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INTERVIEW/325: Restverwertung global - Marktsauger CETA ...    Fabio De Masi im Gespräch (SB)


Sand ins Getriebe streuen

Interview am 13. Oktober 2016 in Hamburg



F. De Masi in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Fabio De Masi
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der deutsch-italienische Ökonom und Linkspolitiker Fabio De Masi ist seit 2014 Abgeordneter der Europäischen Linken im EU-Parlament. Nach seinem Diplomstudium der Volkswirtschaftslehre an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik erwarb er einen Master in Internationalen Beziehungen an der University of Cape Town in Südafrika und einen weiteren Master in Internationaler Volkswirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Der ehemalige Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes war im Bundestag als wissenschaftlicher Mitarbeiter u.a. der stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion Die Linke, Sahra Wagenknecht, tätig wie auch als Lehrbeauftragter für Volkswirtschaft an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht.

Fabio De Masi ist Mitglied der Partei Die Linke im Landesverband Hamburg. Sein europapolitisches Engagement erstreckt sich aber auch auf die Bundesländer Bremen und Nordrhein-Westfalen, für die er Ansprechpartner in Fragen und Angelegenheiten des Europäischen Parlaments ist. Dort ist er Mitglied im Ausschuß für Wirtschaft und Währung (ECON) sowie in der Delegation für die Beziehungen zu Südafrika (D-ZA). Nach seiner Tätigkeit als Vollmitglied des nach der sogenannten Luxemburg-Leaks-Affäre eingesetzten Sonderausschusses zu Steuervorbescheiden und anderen Maßnahmen ähnlicher Art oder Wirkung (TAXE) wurde er im Juli 2016 stellvertretender Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zu Geldwäsche sowie Steuerhinterziehung und -vermeidung (PANA), der nach dem Skandal um die Panama Papers eingerichtet worden war.

Im Rahmen seiner vielfältigen Interessen und EU-parlamentarischen, aber auch außerparlamentarischen Aktivitäten nimmt die Aufklärung über bzw. die Agitation gegen die sogenannten Freihandelsabkommen fraglos einen besonderen Stellenwert ein. Fabio De Masi ist zu dem großen, wenn auch inhomogenen Kreis all jener TTIP- und CETA-Gegnerinnen und -gegner zu zählen, die nicht locker lassen selbst dann, wenn, wie vor kurzem geschehen, von namhaften Politikern die Verhandlungen mit den USA für beendet und TTIP für tot erklärt werden. Die Proteste gegen die vermeintlichen Freihandelsabkommen sind, wie er auf einer Veranstaltung in Hamburg am 13. Oktober deutlich machte [1], dringender, aktueller und brisanter denn je, steht doch auf dem EU-Kanada-Gipfel am 27. Oktober nach wie vor die Unterzeichnung von CETA ins Haus.

Just am vergangenen Donnerstag hatte das Bundesverfassungsgericht mehrere Eilanträge gegen dieses Abkommen, genauer gesagt gegen dessen Annahme durch die deutsche Regierung sowie seine anschließende, als vorläufig ausgegebene Inkraftsetzung, abgelehnt. Dem Vernehmen nach stellt diese Entscheidung noch keine Festlegung in der Sache dar, über die Verfassungsbeschwerde werde zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlich verhandelt. Die Richter hätten in diesem Eilverfahren lediglich geprüft, ob den Beschwerdeführerinnen und -führern nicht korrigierbare Nachteile entstehen würden, sollte CETA wie geplant in Kraft treten. Das Karlsruher Gericht meinte dies nicht zuletzt wegen seiner der Bundesregierung auferlegten Bedingungen verneinen zu können. [2]

Gleichwohl scheint der Zeitplan, mit dem das EU-Kanadische Abkommen verabschiedet werden soll, ein wenig durcheinandergebracht worden zu sein. Am Dienstag wollten sich die Handelsminister aller 28 EU-Staaten auf ihrem Ministertreffen in Luxemburg auf die bevorstehende Verabschiedung des CETA-Abkommens einigen. Dieser Beschluß hätte einstimmig gefällt werden müssen, um wirksam werden zu können, kam aber nicht zustande, weil - neben Vorbehalten aus Rumänien und Bulgarien - die belgische Regierung ihm nicht zustimmen konnte. Laut belgischer Verfassung ist für einen so weitreichenden Schritt die Zustimmung aller drei Regionalparlamente (Wallonie, Flandern, Brüssel) erforderlich. Da das wallonische Parlament der belgischen Zentralregierung die Vollmacht, diesem Abkommen zuzustimmen, entzogen hat und nicht erkennen läßt, von dieser Position abrücken zu wollen, ist guter Rat teuer. Der frühere EU-Kommisar Karel De Gucht soll bereits den Vorschlag gemacht haben, die belgische Regierung möge das Veto der Wallonie einfach ignorieren, den Vertrag unterschreiben und die Wallonen klagen lassen...

Im Anschluß an die Diskussionsveranstaltung in Hamburg, die im Pressearbeitsraum des FC St. Pauli, dessen Fördermitglied Fabio De Masi ist, stattfand, erklärte sich der Linkspolitiker und EU-Abgeordnete bereit, dem Schattenblick einige aktuelle, aber auch grundsätzliche Fragen zu CETA und TTIP zu beantworten.


Teilnehmende und Veranstalter, rechts ein Plakat der europäischen Linkspartei - Foto: © 2016 by Schattenblick

Blick auf die Diskussionsveranstaltung mit Fabio De Masi zu CETA und TTIP
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Das Bundesverfassungsgericht hat heute drei Einschränkungen festgelegt. Wie sind die Ihrer Meinung nach zu bewerten?

Fabio De Masi (FDM): Ich weiß natürlich nicht, wie sich die Verfassungsrichter entscheiden werden und was in ihren Köpfen vor sich geht. Aber eines ist sicher: Das Bundesverfassungsgericht weiß sehr genau, daß es durch CETA, das Handels- und Investitionsabkommen mit Kanada, im Zweifelsfall selbst entmachtet wird. Auch Richter sind eitle Menschen und werden sich das sehr genau überlegen.

Die Einschränkungen heißen: Deutschland muß klarmachen, daß dieses Abkommen einseitig auch wieder kündbar ist. Die Bundesregierung kann nur unter Vorbehalt zustimmen. Das Verfassungsgericht hat ja noch nicht entschieden, ob CETA überhaupt mit der Verfassung vereinbar ist, das heißt mit dem Grundgesetz, denn strenggenommen haben wir gar keine Verfassung. Zweitens haben die Richter gesagt, daß noch mehr Bereiche, als die Bundesregierung bisher zugestanden hat, in die nationale Kompetenz fallen und eben nicht vorläufig, also ohne Beteiligung von Bundestag und Bundesrat, angewendet werden dürfen. Das zeigt, daß die Bundesregierung da schlampig gearbeitet hat, und insofern war das schon eine kleine Ohrfeige. Das bedeutet aber auch, daß wir jetzt weiter Druck machen müssen. Der Deutsche Richterbund sagt nach wie vor, daß er zum Beispiel die Handelsgerichte, die sogenannten Schiedstribunale, für mit EU-Recht nicht vereinbar hält. Wenn der Deutsche Richterbund das sagt, kommt vielleicht auch das Verfassungsgericht zu diesem Ergebnis.

SB: Häufig wird über das Verhältnis der EU zu den USA diskutiert, die Stellung Deutschlands als Führungsmacht innerhalb der EU wird eher selten thematisiert. Kann man da mit Blick auf die sogenannten Freihandelsabkommen Unterschiede ausmachen?

FDM: Deutschland ist natürlich eine wirtschaftliche Macht in Europa und hat in den letzten Jahren über den Export immer stärker auf die Kontrolle der Weltmärkte gesetzt. Von daher ist Deutschland eine treibende Kraft hinter diesen Abkommen. Daß diese extreme Exportorientierung nicht gleichbedeutend ist mit wirtschaftlichem Wohlstand, zumindest nicht für die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland, ist aber auch ganz, ganz wichtig zu verstehen. Denn es ist eigentlich eine extrem kranke Entwicklung, wenn eine Volkswirtschaft von der Größe Deutschlands mittlerweile zu über 50 Prozent vom Export abhängig ist. Das gilt eigentlich für kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz oder Luxemburg, weil die natürlich einen sehr kleinen Markt haben. Für die lohnt es sich zum Beispiel nicht, eine eigene Automobilindustrie zu haben.

Aber daß die Bundesrepublik mittlerweile so exportabhängig ist, macht uns auch extrem anfällig zum Beispiel für internationale Wirtschafts- und Finanzkrisen. Je mehr man die eigene Bevölkerung schröpft und die kein Geld mehr in der Tasche hat, um Waren und Dienstleistungen zu kaufen, desto mehr muß man natürlich die Märkte im Ausland erobern, um noch irgendetwas abzusetzen. Das heißt, die Beschäftigten in Deutschland in den Schwitzkasten zu nehmen und gleichzeitig extrem aggressiv den Weltmarkt erobern zu wollen und solche Abkommen zu puschen, sind zwei Seiten einer Medaille.

SB: Wie wäre denn die Behauptung, die den Bundesbürgern immer wieder vermittelt wird, nämlich daß es ihnen, wenn wir nicht so weitermachen wie bisher, schlecht ergehen wird, zu brechen?

FDM: Ich glaube, daß viele Leute das längst durchschaut haben. Viele Menschen stecken in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Sie stehen unter einem ständigen Druck und wissen sehr genau, daß es ihnen nicht gut geht. Wenn Frau Merkel dann sagt, wir werden stärker aus der Krise herauskommen, als wir hineingegangen sind, fragen sie sich natürlich: wer ist wir? Auch wenn Frau Merkel in der Flüchtlingskrise sagt, wir schaffen das, fragen sich viele: wen meint sie? Sollen zum Beispiel nur die kleinen Leute die Kosten der Integration aufbringen oder sind die Vermögenden gemeint? Das ist vielen klar. Aber ich glaube, das Entscheidende ist, daß sich viele Menschen ohnmächtig fühlen im politischen Prozeß. Wer Angst hat, seinen Job zu verlieren, in Hartz IV abzustürzen und ständig unter Streß steht, fühlt sich natürlich häufig auch zu schwach, um sich zu wehren. Das ist das eigentliche Problem.

SB: Die Spannungen zwischen der EU und den USA werden manchmal auch als innerimperialistische Rivalität erklärt. Was meinen Sie, wo hat dieser Erklärungsansatz seine Stärken, vielleicht aber auch seine Schwächen?

FDM: Es gab immer ein Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation zwischen der EU und den USA. Übrigens wäre es auch schon falsch, "die" EU zu sagen, weil die nationalen Regierungen innerhalb der EU völlig unterschiedliche Interessen haben, so wie zum Beispiel Deutschland ganz andere Interessen hat als Frankreich und wie eben auch innerhalb Deutschlands die Konzerne andere Interessen haben als ein Leiharbeiter. Das gilt natürlich auch im Verhältnis zwischen der EU und den USA. Kooperation gab es da schon immer. Das heißt, man hat gemeinsame Interessen, beispielsweise eine bestimmte Wirtschaftsordnung im internationalen Maßstab durchzusetzen, und hofft dann darauf, daß die eigenen Konzerne die Gewinner sind.

Deswegen machen die US-Unterhändler jetzt Druck, um die Lebensmittel- und Agrarmärkte in Europa zu öffnen, während die deutsche Automobilindustrie und andere Unternehmenszweige das öffentliche Beschaffungswesen der USA geöffnet haben wollen. Das sind sozusagen die Trade-offs, die immer dabei sind. Deshalb ist es ganz entscheidend, daß man Bündnispartner hat im Kampf gegen diese Abkommen und zum Beispiel auch klarmacht, daß die Behauptung, sie wären im Interesse kleiner und mittelständischer Unternehmen, einfach Quatsch ist. Die meisten werden im Wettbewerb von den großen Multis gefressen. Wenn es dann gelingt, breite Bündnisse zu schaffen, kann man da ordentlich Sand ins Getriebe streuen.

SB: Wie ist denn die Haltung Frankreichs zu bewerten? Die französische Regierung hat ja gerade erst den Abbruch der TTIP-Verhandlungen mit den USA gefordert. Hat sich dadurch die Lage innerhalb der EU-Kommission verändert, auch was CETA angeht?

FDM: Frankreich hat sich gegen TTIP ausgesprochen zu einem Zeitpunkt, als es der Regierung vor allem um die Durchsetzung von CETA ging. Ich bin da sehr skeptisch. Sowohl Gabriel als auch Hollande haben gesagt, TTIP ist tot, um so ein bißchen die Skepsis in der französischen Öffentlichkeit auch gegenüber den USA mit anzufüttern, sich da heldenhaft in die erste Reihe zu stellen und zu sagen, wir beerdigen jetzt TTIP. Aber in Wirklichkeit wollten sie von CETA ablenken. Natürlich haben auch die französischen Konzerne ihre eigenen Interessen. Die Franzosen haben gewisse Vorbehalte im kulturellen Bereich. Das ist auch ein großer ökonomischer Faktor, der allerdings in der französischen Öffentlichkeit eine große Tradition aufweist, weshalb bestimmte kulturelle Dienstleistungen staatlich erbracht werden. Also da gibt es Vorbehalte, aber ich glaube nicht, daß die französische Regierung oder Präsident Hollande grundsätzlich gegen den Abschluß des CETA-Abkommens wären.

Wollte man versuchen, das vollkommen rational zu erklären, könnte man zum Beispiel sagen, daß die Franzosen damals nach der Schaffung des Euros Deutschland mit der neuen Währung einhegen wollten. Doch im Prinzip sind sie dann von Deutschland völlig deindustrialisiert worden. Deswegen gibt es viele Bereiche, wo man eigentlich sagen könnte, dieses Abkommen liegt nicht im Interesse Frankreichs. Aber dann besteht da eben immer die Hoffnung, daß es irgendwann im Rahmen dieser Entwicklung auch ein paar französische Unternehmen gibt, die auf der Gewinnerseite stehen. Den Griechen hat man auch versprochen, wenn ihr euch mit einsetzt für die EU-Osterweiterung, dann werdet ihr irgendwann in den Balkan exportieren. Doch das hat nicht funktioniert. Natürlich gibt es auch gegenüber der französischen Regierung Druck von den eigenen Konzernen, weil die meinen, daß sie vielleicht in diesen oder jenen Markt vordringen könnten. Aber häufig ist das eben nicht im Interesse der eigenen Volkswirtschaft.

SB: Da erübrigt sich im Grunde schon die Frage danach, ob CETA ein etwas harmloseres Freihandelsabkommen wäre als TTIP.

FDM: Nein, das ist es absolut nicht. CETA ist in bestimmten Bereichen sogar noch ambitionierter. Wenn man zum Beispiel die Negativliste nimmt, da unterliegt im Bereich der Dienstleistungen alles, was nicht explizit ausgenommen ist von CETA, dem Abkommen. Das heißt, im Prinzip ist gar nicht so wichtig, was in CETA drinsteht, sondern das, was da nicht drinsteht. Die Amerikaner sagen hinter vorgehaltener Hand, daß sie mit CETA eigentlich ganz gut leben können, weil sie dieses Abkommen über die Zweitniederlassungen, die US-Unternehmen in Kanada haben, genauso nutzen können. Und CETA ist ein sehr weitreichendes und umfassendes Abkommen.

SB: Demnächst steht - ein kleiner Schwenk vielleicht - im sogenannten UN-Treaty-Prozeß die nächste Gesprächsrunde in Genf bevor, bei der es um ein neues internationales Abkommen geht, das großen Unternehmen einklagbare Menschenrechtspflichten auferlegen soll. Glauben Sie, daß ein solcher Vertrag halten könnte, was er verspricht?

FDM: Nein. Was die Menschenrechte für die großen internationalen Konzerne bedeuten, können wir in Lateinamerika täglich studieren. Dort wurden teilweise sogar Milizen mitfinanziert, die Gewerkschafter ermordet und entführt haben. Wir kennen solche Fälle aus Argentinien, da haben die Menschenrechte selten eine Rolle gespielt. Es gibt natürlich Unternehmen, die darauf bedacht sind, daß ihr öffentliches Image, ihre Reputation nicht leidet. Wenn dann die Arbeitsbedingungen bekannt werden beispielsweise von Unternehmen, die in China produzieren lassen, kann das unter Umständen zu einem Imageschaden führen, der ab einem bestimmten Punkt auch Geld kostet, weil vielleicht weniger Produkte gekauft werden oder die Marke an Wert verliert. Da spielt das dann schon eine Rolle.

Die Vereinten Nationen sollten eigentlich in der Handelspolitik eine viel, viel größere Rolle spielen, auch um die Interessen der Schwellen- und Entwicklungsländer stärker zu vertreten. Leider haben sie bei den großen Jungs und Mädels relativ wenig zu sagen. Gerade CETA und TTIP zeigen ja, daß es einen Prozeß hin zu bilateralen Abkommen gibt. Dagegen ist die WTO - und wir als Linke haben sie häufig kritisiert und tun das auch weiterhin - eine Ausgeburt an Transparenz. Bei der WTO war es so, daß die großen Staaten ihre Interessen irgendwann nicht mehr durchsetzen konnten wie vorher, weil zum Beispiel die BRICS-Staaten, also die Schwellenländer, gesagt haben, wir verkaufen uns hier in den Verhandlungen nicht mehr zum Nulltarif. Deswegen haben die großen Staaten diese bilateralen Verträge geschaffen, denn sie haben gesagt: Okay, wenn wir auf multilateraler Ebene nicht mehr weiterkommen, machen wir jetzt eben bilaterale Verträge und versuchen so, die in den Schwitzkasten zu nehmen.


Fabio De Masi spricht - Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Interview
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Von der europäischen Linkspartei wurde vor kurzem unter Ihrer Mitwirkung eine Studie zu den möglichen Folgen von CETA und TTIP für Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. [3] Darin wurde der US-Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz mit den Worten zitiert: "Die alte Geschichte, daß Handel automatisch für alle gut ist, stimmt einfach nicht." Verstehen Sie das in einem grundsätzlichen Sinne oder impliziert diese Aussage, daß das vielleicht alles nur besser reguliert werden müßte?

FDM: Nein, das verstehe ich auch grundsätzlich. Wenn wir über die Globalisierung sprechen - denken wir an den Klimawandel -, gibt es Bereiche, wo wir ganz eindeutig weniger Globalisierung brauchen. Angesichts der ökologischen Herausforderung ist es zum Beispiel einfach nicht vertretbar, daß wir jedes Agrarprodukt einmal quer über den Atlantik schicken. Wozu? Das hat keinen Selbstzweck, das verursacht Transportkosten. Wir brauchen eigentlich mehr regionale Wirtschaftskreisläufe; insofern gibt es auch Bereiche, wo wir weniger Handel brauchen. Die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist so, daß der Handel schneller wächst als die Wirtschaft. Das bedeutet, daß nahezu ein Wirtschaftskrieg um Absatzmärkte herrscht, und das ist im Zweifel nicht gesund.

Zweitens ist es natürlich so, daß in der Geschichte des internationalen Handels meistens die Nationen erfolgreich waren, die ihre Industrie eine Zeitlang geschützt haben, bis sie überhaupt wettbewerbsfähig genug war, und dann erst ihre Märkte geöffnet haben. Es gibt Handel, der sinnvoll ist, wenn sich zum Beispiel Volkswirtschaften ergänzen, weil einige Länder über bestimmte Ressourcen oder ein gewisses Knowhow nicht verfügen und dies dann importieren können. Die Chinesen zum Beispiel haben immer stark auf Joint Ventures gesetzt, um vom Knowhow westlicher Konzerne zu profitieren. Aber das muß dann in einem bestimmten Rahmen stattfinden.

Einfach zu sagen, daß der sogenannte freie Handel insgesamt Wohlstand bringen würde, davon haben sich eigentlich auch Mainstream-Ökonomen - Paul Samuelson ist einer der großen Namen - verabschiedet, weil zum Beispiel klar ist, daß ein Land, wenn es erst einmal eine chemische Industrie etabliert hat, andere Marktteilnehmer gar nicht mehr reinläßt. Dann gibt es die sogenannten Skaleneffekte, was bedeutet, daß sehr große Industrien andere Wettbewerber plattmachen können. Wir sehen ja täglich in bestimmten Regionen Afrikas, wie dort lokale Märkte und die Wirtschaft zerstört werden durch den Markteintritt sehr, sehr großer Wettbewerber. Deswegen hat das auch wenig mit freiem Handel zu tun. Das ist vielmehr so, als würde man ein Rehkitz und einen Tiger in einen Käfig sperren und zu ihnen sagen: jetzt einigt euch mal. Daran ist wenig frei. Deswegen geht es beim Freihandel - Sprache ist ja meistens auch dazu da, ein bißchen die Wirklichkeit zu verzerren - eben nicht um freien Handel, sondern im Prinzip um die Marktmacht der großen Konzerne, die die Märkte dann dominieren. Mit freiem Wettbewerb oder ähnlichem hat das relativ wenig zu tun.

SB: Wäre denn ein fairer Handel, wie er so oft gefordert wird, ein Gegensatz dazu?

FDM: Da wäre die Frage zu klären, was ist eigentlich fair? Das ist immer eine Sache des Maßstabs. Es gab ja Prozesse in Lateinamerika, wo zum Beispiel gesagt wurde, daß man bestimmte Infrastrukturen schafft, die gemeinsam genutzt werden können. Auch im Kongo ist es häufig das Problem, daß bestimmte Anbieter ihre Waren gar nicht absetzen können, weil eine Brücke zwischen zwei Dörfern nicht existiert. Natürlich wäre es dann sinnvoll, diese Brücke zu bauen, damit bestimmte Ressourcen, die es im Osten gibt, in den Westen gebracht werden können und umgekehrt. Insofern gibt es natürlich auch sinnvollen Handel, aber er muß dann auch so gestaltet sein, daß da zum Beispiel ein bestimmtes Knowhow auf ein gutes Warenangebot trifft und es eben nicht darum geht, die Lebensbedingungen der Menschen zu verschlechtern durch immer niedrigere Löhne und sinkende Sozialstandards.

Ein Beispiel: Wir haben in der EU das sogenannte Herkunftslandprinzip. Das bedeutet, wenn ein polnischer Bauarbeiter auf eine deutsche Baustelle geschickt wird, hat er nicht zwingend einen Anspruch auf den deutschen Lohn vor Ort nach Tarif, sondern wird nach der Herkunft des Unternehmens bezahlt. Umgekehrt ist es aber so, wenn ein deutscher Bauunternehmer nach Polen geht, zahlt er ja auch nicht den höheren deutschen Lohn nach seinem Herkunftsland, sondern häufig den niedrigen polnischen. Eigentlich sollte der Zweck des Handels doch sein, daß bestimmte Staaten zum Beispiel Investitionen anziehen, damit das höhere Knowhow in diese Länder kommt und dort die Produktivität steigert. Wir erleben aber mit diesem Herkunftslandprinzip - und das ist quasi der genetische Code all dieser Abkommen -, daß man wechselseitig die niedrigeren Standards anerkennen muß. Ist dann zum Beispiel die höhere Produktivität in Deutschland, wird das höhere Knowhow mit den niedrigeren Löhnen kombiniert. Das macht für das Land mit dem niedrigen Lohnniveau keinen Sinn, weil es im Endeffekt die wirtschaftliche Entwicklung dort nicht fördert. Stattdessen führt das dazu, daß in dem Land, das eine höhere Produktivität und von daher auch ein höheres Lohnniveau hat, die Löhne unter Druck geraten.

SB: Vielen Dank, Herr De Masi, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe den Bericht zu der Veranstaltung mit Fabio de Masi am 13.10.2016 in Hamburg im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/247: Restverwertung global - feldgequert und spaltgenährt ... (SB)

[2] http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/bvg16-071.html

[3] CETA und TTIP an Rhein und Ruhr. Was droht Nordrhein-Westfalen und seinen Kommunen durch die transatlantischen Handelsabkommen? Autor: Thomas Fritz, Herausgeber: Die Linke.im Europaparlament/Vereinigte Europäische Linke

19. Oktober 2016


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