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DISKURS/007: Hartz IV oder Menschenwürde (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2010

Hartz IV oder Menschenwürde

Von Martin Staiger


Das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts über Hartz IV kam zur richtigen Zeit - mitten in einem erneut anschwellenden Bocksgesang über die angeblich zu hohen Hartz-IV-Leistungen. Erst kurz zuvor hatte Roland Koch - der seine Bezüge aus Steuergeldern eigentlich dafür erhält, das Wohl der seiner Regierung anvertrauten Menschen zu mehren, anstatt eine große Zahl von ihnen zu diffamieren - hart ausgeholt. Er hatte gefordert, dass jedem Hartz-IV-Empfänger als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung zugemutet werden könne, eine - sprich: jede - Beschäftigung anzunehmen. Niemand dürfe, so Koch, das Leben mit Hartz IV "als angenehme Variante" ansehen.

Binnen weniger Tage schlossen sich ihm die üblichen Verdächtigen an, vorneweg die "Bild", die mit Schlagzeilen wie "Macht Hartz IV faul?" oder "So wird bei Hartz IV abgezockt" die Lufthoheit über die Kioske eroberte. Auch die Arbeitgebervertreter warfen ihre ollen Kamellen auf den Meinungsmarkt und behaupteten wieder einmal, Hartz IV sei so hoch, dass sich Arbeit nicht lohne. Diesen Bekundungen, deren Lautstärke sich umgekehrt proportional zur Sachkenntnis des Sozialgesetzbuches II, des Bundeskindergeld- und des Wohngeldgesetzes verhält, hat das Bundesverfassungsgericht nun am 9. Februar ein wegweisendes Urteil entgegengestellt.


"Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum"

Das Gericht hat nicht, wie ursprünglich vermutet wurde, nur über den Hartz-IV-Satz für Kinder, sondern auch über den für Erwachsene geurteilt. Zwar legten die Richter keine konkreten Beträge fest. Sie haben jedoch aus der Verfassung ein "Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" hergeleitet und damit den beiden letzten Bundesregierungen sowie der jetzigen ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Denn Rot-Grün, Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb haben nichts getan, um diesem sich aus den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes ergebenden Grundrecht Geltung zu verschaffen. Alle drei Regierungen erweckten eher den Eindruck, es gäbe ein Grundrecht auf kontinuierlich sinkende Steuern, als eines auf menschenwürdige Existenz.

Das Bundesverfassungsgericht hat nicht direkt gesagt, dass Hartz IV zu niedrig ist. Es hat sogar in etwas umständlicher Sprache darauf hingewiesen, es sei "nicht festzustellen", dass der Hartz-IV-Satz für Erwachsene "zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums evident unzureichend ist." Schon jetzt ist absehbar, dass dieser Satz in den kommenden Monaten in den Talkshows von den Chefredakteuren der sogenannten Leitmedien, den Vertretern des Arbeitgeberlagers, ihren Sprachrohren aus der Politik und vielen anderen, die das, was ein Hartz-IV-Empfänger im Monat erhält, innerhalb weniger Tage oder Stunden bekommen, zitiert werden wird.

Bereits unmittelbar nach Verkündigung des Urteils haben Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"das Urteil so interpretiert, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Höhe des Hartz-IV-Satzes kritisiert habe, der folglich auch nicht erhöht werden müsse. Und Guido Westerwelle beschwor die Gefahr, dass die Bundesrepublik im Falle einer Erhöhung der Leistungen zum Opfer "spätrömischer Dekadenz" werden würde. Wer so argumentiert, hat allerdings entweder das Urteil nicht gelesen, oder es fehlt ihm der Respekt vor dem höchsten deutschen Gericht.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar ausdrücklich das gesetzlich festgelegte Statistikmodell für verfassungsgemäß erachtet. Es hat auch keine Bedenken dagegen angemeldet, als Maßstab für den Hartz-IV-Satz das Ausgabeverhalten der untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher (ohne Personen, die ihren Lebensunterhalt ganz oder überwiegend aus Hartz IV oder der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bestreiten) heranzuziehen. Das Gericht hat auch gebilligt, als Datengrundlage die alle fünf Jahre durchgeführte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe heranzuziehen. Die Interpretation der Daten, die im Jahr 2006 wie durch ein Wunder zu einer Bestätigung des zwei Jahre zuvor auf 345 Euro pro Monat festgesetzten Regelsatzes führten, haben die Verfassungsrichter jedoch mehr als deutlich gerügt: "Die Regelleistung von 345 Euro [...] ist nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt worden, weil von den Strukturprinzipien des Statistikmodells, das der Gesetzgeber selbst gewählt und zur Grundlage seiner Bemessung des notwendigen Existenzminimums gemacht hat, ohne sachliche Rechtfertigung abgewichen worden ist."

So sieht die Regelsatzverordnung zum Beispiel vor, dass Hartz-IV-Empfänger 15 Prozent weniger für Strom ausgeben dürfen als die untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher - obwohl ein Hartz-IV-Empfänger in der Regel öfter zu Hause ist als ein Berufstätiger und dadurch mehr Geld für Strom benötigen dürfte. Auch dass Hartz-IV-Empfängern lediglich 26 Prozent dessen zugebilligt wird, was jene untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher für ihre Mobilität ausgeben, ist nicht nachvollziehbar und wurde vom Bundesverfassungsgericht deutlich gerügt. Der ganze Bereich der Bildung und die Position "Außerschulischer Unterricht in Sport und musischen Fächern" wurde im Hartz-IV-Satz gleich gar nicht berücksichtigt. Hierzu bemerkt das Gericht: "Die Nichtberücksichtigung einer gesamten Abteilung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe weicht [...] in einer Weise vom Statistikmodell ab, die einer besonderen Begründung bedurft hätte."

Wenn man bedenkt, dass Juristen eigentlich eher zu sprachlicher Zurückhaltung neigen, ist die Schelte an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Das Bundesverfassungsgericht spricht von "Schätzungen 'ins Blaue hinein'" und verwendet Begriffe wie "nicht nachvollziehbar" und "nicht empirisch belegt". Die Beamten, die den Regelsatz verfassungswidrig zusammengezimmert haben, und alle, die ihn verteidigt haben oder gar absenken wollten, sollten sich schämen.

Das tun sie aber nicht. Im Gegenteil: Die Stunde der Sophisten ist bereits gekommen. Sie lesen aus dem Urteil das heraus, was sie gerne herauslesen wollen. Wenn das Bundesverfassungsgericht sagt, dass eine Abweichung vom Statistikmodell "einer besonderen Begründung" bedarf, muss man eben nur entsprechende Begründungen finden, und schon lässt sich der Regelsatz bestätigen - oder sogar kürzen.

Die Wohlfahrts- und die Sozialverbände, die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen und nicht zuletzt die Presse sollten äußerst wachsam sein, was da in den nächsten Monaten alles an Begründungen in die Welt gesetzt werden wird, um eine Erhöhung des Regelsatzes zu blockieren. Sie sollten sehr genau hinschauen, wer in Sonntagsreden "lebenslanges Lernen" propagiert und dann den Bereich der Bildung für nicht regelsatzrelevant erklärt. Und sie sollten auf die Umsetzung der richterlichen Vorgabe achten, dass "der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums [...] auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst." Wenn im Herbst die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 vorliegen, sollten sie kontrollieren, ob bei der Bestimmung der Ausgaben der untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher auch tatsächlich die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts beachtet wird, dass die Haushalte, deren Nettoeinkommen unter Hartz IV liegen und die aus welchem Grund auch immer keine aufstockenden Sozialleistungen in Anspruch nehmen, unberücksichtigt bleiben.


Falsche Bedarfsermittlung

Hat das Bundesverfassungsgericht das Zustandekommen der Regelsätze für Erwachsene schon ausdrücklich gerügt, wird es bei den Kinderregelsätzen noch deutlicher. Da kein eigener Kinderbedarf ermittelt wurde, sondern Kindern und Jugendlichen ohne jede Begründung je nach Alter nur 60 bis 80 Prozent des Erwachsenenregelsatzes zugebilligt wurden, schrieb das Gericht einen Satz in das Urteil hinein, der in seiner lakonischen Kürze die ganze Ignoranz entlarvt, mit der das Existenzminimum von Kindern taxiert wurde: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen." Dass einem Kind unter 14 Jahren 40 Prozent weniger zugebilligt wurde als einem Alleinstehenden, "beruht auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung." Diese Schelte können sich gleich mehrere Generationen von Sozialpolitikern teilen, schließlich galten schon im Bundessozialhilfegesetz, das 2005 von Hartz IV abgelöst wurde, Kinder als kleine Erwachsene.

Der Gesetzgeber wird den Bedarf für Kinder und Jugendliche genauso sorgfältig und genauso schnell - nämlich bis zum 31. Dezember 2010 - ermitteln müssen wie den für Erwachsene. Das Bundesverfassungsgericht hat an diese Bedarfsermittlung sehr konkrete Erwartungen: "Ein zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existenziellen Bedarf. Ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, weil sie ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen können."

Das Gericht hat jedoch nicht nur das Zustandekommen, sondern auch die Fortschreibung der Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Bisher wurden die Hartz-IV-Leistungen an die Entwicklung des Rentenwertesangepasst - und dieser hinkte in den letzten fünf Jahren dank der "Rentenreformen" (mit einer Ausnahme) deutlich hinter der Inflationsrate her. Auf Bedenken stieß zudem, dass das Arbeitslosengeld II kaum Ausnahmeregelungen für Sonderbelastungen zulässt, etwa wenn Hartz-IV-Empfänger wegen chronischer Erkrankungen dauerhaft teure Medikamente kaufen müssen.

Das Urteil ist nicht nur eine schallende Ohrfeige für die selbst ernannten Meinungsführer, die aus ihren warmen Firmensitzen, ihren Abgeordnetenbüros und Redaktionsstuben Hartz-IV-Empfänger seit Jahren in Bausch und Bogen diffamieren und ihnen mit Hilfe nicht-existenzsichernder Regelsätze Feuer unterm angeblich so trägen Hintern machen wollen. Es ist auch eine Ohrfeige für die Führung der Bundesagentur für Arbeit und ihre bis in die Jobcenter vor Ort hineintransportierte Ideologie, die sich beispielsweise bei einem Auftritt ihres Vorstandsmitglieds Heinrich Alt in der Talkshow "Menschen bei Maischberger" am 3. Februar 2009 zeigte. Alt hatte erklärt, Hartz IV solle ja gar nicht zum Leben reichen, sondern ein Anreiz dafür sein, einen Weg zurück ins Arbeitsleben zu finden. Herr Alt und seine Kollegen werden jetzt den Stil in ihrem Hause sehr schnell ändern müssen. Denn wohl mit Bedacht hat das Bundesverfassungsgericht auf das "Lohnabstandsgebot" in der Urteilsbegründung verzichtet.

Dass es überhaupt zu diesem Urteil kam, ist drei mutigen Familien zu verdanken, die sich von der seit Jahren anhaltenden Hartz-IV-Hetze nicht davon abhalten ließen, durch mehrere Instanzen die Regelsätze überprüfen zu lassen. Sie haben sich nicht abschrecken lassen von den Diffamierungen einer sich zu Meinungsführern erklärenden Geldoberschicht und ihren viel zu oft zu Diensten gewesenen sogenannten Leitmedien. Sie haben an die Prinzipien des Grundgesetzes geglaubt und sich damit für den Rechtsstaat viel verdienter gemacht als all diejenigen, die jetzt öffentlichkeitswirksam Tränen darüber vergießen, dass das höchste deutsche Gericht die Würde des Menschen und nicht das Bankkonto des Steuerzahlers in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellt hat.

Das Urteil setzt auch Maßstäbe für die politische Kultur. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Diffamieren von auf sozialstaatliche Leistungen angewiesenen Menschen eine Grenze aufgezeigt. Und es hat als Begründung nichts weniger als das kostbarste Grundrecht, die Würde des Menschen, ins Feld geführt. Deswegen gebührt ihm und den Klägern, die diese Entscheidung erst möglich gemacht haben, allerhöchster Respekt.


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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2010, S. 9-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2010