigenständigen Existenzsicherung zur selbstbestimmten Erwerbsbiographie von Frauen und Männern", so der Titel des Beschlusses einer DGB-Bundesfrauenkonferenz von 2013. Für den DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann braucht die Arbeit der Zukunft "mehr Verfügungsgewalt über Zeit entlang der Erwerbsbiografie - für ganz unterschiedliche individuelle Zwecke: etwa für Eigenarbeit, Care-Zeiten, politische Teilhabe oder Sabbaticals. (...) Die Entscheidung für Familie oder persönliche Entwicklung und gegen Vollzeiterwerbstätigkeit darf nicht länger bestraft werden. Unterbrechungen und Brüche im Lebensverlauf dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr zu Beschäftigten zweiter Klasse abstempeln. Wenn wir die individuelle Lebenssituation stärker berücksichtigen, werden wir auch Fürsorgetätigkeiten endlich besser anerkennen und können die klassische Trennung von Erwerbsarbeit und Familienarbeit aufweichen. Die Arbeitswelt muss sich stärker auf das Leben ausrichten."

Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sind auf den ersten Blick gar nicht schlecht: Das Arbeitsrecht kennt bereits an vielen Stellen Ansprüche auf Anpassung von Arbeitsverhältnissen. Aber diese Regeln formulieren heute immer noch vorwiegend Ausnahmen und Einzelfälle. Bei der Elternzeit gibt es beispielsweise eine "Einbahnstraße"; die Rechte, die eine Rückkehr ins Erwerbsleben ermöglichen, sind unzureichend. Jeder Beschäftigte kann zwar Teilzeit arbeiten - allerdings hat er nur in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitern Anspruch darauf. Die Verringerung der Arbeitszeit kann zudem nur für unbestimmte Zeit verlangt werden, und es fehlt ein ausreichender Anspruch auf Aufstockung. Vielen Eltern ist so der Weg zurück ins Normalarbeitsverhältnis - und damit in eine auskömmliche Rente - versperrt.

Bisher haben die bestehenden Rechtsansprüche auch nichts daran ändern können, dass eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie oft schlicht daran scheitert, dass solche Anpassungen an die Interessen von Beschäftigten im betrieblichen Ablauf nicht mitgedacht und deshalb schwer zu organisieren sind. Deshalb sind Arbeitszeiten und ihre gerechte Verteilung auch innerhalb der Belegschaften ein Konfliktthema, dessen Bearbeitung eines geeigneten rechtlichen Rahmens bedarf. Dafür muss der Blick auf unterschiedliche Arbeitszeitanliegen anders gelenkt werden. Die aktuelle Rechtslage legt es nahe, Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit "lebensphasenorientiert" oder anders anpassen möchten, in der betrieblichen Wirklichkeit als "Außenseiter*in" oder "Störfall" anzusehen.

Stattdessen brauchen wir eine gesetzliche Klarstellung im Arbeitsrecht: Die Arbeitgeber müssen verpflichtet werden, jederzeit eine Anpassung des Arbeitsverhältnisses an die Wechselfalle des individuellen Lebens ihrer Beschäftigten vornehmen zu können. Ein solcher allgemeiner arbeitsrechtlicher Anpassungsanspruch könnte das Leitbild eines für die Vielfalt des Lebens zukunftsoffenen Arbeitsverhältnisses verankern.

Der Cloudworkerin Klaudia wird das aber noch nicht helfen. Es geht nicht nur um Zeitsouveränitäten und individuelle Wünsche, sondern auch um gesellschaftliche Normen und Finanzierungsmodelle. Zeitkonflikte stehen immer in einem engen und komplexen Zusammenhang mit dem gesetzlichen, politischen, regionalen und außerbetrieblichen Umfeld. Um Zeit zum Leben für alle zu ermöglichen, bedarf es der erforderlichen Infrastrukturen für Organisation und Finanzierung von Sorge- und Reproduktionsarbeit. Dazu gehört der Ausbau einer öffentlich finanzierten Care-Ökonomie und ganztägiger Schulen genauso wie der Verzicht auf Ehegattensplitting und Minijob-Subventionierung, die Anreize gegen eine faire Aufteilung der häuslichen Sorge- und Reproduktionsarbeit setzen und Paare in "Traditionalisierungsfallen" führen. Auf dem Weg zur Umsteuerung braucht es auch eine angemessene Finanzierung für diejenigen, die betreuen und pflegen - z.B. durch eine Entgeltersatzleistung für pflegende Familienangehörige; das neu eingeführte Pflegeunterstützungsgeld ist hierfür nur der allererste Schritt. Es bedarf aber auch dringend einer Aufwertung der entsprechenden Dienstleistungsberufe und -tätigkeiten.

Als Leitbild hin zu einer partnerschaftlichen Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit kann eine "Familienarbeitszeit", also eine reduzierte Vollzeit für alle, d.h. eine Erwerbsarbeitszeit von 25-30 Stunden pro Woche dienen. Ein Leitbild, das bereits der Partnerschaftsbonus beim Elterngeld Plus verfolgt.

Zeit zum Leben für alle Geschlechter kann nur erreicht werden, wenn die Ursachen der allgemeinen Zeitnot benannt werden: Flexibilitätsanforderungen der Wirtschaft und Entgrenzung führen zum Burn-out, wenn es nicht gelingt, Reproduktionsarbeit so zu organisieren, dass Grenzen wirksam gesetzt werden können. Hierfür bedarf es neuer komplementärer Leitbilder: Das Leitbild der Zeitsouveränität erfordert die Anerkennung eines allgemeinen arbeitsrechtlichen Anpassungsanspruchs. Eine partnerschaftliche Arbeits(zeit)verteilung kann aber nur wirksam gefördert werden, wenn Zeitsouveränität von einem Leitbild der Familienarbeitszeit für alle gerahmt wird - dies muss zum Maßstab für die Finanzierung und Organisation sozialer Leistungen und öffentlicher Infrastruktur werden.


Eva Kocher ist Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung und seit 2009 Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder).
kocher@europa-uni.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015, S. 37 - 40
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2015

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