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DISKURS/016: Der vorsorgende Sozialstaat als Wachstumsmotor (spw)


spw - Ausgabe 5/2011 - Heft 186
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Der vorsorgende Sozialstaat als Wachstumsmotor

Von Michael Dauderstädt


Viele konservative und liberale Kritiker sehen im Sozialstaat ein Wachstumshemmnis. Angeblich bremst er den Leistungswillen der Menschen, führt zu einer Fehlallokation von Produktionsfaktoren und ver(sch)wendet knappe öffentliche Mittel auf nicht-investive Zwecke. Den letzten Punkt haben sich auch viele sozialdemokratisch orientierte Denker und Macher(1) zu Eigen gemacht. Im Zuge des Dritten Weges wollten sie den Wohlfahrtsstaat von einem Transferstaat zum Leistungsstaat umbauen. In der Tat erscheint angesichts öffentlicher Armut eine Struktur der Staatsausgaben mit Schwerpunkt Transferausgaben wenig effizient, wenn gleichzeitig die Mittel für Bildung, Forschung und andere mehr zukunftsorientierte Bereiche fehlen. Auch die Effektivität der Transfers konnte mit Recht angezweifelt werden. So gibt Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viel Geld für Familien aus, ohne dass die Geburtenrate signifikant stiege oder andere mögliche Ziele besonders gut erreicht würden.


Der vorliegende Aufsatz(2) vertritt dagegen zwei Thesen:

1. Auch der Transferstaat schafft Wachstum und Wohlstand.

2. Der Ausbau sozialer Dienstleistungen ist der Kern einer Strategie des "sozialen Wachstums"



Gleichheit schafft Wachstum und Wohlstand

"Ungleichheit schafft Wachstum" vermuten manche Ökonomen und Politiker. Denn ihrer Meinung nach resultieren Einkommensunterschiede aus dem unterschiedlichen Wert der Leistung. In diesen Werten spiegeln sich deren Nutzen oder die Knappheit wider. Die Unterschiede führen über Einkommensanreize dazu, dass mehr Leistung dort angeboten wird, wo sie den höchsten Nutzen hat. Diese Effizienzgewinne rechtfertigen angeblich die Ungleichheit. Gleichheit dagegen schade der Effizienz. Wer den Kuchen gleich verteilen wolle, lasse ihn schrumpfen.

Die Befürworter stützen sich meist auf die neo-klassische Ökonomie, deren Grundannahmen auf einem Gleichgewichtsmodell mit rationalen, ihren Nutzen maximierenden Akteuren beruhen, die aber auf wackeligem Boden stehen. Die experimentelle Ökonomie konnte schon länger zeigen, dass Menschen auf möglichen Nutzen verzichten, wenn sie die dabei implizierte Ungleichheit der Nutzenverteilung als ungerecht empfinden. Inzwischen liegen sogar Ergebnisse vor, die zeigen, dass die Position in einer Verteilungshierarchie die Leistung unabhängig von den tatsächlichen Fähigkeiten beeinflusst und zwar so, dass die Benachteiligten auch tatsächlich geringere Leistungen erbringen.(3) Damit sind die traditionellen Wirkungsketten auf den Kopf oder vielmehr endlich auf die Füße gestellt. Eine aktuelle Studie von Prognos im Auftrag der Landesregierung NRW(4) hat ebenfalls bestätigt, dass unterlassene soziale Prävention Staat und Gesellschaft langfristig teuer zu stehen kommen.

Auch internationale Vergleiche zeigen, dass Länder mit höherer Ungleichheit keineswegs höheres Wachstum aufweisen. Weder schneiden innerhalb der entwickelten Länder die mit gut ausgebautem Wohlfahrtsstaat schlechter ab als die mit einem eher rudimentären Sozialstaat, noch haben sich weltweit die Länder mit ungleicher Einkommensverteilung schneller entwickelt. Damit haben sich einige beliebte Theorien als fragwürdig erwiesen - so auch die Vermutung, man brauche eine ungleiche Einkommensverteilung, um eine hohe Sparquote zu erzielen, die notwendig sei, um die für ein starkes Wachstum wichtigen Investitionen zu finanzieren.

Stattdessen haben Theorien an Plausibilität gewonnen, die auf wachstumsfördernde Effekte geringer Ungleichheit hinweisen. Gleicher verteilte Einkommen stabilisieren die Nachfrage und damit die Beschäftigung. Denn ärmere Haushalte weisen eine höhere Konsumneigung auf und ihr Sparverhalten reagiert weniger auf die Schwankungen von Vermögenspreisen. Die hohe Nachfrage erlaubt Skalenerträge und regt die Investitionstätigkeit an, womit die Produktivität steigt. Relativ höhere Einkommen der Armen erlauben auch ihnen Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, womit ihre Produktivität ebenfalls zunimmt. Schließlich neigen Gesellschaften mit geringer Ungleichheit auch weniger zu sozialen Konflikten, die das Wachstum bremsen können. Eine umfangreiche statistische Analyse zum Zusammenhang von Ungleichheit und zahlreichen Wohlstandsindikatoren von Wilkinson und Pickett zeigt, dass in Gesellschaften mit mehr Gleichheit alle, selbst die Reichen, eine höhere Lebensqualität aufweisen.(5)


Auch der Transferstaat sichert Wachstum durch eine stabile Nachfrage

Der gern gescholtene Transferstaat lässt sich letztlich vom vorsorgenden Sozialstaat kaum trennen. Denn Leistungen der Sozialversicherungen, insbesondere Renten und Arbeitslosenunterstützung, sind Teil einer typischen Vorsorge gegen Lebensrisiken. Würden sie nicht staatlich organisiert, so müssten sie privat erbracht werden. In der Regel wäre eine solche private Versorgung für die Versicherten teurer, da ein erheblicher Teil der Beiträge für Werbung u.ä. aufgewandt würde und im Falle einer Kapitaldeckung hohe Risiken von volatilen Kapitalmärkten drohen. Für das Wirtschaftswachstum sind die Transfersysteme als automatische Stabilisatoren gegen konjunkturelle und demografische Einkommensschwankungen wichtig.

Denn eine stetige und starke Nachfrage der privaten Haushalte ist ein wichtiger Wachstumstreiber. Wie in Grafik 1 [siehe Printausgabe S. 27] deutlich wird, können die Haushalte ihr Einkommen (sowie vorher angehäufte Ersparnisse und aufgenommene Kredite) grundsätzlich auf drei Arten verwenden. Sie können es:

- Sparen: Vor allem einkommensstarke Haushalte geben ihr Einkommen nicht voll aus, sondern sparen es. Inwieweit ihre Ersparnisse von anderen Akteuren genutzt werden, um ihre eigene Nachfrage zu finanzieren, hängt u.a. vom reibungslosen Funktionieren des Finanzsystems und der Kapitalmärkte und von den Erwartungen dieser Akteure ab. Nur wenn sie bereit und in der Lage sind, sich zu verschulden, bleibt die Nachfrage stabil.

- Für den Konsum ausgeben: Diese Ausgaben sind unmittelbar Teil der Nachfrage und stabilisieren somit Wachstum und Beschäftigung.

- In Form von Steuern und Sozialbeiträgen abgeben: Inwieweit diese Ausgaben Wachstum und Beschäftigung fördern, hängt davon ab, was der Staat und die Sozialversicherungssysteme mit den Einnahmen machen. De facto werden sie in der Regel vollständig ausgegeben, womit sie voll zur Stabilisierung der Nachfrage beitragen. Häufig gehörte Aussagen, dass man die Nachfrage stärken könne, indem man diese Einnahmen reduziere (Senkung von Steuern und Abgaben), unterstellen, dass der Staat mehr spare als die Haushalte. Die Sozialversicherungsbeiträge sind zwar vielleicht aus der Sicht der Beitragszahler eine Art Ersparnis (ähnlich wie andere Versicherungen), aber im Rahmen von Umlageverfahren werden sie zeitnah zu Einkommen anderer Haushalte (Kanal "Transfers" in Grafik 1 [siehe Printausgabe S. 27]).

Wachstum entsteht durch produktive Kreisläufe zwischen kaufkräftiger Nachfrage und effizientem, qualitativ gutem Angebot, bei dessen Erstellung die Einkommen anfallen, die die Kaufkraft alimentieren. Wie die Kaufkraft von den Haushalten an die Produzenten und von dort wieder als Einkommen an die Haushalte kommt, ist dafür zweitrangig. Grafik 1 [siehe Printausgabe S. 27] skizziert die wesentlichen Zusammenhänge, wie die Einkommen verausgabt werden und so zur Entstehung der Einkommen führen. Bei privatem Konsum fragen die Haushalte Güter oder Dienstleistungen auf dem Markt nach. Private Unternehmen bieten sie an und geben die Wertschöpfung in Form von Löhnen und Gewinnen an die Haushalte. Beim kollektiven Konsum erhalten die Haushalte Zugang zu Gütern oder Dienstleistungen, die der Markt nicht oder nicht zu gesellschaftlich akzeptablen Bedingungen bereitstellt. Der Staat bietet sie an und erhält dafür von den Haushalten Steuern (oder Abgaben wie Sozialversicherungsbeiträge). Auch der Staat zahlt dafür Löhne und Gehälter, die als Einkommen an die Haushalte fließen, wo sie auch für die Zahlung der Steuern und Abgaben zur Verfügung stehen. Oder er kauft Inputs von privaten Unternehmen (z.B. Bauleistungen), die dann dort über Löhne und Gewinne wieder zu Haushaltseinkommen führen.

Zusätzliche Einkommen bringen in ärmeren Haushalten einen größeren Nutzen (was sich ja auch in der geringeren Sparneigung zeigt), so dass der gesellschaftliche Nutzen bei gleichmäßigerer Verteilung stärker wächst. Die ungleiche Einkommensverteilung führt in Marktwirtschaften dazu, dass der Preismechanismus nicht mehr eine Wohlstandsmaximierung garantiert. Denn er orientiert das Angebot auf eine durch die unterschiedliche Kaufkraft verzerrte Bedarfsstruktur. Die Bedarfe der reicheren Haushalte wiegen stärker als die der ärmeren. Nur bei Gleichverteilung würde das markt- und preisgesteuerte Angebot die gesellschaftliche Wohlfahrt optimieren. Das Angebot öffentlicher Güter ist dagegen in Demokratien mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht stärker auf die Wohlfahrt aller ausgerichtet.

Wie kann man diese Nachfrage nachhaltig und solide gestalten? Am besten sollten die Einkommen der ärmeren Haushalte mit dem höchsten Konsumbedarf und der niedrigsten Sparquote steigen. Dazu bieten sich mehrere Ansätze an:

- Um die Bruttoeinkommen der ärmeren Haushalte anzuheben, sollten die Lohnquote zu- und die Lohnspreizung abnehmen. Beides erfordert eine Stärkung der Gewerkschaften, flankiert durch einen gesetzlichen Mindestlohn und eine entsprechende Lohnpolitik im öffentlichen Dienst.

- Zusätzlich kann man die verfügbaren Nettoeinkommen erhöhen, indem man die niedrigen Einkommen bei Steuern und Sozialabgaben entlastet und/oder ihnen zusätzliche Transferleistungen (z.B. Wohngeld, Aufstockung des Markteinkommens) zukommen lässt. Soweit es sich dabei um Umverteilung handelt, steigt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nur insoweit, als ansonsten gespartes Einkommen in Nachfrage überführt wird.

- Um gesellschaftliche Bedarfe ohne ausreichende Kaufkraft bei den einkommensschwachen Schichten zu decken, können bestimmte Güter und Dienstleistungen preisdifferenziert (unterschiedliche Mehrwertsteuersätze, freier oder verbilligter Zugang) angeboten werden. Dieses Angebot, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Pflege, ist weiter auszubauen.


Der vorsorgende Sozialstaat deckt vom Markt vernachlässigte gesellschaftliche Bedarfe

Wenn mehr privater Konsum den Haushalten keinen großen Nutzengewinn mehr bringt, so schließt das nicht aus, dass eine Steigerung des Kollektivkonsums es trotzdem tut. Oft ist ein echter Nutzen auch nur in einer Kombination möglich, wenn etwa mehr private Autos nur Nutzen stiften, wenn die entsprechende öffentliche Infrastruktur (Straßen, Polizei, Verkehrsgerichtsbarkeit, TÜV, Unfalldienste etc.) ebenfalls angeboten wird.(6) Tatsächlich ist der Anteil des Individualkonsums an den gesamten Ausgaben der Haushalte seit Jahrzehnten zurückgegangen; er sank von 87,7 Prozent 1949 auf 60,6 Prozent 2008 (vgl. TABELLE). Signifikant ist auch der relative Rückgang in bestimmten Nachfragesegmenten (z.B. bei Nahrung und Kleidung), was sowohl auf Sättigungstendenzen wie auch auf Produktivitätsgewinne hinweist. Umgekehrt bedeutet das, dass Mehrausgaben für neue Bereiche (z.B. erneuerbare Energie, mehr Bildung, Gesundheit und Pflege) keine Wohlfahrtseinbußen darstellen müssen, wenn sie keinen gewünschten Konsum verdrängen, sondern nur die relativen Gewichte verschiedener Nachfragekomponenten verändern.


TABELLE: Entwicklung der Ausgabenstrukturen der deutschen Haushalte  

JAHR

1949

1969

1983

1988

1993

1998

2003

2008
Bruttoeinkommen

Direkte Steuern
Sozialabgaben

Nettoeinkommen

Konsumausgaben
Nahrung
Kleidung
Wohnung incl. Energie
Sonstiges

100  
  
2,3
8,6
  
89,1
  
87,7
46,1
10,1
9,0
23,0
  
100  
  
9,0
5,2
  
85,8
  
72,2
21,7
7,4
11,8
31,0
  
100  
  
12,2
7,4
  
80,4
  
63,1
15,7
5,9
12,3
29,0
  
100  
  
11,7
8,3
  
80,0
  
62,3
13,8
5,2
12,8
31,0
  
100  
  
11,4
8,7
  
79,9
  
60,3
11,9
4,3
13,9
30,0
  
100  
  
10,8
9,9
  
79,3
  
62,5
8,8
3,6
19,9
30,0
  
100  
  
10,4
10,1
  
79,6
  
61,1
8,5
3,1
19,6
30,0
  
100  
  
11,2
10,2
  
78,6
  
60,6
8,7
2,9
19,7
29,0
  

Anmerkung: Die Differenz zwischen Konsumausgaben und Nettoeinkommen umfasst
weitere Steuern und Versicherungen (z.B. Kfz), Schuldendienst und Ersparnis.
Quelle: Stat. Bundesamt: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe/eigene Berechnungen


Die Produktivitätsfortschritte bei der Leistungserstellung bestimmen stark, ob die Ausgaben für die damit gedeckten Bedarfe relativ steigen, stagnieren oder fallen. Ausgaben für Sozialversicherung, die potenziell notwendige Einkommensersatzleistungen finanzieren (z.B. Renten, Krankentagegeld, Arbeitslosengeld), wachsen im Gleichschritt mit den Einkommen, also mit dem BIP, wenn sich die Eintrittswahrscheinlichkeit nicht verändert. Nimmt sie zu (Demografie, strukturelle Arbeitslosigkeit, höherer Krankenstand), müssen diese Ausgaben überproportional zunehmen. Umgekehrt sollten Produktivitätsgewinne bei der Erbringung öffentlicher Leistungen das relative Gewicht der Steuern und Abgaben im Haushaltsbudget senken.

Mehrausgaben für Leistungen des (vorsorgenden) Sozialstaats (Bildung, Gesundheit, Pflege) haben dabei mehrfache Wirkungen:

- Bei den Leistungsempfängern erhöhen sie nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Beschäftigungsfähigkeit und die Produktivität.

- Künftige Probleme, die ihrerseits nachsorgende staatliche Aktivitäten und Ausgaben erfordern würden, werden vorbeugend reduziert.

- Die Angebotsausweitung in den entsprechenden Sektoren schafft auch mehr Beschäftigung, womit sich die Einkommenssituation und die marktgestützte Kaufkraft verbessern.

Deutschland kann sich eine solche Expansion sozialer Dienstleistungen aus mehreren Gründen leisten:

- Es gibt noch unausgeschöpfte Beschäftigungsreserven in Form von knapp 3 Millionen Arbeitslosen, umfangreicher unfreiwilliger Teilzeitarbeit und einer beträchtlichen Anzahl von Personen (vor allem Frauen), die derzeit nicht für Erwerbsarbeit zur Verfügung stehen, sondern unentgeltlich (meist im Haushalt) arbeiten.

- Die Produktivität im Dienstleistungssektor kann durch vermehrten Kapitaleinsatz und bessere Qualifikation noch erheblich wachsen, wobei sich dies nicht nur im quantitativen Wachstum, sondern vor allem in höherer Qualität ausdrückt.

- Deutschland lebt unter seinen Verhältnissen. Es produziert mehr als es konsumiert und investiert und exportiert die Überschüsse an Output und Ersparnissen. Sie könnten besser im Inland zur Wohlstandsmehrung eingesetzt werden.

Die Ausweitung des Dienstleistungssektors liefert die Hauptdynamik eines derartigen sozialen Wachstums. Neue zusätzliche Arbeitsplätze sind in Deutschland fast ausschließlich im Dienstleistungssektor entstanden. Auch in den USA sind 97,7 Prozent der 27,3 Millionen neuen Jobs zwischen 1990 und 2008 in den Sektoren entstanden, die nicht handelbare Güter und Dienstleistungen anbieten (davon 6,3 Millionen im Gesundheitssektor und 4,1 Millionen im Staatssektor).(7) Für Deutschland haben zwei FES-Studien(8) die Auswirkungen a) einer Ausdehnung der Gesundheitswirtschaft (RWI) und b) einer Ausdehnung von Pflege, Kinderbetreuung und haushaltsnahen Dienstleistungen (Prognos) makroökonomisch modelliert und abgeschätzt.

Das RWI geht von einem realen Produktivitätswachstum von 1 Prozent pro Jahr aus, wobei die Produktivität im Gesundheitssektor nur halb so schnell zunimmt, also 0,5 Prozent p.a.. Bis 2030 steigen dann der Wertschöpfungsanteil des Gesundheitssektors von 10 Prozent auf 13 Prozent und der Beschäftigungsanteil von 12 Prozent auf 16 Prozent. Entsprechend nehmen die Gesundheitsausgaben als Anteil an den Haushaltsausgaben zu, bei ärmeren Haushalten beunruhigender (von 16 Prozent auf 24 Prozent) als bei reichen (von 6 Prozent auf 10 Prozent). Auch die Beitragssätze steigen entsprechend um etwa 50 Prozent an. Aber die Ausgaben für andere Bereiche werden deswegen nicht absolut schrumpfen und die Wohlfahrt nimmt ebenfalls zu.

Prognos hat berechnet, dass durch die oben erwähnte Expansion sozialer und privater Dienstleistungen ein zusätzliches BIP von ca. 22 Mrd. Euro (also knapp 1 Prozent des heutigen BIP) entstünde, das zu etwa zwei Dritteln über den Staat (davon jeweils etwa die Hälfte Steuern und Sozialbeiträge) und zu einem Drittel über den Markt liefe. Die Haushalte finanzieren also ihre eigenen zusätzlichen (Lohn-)Einkommen zu einem Drittel über erhöhten Individualkonsum, zu zwei Dritteln als Kollektivkonsum.


Soziales Wachstum durch produktive Kreisläufe

So entstehen produktive Kreisläufe, bei denen Menschen gute Arbeit finden, um das zu produzieren, was ihren Wohlstand erhöht. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wird die eigene Arbeit natürlich nur zum kleinen Teil den eigenen Wohlstand erhöhen, zum großen Teil den anderer. Mit den entstehenden Einkommen können alle Marktteilnehmer die Güter und Dienstleistungen erwerben, die sie benötigen oder wünschen. Die Politik muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass diese Kreisläufe in Gang kommen und bleiben. Die Märkte spielen dabei eine wichtige Rolle, um die Strukturanpassung an wechselnde Bedürfnisse und Produktionsmöglichkeiten vorzunehmen. Aber die Politik muss dafür sorgen, dass auch die Bedürfnisse der einkommensschwachen Gruppen menschenwürdig gedeckt werden und die Produktionsmöglichkeiten nicht mehr soziale Kosten als Nutzen aufweisen.

Die Produktivität im Dienstleistungssektor kann steigen und zum Wachstum und Fortschritt in der Gesellschaft beitragen.(9) Diese Entwicklung kann und sollte sich auf mehrere Komponenten stützen:

- Die Qualität und Effizienz der Dienstleistungen sollte real gesteigert werden, indem die dort arbeitenden Menschen besser qualifiziert und professionalisiert werden und ihre Arbeit mit einem höheren Kapitalstock produktiver verrichten können. Dieser Kapitalstock kann und muss auch aus immateriellem Kapital bestehen.(10)

- Die gesellschaftliche Wertschätzung von Dienstleistungen sollte auf breiter Front zunehmen - über die akademischen Professionen (Ärzte und Ärztinnen, Anwälte und Anwältinnen, Unternehmensberater und Unternehmensberaterinnen, Banker und Bankerinnen, etc.) hinaus. Diese Wertschätzung sollte sich in menschenwürdigen Löhnen ausdrücken, die auch die monetäre Produktivität erhöhen.

- Die kaufkräftige Nachfrage nach Dienstleistungen muss teilweise als staatlich vermittelter Kollektivkonsum erfolgen, wenn der Zugang auch einkommensschwachen Schichten ermöglicht werden soll. Das schließt eine private Angebotserstellung unter Wettbewerbsbedingungen nicht aus (wie z.B. in Teilen des Gesundheitssektors oder traditionell im Infrastrukturausbau).

- Insbesondere der Wechsel von Frauen aus der Hausarbeit (vor allem Pflege) in Erwerbsarbeit bei gleichzeitigem Ausbau des öffentlichen Angebots an Pflegeleistungen für Kinder, Alte und andere Pflegebedürftige stellt einen wichtigen Wachstumsbeitrag dar.

Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten die öffentliche Beschäftigung reduziert. Im Gegensatz zu Skandinavien ist das Angebot an Dienstleistungen in den Bereichen Pflege und Bildung schwach.(11) Ein Ausbau des vorsorgenden Sozialstaats nach nordischem Vorbild würde einen starken binnenmarktorientierten Wachstumsprozess auslösen, der auch aus außenwirtschaftlichen und europapolitischen Gründen dringend angezeigt ist. Dieser Ausbau des öffentlichen Sektors ist nicht mit einer wachsenden Staatsverschuldung verbunden. Wie in Skandinavien ist soziales Wachstum solide aus Steuern und/oder Abgaben zu finanzieren. Der Wachstumsimpuls verringert dann auch die Staatsschulden oder wenigstens die primär bedeutsame Schuldenstandsquote.

Dr. Michael Dauderstädt ist Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung.



ANMERKUNGEN

(1) Die bekanntesten Vertreter waren unter den Denkern Blair-Berater Antony Giddens, in Deutschland Wolfgang Streeck und politisch Tony Blair bzw. Gerhard Schröder. Die Lissabon-Strategie der EU ging ebenfalls in diese Richtung.

(2) Dieser Aufsatz greift teilweise auf frühere Publikationen des Autors zurück:
"Wachstumsbremse Ungleichheit" (http://library.fes.de/pdf-files/ wiso/05578.pdf);
"Soziales Wachstum gegen die Schuldenkrise" (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07418.pdf);
"Der Fortschritt ist bezahlbar (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08167.pdf).

(3) Vgl.: "From he that hath not. Cognitive disenhancement" in: The Economist Vol. 38, 2008, S.94f.

(4) Prognos (2011) Soziale Prävention. Bilanzierung der sozialen Folgekosten in Nordrhein-Westfalen
(http://www.prognos.com/fileadmin/pdf/aktuelles/2011_03_24_Gutachten_Soziale_Praevention.pdf; Zugriff am 27.9.11)

(5) Vgl. Pickett/Wilkinson (2009): The Spirit Level. Why Equality is better for Everyone, London

(6) Zum Wechselspiel und Zusammenhang von privatem und öffentlichem Konsum vgl. Hirschmann, Albert (1982): Shifting Involvements. Private Interest and Public Action, Princeton

(7) Vgl. Spence,Michael und Sandile Hlatshwayo (2011): The Evolving Structure of the American Economy and the Employment Challenge, Council on Foreign Relations Working Paper, March; S.4

(8) Beide Studien werden demnächst abgeschlossen und sind dann auf www.fes.de zu finden.

(9) Vgl. dazu Michael Dauderstädt "Produktivität im Dienstleistungssektor: Eine Grenze des Wachstums?" (erscheint voraussichtlich demnächst in Wirtschaftsdienst 2011/12).

(10) Vgl. Bormann, René et al. (2009): Wohlstand durch Produktivität. Deutschland im internationalen Vergleich, Bonn

(11) Vgl. Heintze, Cornelia (2010): In jeder Krise liegen Chancen: Sparpolitik contra Politik des binnenökonomisch aktiven Staates, Bonn
(http://library.fes.de/pdf-files/do/08079.pdf; Zugriff am 28.9.2011)


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2011, Heft 186, Seite 25-31
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2011