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ARBEIT/470: Haiti - Gewerkschaftern drohen Kündigungen, Garantien für Textilarbeiter gefordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 31. Oktober 2011

Haiti: Gewerkschaftern drohen Kündigungen - Garantien für Textilarbeiter gefordert

von Ansel Herz

Demonstration von Gewerkschaftsanhängern - Bild: © Ansel Herz/IPS

Demonstration von Gewerkschaftsanhängern
Bild: © Ansel Herz/IPS

Port-au-Prince, 31. Oktober (IPS) - Arbeiter in der haitianischen Textilbranche werfen Fabrikbesitzern in der Hauptstadt Port-au-Prince vor, die Gründung von Gewerkschaften zu unterdrücken. Sechs der sieben führenden Mitglieder von 'Sendika Ouvrije Takstil ak Abiman' (SOTA), einer 2006 vom Gewerkschaftsverband 'Batay Ouvrije' ins Leben gerufenen Textilarbeitervereinigung, wurden binnen weniger Wochen entlassen.

Judeline Pierre, die im Sonapi-Industriepark nahe dem Flughafen der Hauptstadt arbeitet, hatte monatelang heimlich an den von Batay Ouvrije organisierten Treffen teilgenommen. Aus ihrer Tasche zieht die 44-Jährige einen zerknitterten Flyer, auf dem bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken gefordert werden. "Sobald man anfängt, seine Rechte zu verteidigen, wird man gefeuert", kritisiert sie. Etliche Kollegen hätten schon diese Erfahrung gemacht.

In den Textilfabriken in Port-au-Prince sind etwa 29.000 Menschen beschäftigt. Diejenigen, die in dem Karibikstaat noch einen Job haben, sind deutlich in der Minderheit. Laut Statistiken der US-Botschaft beträgt die Arbeitslosenrate in dem Land mit rund neun Millionen Einwohnern schätzungsweise 80 Prozent. Der Mindestlohn liegt bei umgerechnet fünf US-Dollar am Tag. Arbeiter, die mehr als die vorgeschriebene Menge produzieren, verdienen allerdings mehr.

Arbeiter in einer Textilfabrik in Port-au-Prince - Bild: © Ansel Herz/IPS

Arbeiter in einer Textilfabrik in Port-au-Prince
Bild: © Ansel Herz/IPS

Mehrere Vertragsunternehmen verwalten die Fertigungsbetriebe, die ihre Produkte zollfrei an Bekleidungsfirmen wie 'Hanes' und 'The Gap' in die USA liefern. Beide Länder haben ein unter dem Kürzel HOPE bekanntes Abkommen geschlossen, das den bilateralen Handel zu Vorzugskonditionen ermöglicht.


Unternehmer weisen Vorwürfe zurück

Der Fabrikbesitzer Charles Baker, der einen der Gewerkschafter entließ, und George Sassine, der einen Industriellenverband leitet und zudem Exekutivdirektor von HOPE ist, erklärten im IPS-Gespräch, dass die jüngsten Kündigungen gerechtfertigt gewesen seien. "Diese Vorfälle haben nichts damit zu tun, dass Beschäftigte eine Gewerkschaft gründen wollen", so Sassine. "Auf einmal ist die gesamte Staatengemeinschaft hinter mir her und behauptet, ich wolle verhindern, dass sich Arbeiter zusammenschließen." Der Unternehmer beschuldigte Batay Ouvrije, auf eine Schließung der Fabriken hinzuarbeiten.

"Wenn sie Gewerkschaften haben wollen, soll es so sein. Sie müssen es aber richtig machen", meint Baker, in dessen Industrieanlage 1.640 Leute beschäftigt sind. Er habe einen Mann gefeuert, weil dieser während der Arbeitszeit Flugblätter verteilt und damit die Produktion aufgehalten habe.

Zwischen den Arbeitern und den Unternehmern vermittelt die Gruppe 'Better Work Haiti', die vom US-Arbeitsministerium finanziell unterstützt wird. Das neunköpfige Team überwacht die Arbeitsbedingungen in Haiti und wird im November einen Bericht über die Entlassungen der SOTA-Aktivisten veröffentlichen.

Erst kürzlich hatte 'Better Work Haiti' den dritten Zweijahresbericht vorgelegt, in dem untersucht wurde, inwieweit die Regeln der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in dem Karibikstaat eingehalten werden. Darin wird kritisiert, dass in mehr als 80 Prozent der Fabriken Gesundheits- und Sicherheitsstandards missachtet werden. In etlichen Betrieben würden Mindestlöhne nicht gezahlt.

In den Kernbereichen jedoch würden Arbeitsstandards weitgehend eingehalten, betonte der Leiter von 'Better Work Haiti', Richard Lavallée. "In den vergangenen zwei Jahren konnten wir beobachten, wie die Unternehmen zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Arbeitsrechte beitrugen." Was den Widerstand gegen Gewerkschaftsgründungen angeht, machte die Organisation zwei Fälle aus. Bei dem einen waren im vergangenen Mai nach einem zwölftägigen Streik 140 Arbeiter entlassen worden.

Lavallée wies darauf hin, dass sein Team anhand der Personalakten nicht überprüfen kann, wann einem Arbeiter wegen der Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft gekündigt werde. Better Work Haiti könne allein deshalb die Zusammenhänge nicht klären, weil es kaum Gewerkschaften gebe.

Die Expansion der Textilindustrie wurde lange Zeit als einer der Eckpfeiler beim Wiederaufbau des Landes gepriesen. Ein Sprecher der US-Botschaft erklärte gegenüber IPS, die Branche habe das Potenzial, in den nächsten vier Jahren um mehr als das Doppelte zu wachsen.


Koreanischer Investor will 20.000 Arbeitsplätze einrichten

Nach offiziellen Angaben will der koreanische Textilriese Sae-A etwa 20.000 neue Stellen schaffen. Mit der haitianischen Regierung vereinbarte das Unternehmen im vergangenen Jahr den Bau eines Industrieparks im Norden des Landes. Das Projekt wird unter anderem mit 50 Millionen Dollar von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) und 120 Millionen Dollar von der US-Regierung finanziert.

Die Zulassung von Gewerkschaften sei keine Bedingung, bedauerte die kanadische Politologin Yasmine Shamsie, die sich eingehend mit dem haitianischen Textilsektor beschäftigt hat. In ihrem 2010 veröffentlichten Bericht für das 'Conflict Prevention and Peace Forum' forderte sie die Genehmigung von Gewerkschaften und Sozialprogramme für die Beschäftigten.

Eine im vergangenen März von dem US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass die Löhne für Textilarbeiter in Haiti um das Neunfache erhöht werden müssten, um zu gewährleisten, dass die Beschäftigten ihre Lebenshaltungskosten bestreiten können. Doch dem Unternehmer Sassine zufolge würde eine Erhöhung der Mindestlöhne Entlassungen und Werksschließungen nach sich ziehen. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.betterwork.org/EN/countries/Pages/Haiti.aspx
http://www.aflcio.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105631

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2011