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INTERVIEW/457: Rojava - wir fordern nur Demokratie ...    Yavuz Fersoglu im Gespräch (SB)


Gespräch am 12. Oktober 2019 in Hamburg


Yavuz Fersoglu wurde in Nordkurdistan geboren und hat in der Türkei für die linke Tageszeitung Özgür ündem sowie im Menschenrechtsverein IHD gearbeitet. 1992 beantragte er politisches Asyl in Deutschland und setzte seine publizistische Arbeit fort. Zunächst in Stuttgart, dann in Hamburg engagierte er sich in verschiedenen Initiativen wie zum Beispiel dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg sowie in türkisch-kurdischen Vereinen. Sein Studium an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP) schloß er im Dezember 2003 als Diplom-Jurist im Arbeits- und Wirtschaftsrecht zur EU-Gesetzgebung ab. Im Mai 2000 trat er der PDS bei, von April 2002 an war er vier Jahre lang Landessprecher der PDS bzw. PDS.die Linke. Die Schwerpunkte seiner politischen Arbeit im Landesverband der Partei Die Linke in Hamburg liegen in der Friedens-, Migrations- und Sozialpolitik.

Als Bundessprecher des "Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland" (NAV-DEM) gehörte er zu den OrganisatorInnen der Demonstration gegen den türkischen Angriff auf Rojava am 12. Oktober in Hamburg, bei der rund 6000 Menschen ihren Widerstand gegen das Erdogan-Regime und den Protest gegen die Kollaboration der EU wie auch der Bundesregierung auf der Straße zum Ausdruck brachten. [1] Am Rande der Demonstration beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Yavuz Fersoglu
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Teile der deutschen Linken behaupten, daß die Kurdinnen und Kurden sowohl den syrischen Staat spalten als auch im Dienst des US-Imperialismus stehen, was beides abzulehnen sei. Was kann man dem entgegenhalten?

Yavuz Fersoglu (YF): Man kann dem entgegenhalten, daß die Kurdinnen und Kurden auf ihrem Territorium leben und daß das Völkerrecht ein Selbstbestimmungsrecht der Völker vorsieht. Jedes Volk hat das Recht, auch einen separaten Staat zu gründen, unabhängig davon, ob die KurdInnen das wollen oder nicht. Es ist aber so, daß die KurdInnen gar keinen eigenen Staat fordern, sondern für eine demokratische Entwicklung in der Region kämpfen. Auch für Syrien streben sie ein demokratisches System an, nicht aber einen separaten Staat für sich. Insofern ist der Vorwurf unsinnig, sie wollten Syrien spalten. Die KurdInnen in Syrien haben immer erklärt, daß sie in einem demokratischen Syrien gewisse Rechte haben möchten. Es geht ihnen nicht um Separatismus im Sinne einer eigenen Staatsgründung, sondern um ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Land. Das ist heute jedoch nicht möglich, weil die USA als Despot, der dort seit Jahrzehnten die Völker und Menschen unterdrückt, keine Lösung gefunden haben. Sie haben immer wieder versucht, mit dem Regime Verhandlungen zu führen, aber ein demokratisches Syrien ist mit diesem Regime nicht möglich, unabhängig davon, was sich gerade im Land abspielt. In diesem Konflikt haben viele Staaten ihre Finger im Spiel.

Was die USA angeht, kontrollieren die KurdInnen zwar ein Drittel des syrischen Territoriums, doch sind sie darauf angewiesen, mit verschiedenen internationalen Kräften Gespräche zu führen oder gegebenenfalls Zweckbündnisse einzugehen. Sie haben mit den USA paktiert, weil es das erklärte Ziel des sogenannten Islamischen Staats war, die autonomen Gebiete in Syrien seiner Schreckensherrschaft zu unterwerfen. Unter diesen Voraussetzungen halte ich es für berechtigt, daß die KurdInnen dort mit den USA oder teilweise auch mit Rußland paktiert haben, weil ihr Kampf ohne die Unterstützung dieser Staaten schwieriger gewesen wäre. Aber die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und auch die KurdInnen haben immer wieder erklärt, daß sie gegen jede Einmischung von außen sind. Wir fordern nach wie vor, daß sich alle internationalen Kräfte aus Syrien zurückziehen müssen, damit dort eine friedliche Lösung möglich wird. Das fordern wir auch heute, denn daß die Situation in Syrien so ist, wie sie sich gegenwärtig darstellt, haben wir den internationalen und regionalen Kräften zu verdanken, die dort Krieg führen und jeweils ihre eigene Bande von der Kette lassen. Das muß aufhören! Wir haben in Afrin mit Rußland zusammengearbeitet, wir haben dort auch versucht, mit dem Assad-Regime zusammenzuarbeiten, aber beide haben Geschäfte mit der Türkei gemacht, und dieser Pakt mit der türkischen Regierung war ihnen wichtiger als die Völker in Nordsyrien. Insofern ist der Vorwurf, die KurdInnen dienten den Interessen der USA, eine an den Haaren herbeigezogene Begründung, die man nicht ernst nehmen kann.

SB: Erdogan hat die Bundesregierung mit der Flüchtlingsfrage unter Druck gesetzt. Zugleich plant er jetzt aber eine Vertreibung der kurdischen Bevölkerung in Nordsyrien, die auf eine ethnische Säuberung hinausläuft. Wie müßte die deutsche Regierung in dieser Frage reagieren?

YF: Die Bundesregierung macht sich abhängig von einem Despoten, der Menschenrechte, Demokratie und Völkerrechte als Druckmittel einsetzt, wie es ihm paßt und seiner Macht dient. Meines Erachtens müßte die Bundesregierung den Flüchtlingspakt mit dem Erdogan-Regime sofort aufkündigen und die Waffenlieferungen einstellen. Medienberichten zufolge hat sie heute zumindest künftige Waffengeschäfte mit der Türkei eingeschränkt. Das ist zu begrüßen, reicht aber bei weitem nicht aus. Deutschland ist seit hundert Jahren der Waffenbruder des türkischen Regimes. Innerhalb der NATO hat sie in den letzten 50 Jahren das türkische Militär ausgerüstet und ausgebildet. Der türkische Geheimdienst MIT wurde vom BND mit aufgebaut und ausgebildet. Die Verstrickung der Bundesregierung mit dem türkischen Regime reicht also viel tiefer als bloße Waffenlieferungen. Das deutsche Unternehmen Rheinmetall produziert inzwischen in der Türkei. Selbst wenn keine Waffen aus Deutschland mehr kämen, könnte sich das Erdogan-Regime noch lange an der Macht halten. Es muß auch politisch und wirtschaftlich Druck ausgeübt werden. Wenn es die Bundesregierung ernst meint mit Menschenrechten, Demokratie und Völkerrecht, muß sie ihre Kooperation mit dem Erdogan-Regime sofort beenden.

SB: In der Türkei selbst ist es Erdogan derzeit gelungen, mit seinem Krieg gegen die KurdInnen in Nordsyrien alle Oppositionsparteien bis auf die HDP wieder hinter sich zu bringen. Wie ist diese Entwicklung an der Heimatfront zu bewerten?

YF: In der Türkei sitzen fast 300.000 Menschen im Gefängnis, die Opposition sieht sich schwerster Repression ausgesetzt. Die gesamte HDP-Führung sitzt hinter Gittern, mehr als 10.000 ihrer Vorsitzenden, Funktionäre und Abgeordneten sind im Gefängnis. Doch daß Erdogan erhebliche Teile der Opposition wieder hinter sich gebracht hat, zeigt die ideologische Verfassung des türkischen Staates, der auf eine Rasse, ein Volk, eine Fahne baut, Deswegen ist es höchste Zeit, diese Ideologie zu durchbrechen. Keine Partei kann sich in der Türkei etablieren, die nicht das Prinzip "eine Fahne, ein Volk, ein Land" verteidigt. Das ist in der Türkei nicht nur eine Frage der Parteien, sondern eine Frage des Systems. Keine Partei wird in dem System überleben, die das System in Frage stellt. Und das türkische System ist auf die Vernichtung der Armenier, Verleugnung der Kurden, Leugnung und Zerstörung anderer Minderheiten aufgebaut. Es handelt sich um eine künstliche Nation, die auf diese Weise entstanden ist, die um jeden Preis mit Krieg nach innen und außen aufrechterhalten wird, und alle Parteien einigen sich anhand dieser Ideologie. Deswegen muß diese Ideologie, diese Staatsideologie in der Türkei offen zur Diskussion gestellt werden.

SB: Gibt es gegenwärtig Bündnispartner unter den Nationalstaaten für die kurdische Bewegung?

YF: Die kurdische Bewegung hat nie auf Nationalstaaten gesetzt. Sie vertritt die Theorie einer Graswurzeldemokratie, sie baut auf Menschen und emanzipatorische Bewegungen weltweit. Insofern würde ich diese Frage kurz und bündig mit Nein beantworten.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


[1] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0351.html


Bericht und Interviews zur Rojava-Demonstration in Hamburg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/351: Rojava - gegen das Bündnis des Schweigens ... (SB)
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17. Oktober 2019


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