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INTERVIEW/419: Nicaragua - Pest wie Cholera ...    Jürgen Steidinger im Gespräch (SB)



Gespräch am 5. September 2018 in Hamburg

Der Kinderarzt Jürgen Steidinger gehörte zu den Referenten beim Jour Fixe 167 der Hamburger Gewerkschaftslinken [1], der am 5. September zum Thema "Der Aufstand in Nicaragua: Kann sein, was nicht sein darf?" im Curio-Haus stattfand [2]. Auf Grundlage seines langjährigen Engagements in León und an der Atlantikküste begründete Steidinger dabei seine Überzeugung, daß sich der einstige Revolutionsheld Ortega in einen neoliberalen Autokraten verwandelt hat, der die aktuelle Protestbewegung mit repressiven Mitteln bekämpft.

Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Geschichte seines Engagements, zum Stand der Solidarität in Hamburg, zur Einschätzung Ortegas und zur aktuellen Situation in Nicaragua.


Sitzend beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Jürgen Steidinger
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Was hat dich damals zu deinem Engagement in der Solidarität mit Nicaragua bewogen und dazu geführt, daß du lange Jahre im Land gelebt und gearbeitet hast?

Jürgen Steidinger (JS): Ausschlaggebend war, daß ich hier in Hamburg einen Kollegen aus Nicaragua kennengelernt habe, der zur Zeit der Blockade auf Tour war, um in Europa um Unterstützung für sein Kinderkrankenhaus in Managua zu werben. Er war Kinderarzt und außerdem ein in Nicaragua recht bekannter Dichter. Wir von der ÖTV haben eine Veranstaltung mit ihm gemacht, auf der er sehr eindrucksvoll über die Entwicklung in seinem Land berichtet hat. Die Ironie seiner Lebensgeschichte bestand darin, daß er früher der Leibarzt der Kinder Somozas gewesen war, aber durch die Revolution überzeugt wurde, seine Kenntnisse in ihrem Dienst einzusetzen und an der Atlantikküste zu arbeiten. Er hat überaus lebendig geschildert, was sich damals für die Menschen verändert hat. Und das war für mich so überzeugend, daß ich angefangen habe, Spanisch zu lernen, und ein Jahr später nach Nicaragua gegangen bin, weil ich das mit eigenen Augen sehen wollte. Daraus ist eine Liebe auf den ersten Blick geworden.

SB: Wie hat sich deine Unterstützung des Aufbaus in Nicaragua in der Folge weiterentwickelt?

JS: Hier in Hamburg gab es den Verein "Helft Nicaraguas Kindern", der von Linken verschiedener Couleur und Kirchenleuten gegründet worden war. Zu den Gründern gehörte auch Günther Schwarberg, der viel zu den Kindern vom Bullenhuser Damm in der NS-Zeit gearbeitet hat. Ich habe als Arzt meine Reputation eingesetzt und viele Medikamente gesammelt, was damals ja üblich war, und wir haben zweimal im Jahr Container rübergeschickt. Da bin dann immer einmal im Jahr nach Nicaragua gereist, habe das koordiniert und geprüft, ob alles sauber ankommt und was weiter damit passiert. Daraus hat sich eine Regelmäßigkeit entwickelt, und ich bin jedes Jahr dorthin gegangen.

Ich war leitender Oberarzt einer Intensivstation für Frühgeborene im AK Wandsbek. Und da León damals die höchste Säuglingssterblichkeit im Land aufwies, traten die Leute dort mit der Anfrage an mich heran, ob ich nicht eine Weile rüberkommen und sie mit meinen ärztlichen Kenntnissen vor Ort unterstützen könnte. Ich war alleinerziehender Vater, meine Tochter hat zu dieser Zeit gerade Abitur gemacht. Ich habe mir einen CIM-Vertrag [3] besorgt, mich im Krankenhaus beurlauben lassen und bin im Juni 1992 nach León gegangen. Dort habe ich als Berater und Dozent im Krankenhaus angefangen, aber auch als Kinderarzt Dienst gemacht. Bei dieser Arbeit bin ich dann acht Jahre geblieben, bis der Hurrican Mitch mit seinen Verwüstungen dazwischengekommen ist.

Hamburg hatte ja bereits seit 1989 eine Städtepartnerschaft mit León, die ich nebenbei ehrenamtlich koordiniert habe. Als mein Krankenhausjob mit CIM ausgelaufen war, kam kurz nach Mitch der ASB, der auch eine Auslandsabteilung mit humanitärer Hilfe hat. Sie wollten drüben ein Büro eröffnen, um die Mitch-Hilfe zu koordinieren, und sprachen mich an, ob ich das nicht übernehmen könne. Daraufhin habe ich in León ein Büro aufgebaut und es bis 2014 geleitet. Ich habe dann die letzte Zeit gar nicht mehr als Arzt gearbeitet, sondern Projekte an der Atlantikküste mitorganisiert. Dabei ging es um Katastrophenprävention, den Aufbau der Feuerwehr, ein Aids-Projekt und vieles andere mehr. Als ich dann 2014 gerade 72 geworden war, gab mir der ASB aus Altersgründen keinen Vertrag mehr.

Ich blieb dann noch eine Weile drüben, habe aber, weil ich keinen Vertrag hatte, die Aufenthaltsgenehmigung verloren. Habe wohl auch zuviel das Maul aufgemacht und gelästert. Seither war ich einmal als Tourist im Land, inzwischen habe ich die Aufenthaltsgenehmigung wieder und bin jetzt einmal, manchmal auch zweimal im Jahr in Nicaragua. Ich habe schon während meiner Krankenhauszeit immer auch für NGOs gearbeitet und zusammen mit einer nicaraguanischen Psychologin zwei Kinderprojekte ins Leben gerufen - eines für drogenabhängige Straßenkinder und eines für Kinder, die auf dem Müll arbeiten [4]. Die beide Projekte wurden Ende 1990 gegründet und laufen immer noch. Inzwischen haben 60 oder 70 Jugendliche Abitur gemacht, ein Dutzend hat ein Universitätsstudium absolviert. Die Projekte sind also sehr erfolgreich gewesen. Jetzt geht es darum, hier in Deutschland alles mögliche zu machen, damit genügend Geld zusammenkommt und sie weiter existieren können.

SB: Hast du konkrete Pläne, in absehbarer Zeit wieder nach León zu reisen?

JS: Immer kurzfristig ja. Ich habe noch ein gültiges Rückflugticket, weil ich den letzten Flug in der entgegengesetzten Richtung gebucht hatte, und dieses Ticket gilt noch bis Oktober. Doch angesichts der aktuellen Entwicklung traue ich mich nicht rüber, weil es nicht planbar ist. Die Gefahr, zusammengeschlagen oder verhaftet zu werden, ist einfach zu groß. Ich habe gemeinsam mit einem Fotografen aus León, der auch schon 78 ist und die gesamten 70er Jahre und die Befreiungszeit 1979 fotografisch begleitet hat, ein Projekt geplant. Mit ihm zusammen will ich sein analoges Material, das sind ein paar tausend Negative, digitalisieren, archivieren und der Universität schenken, weil es ja ein kulturelles Erbe ist. Aber dieses Vorhaben ist jetzt erst einmal blockiert.

SB: Wie ist denn die aktuelle Ausstellung in Hamburg zustande gekommen?

JS: Ich war zuletzt von Oktober bis Januar in Nicaragua und habe dort zusammen mit vier Dichtern und diesem Fotografen eine Ausstellung gemacht. Sie stand unter dem Motto: "Ein Bild ist solange nicht vergessen, wie es Augen gibt, die es sehen." Für die Bilder dieser Ausstellung habe ich Fotos von ihm genommen, die Negative aus der Befreiungszeit aufgearbeitet, jeweils denselben Ort in León aufgesucht und ihn 2017 fotografiert. Dann wurde das Schwarz-weiß-Negativ hineinmontiert, und diese Dichter und eine Erzählerin haben ihre Texte dazu gemacht. Daraus ist die Idee entstanden, hier in Hamburg etwas Ähnliches zu machen. 2019 besteht die Städtepartnerschaft Hamburg-Leon 30 Jahre, doch ob gefeiert wird, weiß niemand, da die weitere Entwicklung drüben völlig ungewiß ist. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, unsere Ausstellung vorzuziehen und schon in diesem Jahr zu machen. [5]

SB: Gibt es in Hamburg noch eine starke Verbundenheit mit Nicaragua und speziell mit León oder hat sich das im Laufe der Zeit verändert?

JS: Das hat sich ganz stark verändert. Es gab in Hamburg von den 90er Jahren bis etwa 2010 insgesamt 32 Schulpartnerschaften. Hamburger Schulen verschiedenen Niveaus hatten Partnerschaften in León. Jetzt gibt es nur noch zwei. Es gab verschiedene Vereine wie jenen, für den ich rübergegangen bin. "Helft Nicaraguas Kindern" mußte schließen, weil keine Mitglieder mehr da waren. Dieser Verein wurde im selben Jahr gegründet wie der Nicaragua-Verein, der ebenfalls große Probleme hat, einen Vorstand zusammenzubekommen. Es ist insgesamt unheimlich viel weggebrochen. Der größte Posten, der noch aus Hamburg kommt, entstammt dem Projekt Restpfennig. Köln war die erste Stadt in Deutschland, die das gemacht hat, und in Hamburg hat der damalige Bürgermeister Voscherau Mitte der 90er Jahre dasselbe ins Leben gerufen. Das funktioniert immer noch sehr gut und schafft jährlich ungefähr 100.000 Euro nach Nicaragua. Die Stadt selber hat ganz drastisch reduziert und liegt momentan bei 60.000 Euro.

Der Nica-Verein und wir kümmern uns hauptsächlich um diese beiden Kinderprojekte. Aber ansonsten spürst du in der Stadt nicht mehr viel von Solidarität. Eine andere Generation, die Leute haben andere Probleme. Wo man es aber noch sieht, sind die vielen Touristen aus Hamburg in León, gerade Jugendliche, die rüberkommen. Wir haben in unseren beiden Kinderprojekten jedes Jahr sechs bis acht Freiwillige, die aus Deutschland kommen, nicht nur aus Hamburg, sondern auch aus anderen Bundesländern mit dem "Weltwärts"-Programm der Bundesregierung. Sie kommen ein Jahr rüber und helfen praktisch mit. Das ist eine unheimlich gute Geschichte, auch weil sie enorm viel für sich selber mitnehmen.

SB: Es gibt in Hamburg mehrere Gruppen die Nicaragua-Solidarität, die aber leider untereinander sehr gespalten sind.

JS: Ich bin einer, der unheimlich gemobbt wird, seit ich wieder zurück bin. Mir wird vorgeworfen, daß ich zuviel mache. Ich sehe es anders und eher so, daß viele neidisch sind. Ich habe die Ausstellung und den Jour Fixe mit Dieter Wegner in Angriff genommen und versuche eben, das weiterzubringen. Es sind wohl eine ganze Menge Leute neidisch darauf, daß ich offenbar der einzige in Hamburg bin, der seinen Job hingeworfen und gesagt hat, ich gehe jetzt da rüber. Ich hatte eine gute Position, war leitender Oberarzt und hätte irgendwann mal Chefarzt werden können. Aber ich wollte eben nochmal etwas anderes machen. Daß einer so etwas macht, weckt leider bei manchen eine Art Futterneid. Das ist Quatsch und hat nichts mehr mit Solidarität zu tun.

SB: Wie hast du es in Nicaragua erlebt, wenn Leute aus Deutschland für sechs Wochen rübergegangen sind? War das wirklich eine Hilfe oder eher ein demonstrativer Akt, auch dabeigewesen zu sein?

JS: Das kommt darauf an, was man jeweils gemacht hat. Wir haben nach dem Mitch 300 Häuser gebaut, und dabei war es sehr hilfreich, daß auch junge Leute aus Hamburg gekommen sind. Da braucht man keine große Einarbeitung, Zement mischen, Sand schicken, das geht auch so. Da finde ich es sehr gut, da reichen auch sechs Wochen. Wenn man hingegen mit Kindern oder allgemein mit Menschen arbeiten will, wo man sich eingewöhnen muß, ist es natürlich anders. Wir verlangen in unseren Projekten, daß die Leute ein halbes Jahr dableiben. Es gab wiederum ganze Brigaden, die in den Barrios Strom- oder Wasserleitungen gelegt haben. Da ist auch ein kürzerer Einsatz auf alle Fälle sinnvoll, aber nicht nur auf Nicaragua begrenzt, das kann auch woanders sein.

SB: War es ein Kulturschock, als du nach mehreren Jahren aus Nicaragua wieder nach Hamburg zurückgekommen bist?

JS: Bei der Rückkehr war das nicht der Fall. Ich habe immer eine Wohnung hinter der Schanze gehabt, meine Versicherungen liefen weiter, ich bin nicht ausgestiegen. Ich bin nur rübergegangen, und da ich jedes Jahr einmal in Deutschland war, meistens vier Wochen, war es eigentlich kein Problem.

SB: Du hast die Wendung Ortegas zeitlich nach der Wahlniederlage im Jahr 1991 angesiedelt. Bist du ihm persönlich begegnet und wie schätzt du seinen Aufstieg und Einfluß insgesamt ein?

JS: Meines Erachtens ist die Wende in der Tat nach der damaligen Wahlniederlage anzusiedeln, als er die Parole ausgab, wir regieren jetzt von unten. Ich habe Ortega selber kennengelernt, sowohl hier in Hamburg als auch drüben in Nicaragua. Er wird so charakterisiert, daß er ursprünglich nicht die herausragende Figur der Revolution war. Er saß lange im Gefängnis und war danach zwei oder drei Jahre in Kuba. Richtig an der Front gekämpft hat er gar nicht. Wie von der kubanischen Revolution berichtet wird, soll Fidel nach dem Sieg in der Sierra Maestra 90 Tage gebraucht haben, bis seine Verbände in Havanna einmarschiert sind. In diesen 90 Tagen wurde das Programm ausgearbeitet und eine Regierung gebildet. Im Unterschied dazu sind die Sandinisten von einem Tag auf den anderen in Managua einmarschiert, standen da und mußten eine Regierung bilden. Es wird berichtet, daß zunächst keiner den Vorsitz übernehmen wollte, und erst nach langem Hin und Her die Brüder Daniel und Humberto Ortega in die Bresche gesprungen sind. Es war ein sehr breites Bündnis verschiedener Kräfte von der Linken bis zu bürgerlichen Fraktionen, das Somoza gestürzt hatte. Selbst innerhalb der Sandinisten gab es drei verschiedene Richtungen, und Daniel Ortega soll großen Anteil daran gehabt haben, daß sie sich nicht zerstritten. Die spätere Versöhnung mit der Katholischen Kirche, das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und viele weitere Kehrtwenden Ortegas waren rückblickend gesehen rein taktische Manöver, um sich Stimmen zu sichern und wieder an die Macht zu kommen.

SB: Siehst du wesentliche Unterschiede zwischen den Sozialprogrammen der Sandinisten in den 80er Jahren und jenen, die Ortega von 2007 an aufgelegt hat?

JS: Man kann diese beiden Phasen meines Erachtens nicht zur Deckung bringen. Die Programme in den 80er Jahren waren getragen vom Enthusiasmus der Bevölkerung. Hingegen ist beispielsweise Hambre Cero (Null Hunger) ein fehlgeleitetes Programm. Ich habe es selber an der Atlantikküste erlebt. Du kannst Leuten, die nie Landwirtschaft betrieben haben, nicht einfach eine Kuh, ein Schwein und ein paar Hühner geben. Deswegen werden sie noch lange keine Landwirte. Ich weiß es aus Projekten, an denen ich beteiligt war, daß viele die Kuh verkauft und gesagt haben, sie sei gestorben. Darum haben diese Projekte nicht den Effekt gehabt, den sie eigentlich haben sollten. Hingegen waren die große Alphabetisierung und die weiteren Projekte in den 80ern ein ganz anderer Ansatz, weil sie mit und aus den Menschen, die dort lebten, entwickelt und umgesetzt wurden.

SB: Vor den Wahlen 2006 bestand eine enge Absprache zwischen den Wirtschaftsverbänden und Ortega, selbst ausländische Investoren gaben grünes Licht, was seine Kandidatur betraf. Heute unterstützt ihn eine kleinere Fraktion der Unternehmerschaft, während eine größere auf seiten des Protests steht. Wie ist diese tendenzielle Veränderung im Verhältnis von Regierungspolitik und Wirtschaft zu erklären?

JS: Meiner Kenntnis nach lief damals sehr viel im Hintergrund, und die Unternehmerschaft hat ihn kräftig unterstützt. Das galt beispielsweise für Carlos Bellas, der aus einer reichen italienischen Familie stammt und lange Vorsitzender des Unternehmerverbands COSEP war. Heute ist dieser Verband mehrheitlich gegen Ortega. Das hängt damit zusammen, daß ein Teil der Unternehmerschaft zu seinem Umfeld gehört, von ihm profitiert und sich dadurch enorm bereichert hat. Es sind im Kontext des Unternehmerverbands überwiegend jüngere Leute, die zeitweise in den USA waren und nach ihrer Rückkehr investiert haben. Im Gegensatz dazu verfolgen die alteingesessenen Unternehmer die Regierungspolitik eher mit Sorge. Aufgrund dieser Differenzen hat es zu Beginn der aktuellen Auseinandersetzung so lange gedauert, bis der COSEP eine klare Linie gefunden hat.

SB: Hast du Nachricht über die aktuelle Entwicklung in Nicaragua? Finden weitere Demonstrationen statt und welche Maßnahmen ergreift die Regierung?

JS: Es finden weiterhin ständig größere und kleinere Demonstrationen statt. Der Nationale Dialog, bei dem Vertreter aus beiden Lagern unter Vermittlung der Kirche zusammentrafen, ist ja schon lange unterbrochen. Die Organisation Amerikanischer Staaten hat Ortega mit großer Mehrheit offiziell verurteilt und gefordert, daß Menschenrechtsorganisationen der UNO, der Interamerikanischen Kommission und der EU die Lage in Nicaragua prüfen. Sie waren auch alle da, und die relativ aktive Gruppe der UNO machte in ihrer ersten Stellungnahme Ortega verantwortlich. Sie wurde daraufhin des Landes verwiesen, das sie binnen weniger Stunden verlassen mußte. Auch die Delegation der EU mußte das Land verlassen. Die UNO will nun die Frage vor den Sicherheitsrat bringen.

Das Schlimmste wäre, wenn Nicaragua den Weg Venezuelas nähme. Niemand kann sagen, was wird. Neuwahlen bringen nichts, die kann man vergessen. Ortegas Rücktritt herbeizuführen und ihn des Landes zu verweisen, wirft die Frage auf, was aus den Tausenden Begünstigten des Systems in der gesamten öffentlichen Verwaltung und in allen möglichen anderen Bereichen werden soll. Nehmen sie den Verlust ihrer Privilegien und ihres Einflusses hin? Rächen sich andere Teile der Bevölkerung an ihnen? Das kann sich plötzlich wieder in eine Art Bürgerkrieg entladen. Es gibt keine Lösungsvorschläge, die gangbare Wege aufzeigen. Eigentlich müßte Ortega samt seiner Frau das Land verlassen, aber das kann noch lange dauern. Die Sozialversicherung macht Tag für Tag hohe Verluste, weil sie von den Abgaben der Beschäftigten im formellen Sektor getragen wird. Der Hotelbetrieb ist fast zum Erliegen gekommen, es gibt keine Touristen mehr. Sämtliche Luftlinien haben die Flüge auf ein Minimum reduziert. Spanien hatte vor, ab Oktober dreimal die Woche einen Direktflug Madrid-Managua einzurichten. Das sind enorme Verluste, die sich in der ohnehin defizitären Sozialversicherung niederschlagen.

Irgendwann wird sich Ortega mit seinen Millionen absetzen, wie es so üblich ist. Vor vier oder fünf Wochen hat ein ranghoher US-amerikanischer Kommissionär der Trump-Administration mehrere Privatgespräche mit der Familie Ortega geführt. Dies führte zu Diskussionen, ob da bereits der Abgang vorbereitet werde. Und es wird wohl auch so laufen. Somoza hat sich damals auch in die USA abgesetzt. Wo soll Ortega denn sonst hin? Nach Venezuela wird er bestimmt nicht gehen. Kuba vielleicht, zumal er sich dort jeden Monat zur Behandlung aufhält. Seine Söhne und Töchter, die ja alle irgendwo untergebracht sind, werden ihrerseits alles in Sicherheit bringen. Zurück bleibt ein in den Ruin getriebenes Land.

SB: Was bliebe aus deutscher Sicht zu tun, um die Menschen in Nicaragua angesichts dieser fatalen Situation zu unterstützen?

JS: Die Hamburger Solibewegung hat einen Brief an Außenminister Maas geschrieben, aber die Antwort kannst du vergessen. Da kommt dann immer die Ausrede, es handle sich um diplomatische Ebenen, auf die man so direkt keinen Einfluß nehmen könne. Das einzige, was wir machen können, ist den Menschen in Nicaragua, die unseres Wissens nicht dem Ortega-Lager angehören, Solidarität zu zeigen und sie zu unterstützen. Es gibt ja keine Produkte aus Nicaragua, die man kaufen könnte, wenn man vom Nica-Kaffee und Flor de Caña absieht. Die Wirtschaft kann man nicht unterstützen, zumal man nicht weiß, wo die Regierung überall ihre Finger drin hat. Reisen kann man im Moment auch nicht. Und wenn man Projekte wie unsere Arbeit mit Kindern hat, muß man natürlich aufpassen, daß man sich hier nicht zu weit aus dem Fenster hängt, weil die sonst drüben dafür bezahlen müssen. Es gilt also, die Menschen zu unterstützen, die man kennt, Solidarität zu zeigen und nicht zuletzt hier in Deutschland mehr Öffentlichkeit zu schaffen, wie wir es mit dieser Veranstaltung und der Ausstellung versuchen. Es hat lange gedauert, bis die ersten Artikel erschienen sind, doch inzwischen wird eine Menge publiziert. Ich glaube, mehr können wir im Augenblick nicht machen.

SB: Jürgen, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.gewerkschaftslinke.hamburg

[2] BERICHT/326: Nicaragua - ins Gegenteil verkehrt ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0326.html

[3] CIM - Centrum für internationale Migration und Entwicklung

[4] http://www.kitra-kindertraeume.org

[5] Im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und León unterstützt die Senatskanzlei eine Ausstellung mit 30 Tafeln (Fotos und Texte) aus Nicaragua, die noch bis Ende September in der Haspa am Großen Burstah zu den normalen Geschäftszeiten zu sehen ist.


11. September 2018


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