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INTERVIEW/344: Niemanden vergessen - jeder zählt ...    Aktivist Julio im Gespräch (SB)



Julio ist Mitglied der britischen Basisgewerkschaft United Voices of the World (UVW Union). Er studiert Politik- und Rechtswissenschaften in London und hat den Streik der Cleaner an der London School of Economics (LSE) unter anderem mit einer Besetzungsaktion unterstützt.

Obwohl die LSE zu den renommiertesten Universitäten des Vereinigten Königreiches gehört und über ein Jahresbudget von 300 Millionen Pfund verfügt, wurden die Reinigungskräfte an einen externen Dienstleister ausgelagert und sind gegenüber dem festangestellten Personal finanziell wie von den Arbeitsbedingungen her stark benachteiligt. Bezeichnenderweise handelt es sich bei fast allen Cleanern um Migrantinnen und Migranten aus Ländern wie Nigeria, Kongo, Sierra Leone, Kenia, Jamaica oder Kolumbien. Während es keine weißen britischen Reinigungskräfte an der LSE gibt, sind 82 Prozent der Professoren weiß. Mitte März kam es zu einem ersten, von der UVW organisierten zweitägigen Streik der Cleaner an der LSE, durch den die Forderungen nach Gleichstellung mit dem festangestellten Personal jedoch noch nicht vollständig erfüllt wurden.

Julio war mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten der UVW Union am 25. März 2017 in Hamburg, um sich mit der Hamburger Gewerkschaftslinken auszutauschen. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum LSE-Streik und der britischen Studierendenbewegung.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Aktivist Julio
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Julio, wie bist du zur Unterstützung des UVW-Streiks bei der London School of Economics (LSE) gekommen?

Julio: Ich studiere nicht an der LSE, sondern einer anderen Uni. Als UVW-Mitglied unterstütze ich jedoch den Streik der Cleaner an der LSE. So habe ich die Treffen der LSE-Studierenden besucht und mit ihnen beraten, was wir zur Unterstützung des Streiks tun können. All das erfolgte in direktem Kontakt mit den Cleanern und der Gewerkschaft. Die Studierenden haben sich schließlich für eine Besetzungsaktion in Solidarität mit den Streikenden entschieden.

Die Besetzung war eine eher kleine symbolische Aktion, und es sind nicht viele Studierende für die eine Nacht geblieben, die sie gedauert hat. Aber es ist ein Beispiel dafür, wie die Bewegung der Studierenden, die seit zwei Jahren in London rückläufig ist, wieder wachsen kann. Wir haben die Besetzung mit nur wenigen Studierenden ermöglicht, was gezeigt hat, daß eine solche Aktion auch unter schlechten Umständen machbar ist. Den Streik der Reinigungskräfte haben wir drei Monate lang vorbereitet. So haben wir mit allen Cleanern um acht Uhr morgens Frühstück gemacht, um uns kennenzulernen und um mehr Cleaner in den Kampf einzubinden und auch für die Gewerkschaft zu gewinnen. Einige Professoren, die mit den Cleanern sympathisieren, wurden in den Wochen vor dem Streik zu aktiver Unterstützung veranlaßt. Die Studierenden haben für bedruckte T-Shirts und Anstecker gesorgt oder Facebook-Kampagnen organisiert. Die Besetzung war eigentlich nur die Spitze des Eisbergs, ihr sind viele Aktivitäten vorausgegangen.

SB: Was ist aus den Studierenden geworden, die vor einigen Jahren große Demonstrationen in London veranstaltet haben?

Julio: Um die Studierendenbewegung zu verstehen, muß man sehen, daß 2017 eine andere Generation an den Unis ist als 2010. Wer damals zur Studierendenbewegung gehörte, studiert heute meist nicht mehr. Wer heute politisch aktiv wird, betritt Neuland. Die Studierendenbewegung im UK ist nicht wirklich gut organisiert, weil die Studiengebühren so hoch sind und viele Studierende sehr viel arbeiten müssen, um das Studium überhaupt finanzieren zu können.

Wir sind heute das Ergebnis einer anderen Art von Universität. Wir können es uns nicht leisten, nostalgisch vergangenen Zeiten nachzutrauern, sondern müssen uns mit den Bedingungen auseinandersetzen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind. Die heute angewendeten Methoden schwächen die Bereitschaft der Studierenden, für eine bessere Ausbildung und Gesellschaft zu protestieren.

SB: Gibt es spürbare Klassenunterschiede zwischen Studierenden und Lohnabhängigen?

Julio: Man kann die Sache natürlich von einem ideologischen Gesichtspunkt aus betrachten, aber für mich hat dieses Engagement mit Common Sense zu tun. Üblicherweise gehen Studierende an die Uni, um ihre Berufschancen zu verbessern. Selbst die linken Professoren, die die Arbeitssituation der Cleaner kritisieren, sind mit ihrer eigenen Arbeitsumgebung sehr zufrieden. Die als Sicherheitskräfte, im Küchenbetrieb oder als Reinigungskräfte Angestellten schaffen diese Arbeitsumgebung. Sie zu unterstützen ist für mich ganz natürlich und hat nichts mit einer Vorstellung von Wohltätigkeit zu tun, als ob ich mich in einer besseren Position befände, von der herab ich ihnen helfe. Sie arbeiten hier, ich brauche sie, um hier studieren zu können, ich brauche ihren Kampf, um meinen Kampf im Allgemeininteresse führen zu können. Ich könnte ebensogut zu ihnen gehören und hoffe, daß ihre Kinder einmal das tun können, was ich mache. Für mich ist die Arbeit von Intellektuellen gesellschaftlich nicht wichtiger als die von Reinigungskräften. Da einen Unterschied zu machen, halte ich für Ideologie.

SB: Du kommst aus Spanien und hast auch dort studiert. Wie ist die Situation der Studierenden dort? Verhält es sich dort auch so, daß die Aktivistinnen und Aktivisten mit fortschreitendem Alter zu kämpfen aufhören?

Julio: Ich habe darauf keine richtige Antwort, aber ich glaube, es hat mit den vorherrschenden Gedanken der jeweiligen Zeit und dem allgemeinen Niedergang der Linken zu tun. Ich habe da durchaus einen selbstkritischen Blick. Die Linke hat viel dazu zu sagen, wie schlecht die Dinge sind und wie gut sie sein könnten, aber versagt darin, antikapitalistische Institutionen zu schaffen und die Menschen an der Universität zu organisieren. In den Parteien erhalten nur Funktionäre Einfluß auf die Politik, aber ich glaube, am wichtigsten ist, die Politik ins Herz der Gesellschaft zu tragen. So müßten Orte und Strukturen der Organisation geschaffen werden, die Menschen die Möglichkeit geben, auch noch im Alter von 30 Jahren, wenn sie berufstätig sind und Kinder haben, Formen alternativen Lebens zu praktizieren.

Für mich geht es nicht darum, Menschen zu bezichtigen, in der Jugend seien sie zwar Revolutionäre gewesen, aber dann hätten sie sich verkauft. Ich halte das für eine naive Sicht der Dinge. Wenn es mir darum geht, daran etwas zu ändern, ist es notwendig, Institutionen zu schaffen, die Menschen die Möglichkeit geben, sich politisch einzubringen, selbst wenn sie nicht die ganze Zeit mit Politik beschäftigt sind.

SB: Meinst du, daß die Jugend heute bereit dazu ist, gegen die herrschenden Bedingungen aufzustehen und neue Ideen zu entwickeln?

Julio: Dazu müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Es geht nicht um die Jugend oder ihre Gefühle, es geht darum, daß die Menschen Bewußtsein für ihre eigene Handlungsfähigkeit entwickeln. Meine Generation ist sicherlich nicht die aktivste, wenn es um politischen Aktivismus geht. Sie wird eher aus ökonomischen Gründen dazu genötigt, sich politisch zu engagieren. In Spanien wissen junge Leuten und die neue Linke, daß die Politik, wenn man sie nicht selbst macht, von jemand anderem für einen gemacht wird.

SB: Warst du selbst an der Bewegung der Indignados beteiligt?

Julio: Ja. Als die Plätze 2011 besetzt waren, konnte ich aufgrund meiner schulischen Ausbildung dort zwar nicht leben, aber wie alle meine Freunde wurde auch ich dadurch politisiert und zu einem Teil der Bewegung. Wir gingen zu allen Demonstrationen, und diese Entwicklung hatte großen Einfluß auf das politische Bewußtsein der Jugend, die, wenn sie sich nicht direkt engagierte, doch stark mit dieser Bewegung sympathisierte. Was ich gerade bei der Gewerkschaftsarbeit an der LSE erlebe, ist stark von der Praxis der Indignado-Bewegung beeinflußt. In der Studierendenbewegung in Spanien, die sich an den Fakultäten organisiert hat, kamen die Menschen aus ganz verschiedenen politischen Ecken, aber konnten sich auf bestimmte Aktionsformen gut einigen. Niemand hat nach der Mitgliedschaft in eine Partei oder so gefragt, und so floßen alle Identitäten und politischen Erfahrungen in eine gemeinsame Bewegung ein, die dadurch sehr interessant und schön wurde.

SB: Julio, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zum Jour Fixe mit der Basisgewerkschaft "United Voices of the World" (UVW Union) aus London im Schattenblick unter:
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