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INTERVIEW/321: Soziale Löcher - Mittelstand bigott ...    Joachim Speicher im Gespräch (SB)


Wohlstand durch Armut

Interview am 30. Juni 2016 in Hamburg-Wilhelmsburg



J. Speicher energisch gestikulierend in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Joachim Speicher
Foto: © 2016 by Schattenblick

Joachim Speicher, Jahrgang 1960, ist seit 2009 Geschäftsführender Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Hamburg. Seit Jahren tritt er als Kritiker von Armut und ihrer Beschönigung durch Politik und Gesellschaft öffentlich in Erscheinung. Schon 2013 warnte er, nachdem er zum Sprecher der Nationalen Armutskonferenz gewählt worden war, in seiner Antrittsrede eindringlich davor, daß unsere Gesellschaft tief gespalten sei und diese Spaltung immer mehr zunähme. Am 30. Juni dieses Jahres nahm er als Referent an der von der Fraktion der Partei Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft veranstalteten Podiumsdiskussion "Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg" im Bürgerhaus Wilhelmsburg teil. [1] Im Anschluß daran erklärte er sich bereit, mit dem Schattenblick über die sich daraus ergebenden Fragen zu sprechen.


Schattenblick (SB): Nach der Diskussionsveranstaltung eben drängt sich einmal mehr eine Frage auf, die ohnehin im Raum steht: Warum kann man es nicht erreichen, die Forderungen, die Situation der Beschäftigten und vor allen Dingen auch die Lage der Menschen von Grund auf zu verbessern, so sehr nach vorne zu bringen, daß ihnen von der Politik auch entsprochen werden muß?

Joachim Speicher (JS): Es gibt verschiedene Hypothesen dazu, warum das viele Menschen, wie es den Anschein hat, nicht interessiert. Eine lautet, daß es dem Mittelstand in Deutschland emotional und auch wirtschaftlich von seinem Wohlfahrtsstatus her so gut geht, daß die Menschen, die an den Schaltstellen der Macht sitzen und tatsächlich Entscheidungen treffen könnten, sich schlichtweg nicht vorstellen können, in welchen Lebenssituationen andere Menschen leben. Es gibt Hinweise und auch Untersuchungen dazu, wer als Volksvertreter im Bundestag sitzt und wie viele von ihnen in ihrem Leben schon Armutsbetroffenheit erlebt haben. Dabei ist interessant, daß frühere Abgeordnete, die vor zwei, drei Generationen im Bundestag saßen, durch ihre eigenen Erfahrungen in der Nachkriegszeit wie auch Kriegs- und Fluchterlebnisse viel stärker selber betroffen und deshalb auch sensibler waren, wenn es um diese Themen ging. Sie waren bereit, auch wenn es ihnen selbst inzwischen schon besser ging, darüber zu sprechen.

Der zweite Grund sind die Medien. Wir haben offensichtlich eine Kultur entwickelt, in der der Individualismus angeblich über alles geht. Wir lieben Sprichworte wie "jeder ist seines Glückes Schmied". Die hört man sehr häufig, und irgendwann wurde daraus dann "Fordern und Fördern". Immer ist darin die Perspektive enthalten, daß der einzelne für seine Lage selbst verantwortlich ist. Da könnte man philosophisch und historisch überlegen, wie weit das zurückgeht, vielleicht bis Luther oder noch viel weiter. In unserer Gesellschaft ist dieser Gedanke beim Thema Armut offensichtlich sehr ausgeprägt. Der einzelne ist selbst verantwortlich, er muß sich nur bemühen, sich anstrengen und fleißig sein.

Aus der Mittelschichtsperspektive heraus wird das dann mit der eigenen Situation verglichen. Dabei unterliegt man dem Irrtum anzunehmen, daß das Glück, im Wohlstand zu leben, das Ergebnis eigener Bemühungen sei. Das wird dann miteinander verquickt, und schon hat man die Idee, Menschen, die in Armut leben, zu sanktionieren, weil sie gewisse Dinge nicht tun. Das ist eigentlich eine fürchterliche Abartigkeit, das muß man einmal ganz deutlich so sagen. Keiner käme auf die Idee, anderes abweichendes Verhalten, beispielsweise Steuerhinterziehungen oder andere Nettigkeiten, die in Deutschland auch massenhaft verbreitet sind, auf diese Weise zu sanktionieren. Ich meine jetzt nicht nur Herrn Hoeneß oder andere hochstehende Persönlichkeiten, sondern die vielen, die hier und da ein bißchen schummeln bei der Steuererklärung und das eine oder andere eben doch nicht angeben. Wenn man das miteinander vergleicht, zeigt sich eine sehr sonderbare Situation, nämlich daß wir von Armut betroffene Menschen offensichtlich mit einem ganz anderen Blick sehen.

SB: Könnte da möglicherweise auch so etwas wie Angst mitspielen? Denn eigentlich müßten die Menschen in der Mittelschicht doch merken, daß auch ihre Lage zumindest von unten her allmählich aufbricht, oder nicht?

JS: Ganz sicher. Ich glaube, daß es für uns ganz wichtig ist, sagen zu können: Ich gehöre nicht dazu. Offensichtlich führt dieses Sich-Abgrenzen immer auch dazu, die eigene Position zu sichern. Dazu gibt es ein sehr schönes Buch, "Gesellschaft der Angst" von Herrn Bude [2], der darüber geschrieben hat, daß wir es natürlich auch mit sehr vielen unbewußten Ängsten zu tun haben und daß es gerade für uns in Deutschland ganz wichtig ist, den sozialen Status zu halten. Wir wollen auch mit Armut nicht konfrontiert werden, höchstens abends auf der Couch eine Viertelstunde, von 20.00 Uhr bis 20.15 Uhr in der Tagesschau, und dann ist auch wieder gut.

Unser gesamtes Leben scheint ja sehr stark mittelschichts- und oberschichtsgeprägt und auf den Glauben ausgerichtet zu sein: Sei fleißig, sei strebsam, erreiche materiellen Wohlstand, dann geht es dir gut und du lebst in Frieden. Das betrifft sozusagen die Urängste, die wir als Menschen haben, also die Ängste vor Verlust, Tod, Krankheit und so weiter, die wir in einem guten Wohlstands-Mittelschichtsleben scheinbar gut bändigen können. Da stören dann Bilder von und Begegnungen mit armutsbetroffenen Menschen. Ich finde es immer wieder sehr erstaunlich, wenn in den Medien zum Beispiel über Kinderarmut berichtet wird, wie sehr das dann aus Menschen, die das in ihrem Alltag nicht wahrnehmen, emotional herausbricht. Wenn Sie zu diesem Thema beispielsweise in der Weihnachtszeit Spendenaufrufe machen, dann sind die Menschen spendenfreudig ohne Ende. Bestimmte Armutsthemen erreichen sie so emotional, daß man daraus die Hypothese ableiten kann, daß das auch sehr viel mit Emotionalität zu tun hat.


J. Speicher vor Fensterwand sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Während des Interviews im Bürgerhaus Wilhelmsburg
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Was halten Sie denn von der Nationalen Armutskonferenz? [3] Es gibt sie ja schon ziemlich lange, doch die soziale Schere klafft weiter auseinander denn je. Wenn man sich anschaut, wer da alles drin ist, könnte man meinen, das sei doch eigentlich ein gesellschaftlich relevanter Faktor. Wie schätzen Sie das ein?

JS: Die Mitwirkung in der Nationalen Armutskonferenz ist für unseren Verband sehr wichtig. Wir sehen aber auch, daß der Versuch, ein sehr breites Bündnis aufzustellen aus Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Betroffenenorganisationen gleichzeitig dazu führt, daß es eben keine pointierten oder sehr kämpferischen Positionen in der Nationalen Armutskonferenz geben kann. Ihre Schwäche ist, daß sich die Akteure, die sich als einzelne sehr engagiert um das Armutsthema kümmern, im Zusammenschluß leider Gottes allzu häufig gegenseitig neutralisieren.

SB: Wie ist denn das Selbstverständnis gegenüber der Bundesregierung? Versteht sich die Armutskonferenz als der bessere Ratgeber, der sagt, ihr müßtet da auf der sozialen Ebene wirklich einmal etwas tun, oder herrscht doch eher die Vorstellung vor, daß diese Fortschritte nur sozusagen von der Basis aus erkämpft werden können?

JS: In der Nationalen Armutskonferenz gibt es auch darüber völlig unterschiedliche Positionen. In dem Verband, den ich jetzt vertrete, steht in Berlin seit einigen Jahren Ulrich Schneider [4] an der Spitze, der ganz klar den Weg wählt - auch für den Verband -, sich klar zu äußern und zu positionieren, weil gewisse Dinge wirklich nur mit einer klaren Anklage, Polemisierung und Pointierung nach vorne gebracht werden können. Es gibt jedoch in der Nationalen Armutskonferenz und ihren 15 oder 20 Organisationen mit ihren völlig unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Lage keine gemeinsame Erklärung, daß man jetzt aber wirklich einmal handfeste Protestaktionen machen, auf die Straße gehen und richtig laut werden müßte. Natürlich ist die Armutskonferenz am Schluß auf den Konsens bedacht. Da gibt es dann immer jemanden, der zu irgendeinem Thema - das kann 'mal dieses, 'mal jenes sein - sagt: Das können wir so nicht mittragen und wenn es doch gemacht wird, scheren wir aus.

SB: Wie ist es denn um die Umsetzung des Anspruchs auf Selbsthilfe und Selbstorganisation Betroffener Ihrer Erfahrung nach bestellt?

JS: Im Moment, glaube ich, täten die Selbsthilfe- und Betroffenenverbände, also das Armutsnetzwerk Deutschland [5] beispielsweise, gut daran, sich Stärkung und Unterstützung zu holen, um sich selber aus der Selbsthilfe heraus auch als echte Selbsthilfe zu artikulieren. Das Problem ist dabei natürlich, daß ihnen häufig die Ressourcen und Mittel fehlen oder auch die sogenannte professionelle Erfahrung, die man braucht, um so etwas zu tun. Das wäre, finde ich, eigentlich die Aufgabe der Nationalen Armutskonferenz, also daß beispielsweise wir als Wohlfahrtsverbände oder Großorganisationen uns nicht in den Vordergrund drängen, was wir leider viel zu häufig tun, sondern daß wir viel stärker als bisher die Betroffenenorganisationen unterstützen, damit sie sich selber artikulieren und sichtbar machen können.

Wenn so jemand kommt wie ich und etwas von Armut erzählt, gibt es natürlich immer auch ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem. Der eine oder andere von uns wird dann natürlich sagen: Ja, ich war auch einmal arm. Aber dann sind wir wieder bei dem Thema, über das ich vorhin gesprochen habe, man redet dann über die Armut, die man als Student hatte. Ich wollte aber deutlich machen, daß Armut nicht nur eine Einkommensarmut ist, sondern daß sich mit der geringen Kaufkraft eingeschränkte Möglichkeiten verbinden, die mir diese Gesellschaft an Kontakten, Austausch, Solidarität und so weiter bietet. Für mich ist es eine sehr wichtige Erkenntnis, die ich in den 70er Jahren als junger Mensch nicht hatte, daß Solidarität auch etwas mit Geld zu tun hat. Schlimm genug, aber es ist so.

SB: Nun gibt es inzwischen sehr starke Proteste gegen TTIP, ganz im Gegensatz zur Armutsbekämpfungsbewegung, von der man eigentlich kaum reden kann. Sind Sie da vielleicht auch so ein bißchen neidisch und fragen sich, warum engagieren sich so viele Menschen - was ja auch nur zu begründet ist - gegen die Freihandelsabkommen, aber nicht für die Belange, die ja eigentlich jeden von uns betreffen?

JS: Da bin ich eher bestürzt. Wir sind als Paritätischer Wohlfahrtsverband auch sehr stark engagiert gegen TTIP und CETA und stellen fest, daß wir da sehr, sehr viel Nachholbedarf haben. Das betrifft die Kernfrage, die hier vorhin schon diskutiert worden ist: Wie mobilisieren wir eigentlich Menschen, auch diejenigen, die in einem Verband wie unserem engagiert sind? Im Paritätischen wird man ja nicht als einzelner Mensch Mitglied, sondern als Organisation. Bei uns sind natürlich die großen Organisationen, die in der Pflege, in der Behinderten- und Jugendhilfe Mainstream sind, aber wir haben auch sehr, sehr viele Selbsthilfeorganisationen, die sich als Vereine gegründet haben und dann Solidarität, Unterstützung und den Schulterschluß mit anderen in einem solchen Verband suchen.

Wir haben festgestellt, daß es da ähnlich wie bei der Armutsfrage Mechanismen gibt, auch mediale, die sich so auswirken, daß die Leute irgendwann sagen: "Na ja, mit TTIP haben wir nichts zu tun, wir sind ja der soziale Bereich. Bei TTIP geht es um Glyphosat, um Freihandel und Zölle, natürlich auch um den Naturschutz und das Chlorhühnchen." Das ist für mich immer wieder faszinierend, und ich frage mich dann: Was könnte uns veranlassen, das zu hinterfragen? Bei uns war es Ulrich Schneider, der irgendwann gesagt hat: "Wir müssen uns mit TTIP befassen. Habt ihr euch einmal angesehen, was da drin steht und was das bedeutet? Was ist, wenn die unabhängige Patientenberatung - wie inzwischen geschehen - nicht mehr aus einer Bürgerbewegung heraus einen Verein gründet und aktiv wird, sondern wenn ein Pharmakonzern in Holland sein Ausschreibungs- und freies Marktrecht beansprucht und sagt, diesen Job machen wir und wir bieten das auch zu günstigen Tarifen an?"

Damit befaßt sich dann eine gewisse, wie ich sie einmal nennen möchte, professionelle Elite, auch bei uns. Trotzdem frage ich mich: Was machen all die anderen? Welchem Muster und medialen Faden folgen sie, wenn sie sich nicht damit beschäftigen, auch dann nicht, wenn man ihnen sagt, da solltest du dich unbedingt mit befassen? Auf welchem Weg sind sie unterwegs, wenn sie einem nicht glauben, wie ernst das ist? Und so ist es meiner Meinung nach in der Armutsdebatte auch. Es gibt im Moment eine Debatte darüber, ob die Zahlen, die unser Verband in seinem Armutsbericht Jahr für Jahr veröffentlicht, geschönt sind, was in Medien wie der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Zeit und schließlich auch im Spiegel verbreitet wurde. [6]


J. Speicher am Rednerpult stehend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Aufklärung über Armut und die funktionalen Begrifflichkeiten ihrer Benennung
Foto: © 2016 by Schattenblick

Da wird dann gesagt, das mit dem relativen Armutsbegriff sei so eine Sache, das sei alles nicht so ganz richtig. Und dann kommen Argumente, die sind so einfach wie blöd: Wenn wir alle Millionäre wären und es gäbe dann noch ein paar Millionäre mehr, die noch mehr Millionen hätten, wäre sozusagen der Millionär, der nur eine Million hat, arm. Das klingt einfach und leuchtet vielen ein. In allen großen Blättern Deutschlands wird dann verbreitet, deshalb sei der relative Armutsbegriff des Paritätischen nicht richtig, obwohl das Quatsch ist, denn der ist ja, wie ich vorhin schon in meinem Vortrag [1] erklärt habe, ein offiziell normiertes Verfahren. Was wäre das denn für eine ökonomische Situation, in der wir alle eine Million hätten? Das hatten wir schon einmal in den 20er Jahren, das nennt man Inflation! Es kommt doch immer auf den Abstand an. Die Situation, daß wir alle gleich viel Geld hätten, gibt es nicht.

SB: Da könnte man ja fast meinen, daß politisches Bewußtsein verlorengegangen ist?

JS: Das ist ja auch so. Oskar Negt hat einmal gesagt, das Schlimmste sei - das ist eine Hypothese, die ich nie belegen könnte, aber die ich gerne weiter untersuchen würde -, daß wir schon in den Schulen die Fächer, die zu politischer Bildung führen und die man früher Sozial- oder Sachkunde nannte, ziemlich vernachlässigen. Er kritisierte, daß wir in der Bildung und Ausbildung unserer Kinder und Jugendlichen wenig Wert auf die Entwicklung eines starken individuellen politischen Bewußtseins legen. Wir legen offensichtlich sehr viel Wert auf den Konsum. Da ist die Werbung sehr prägnant, in der es heißt: mein Auto, mein Haus, meine Frau, mein Pferd, mein Swimmingpool. Alles, was davon abweicht und was mir über Bilder, Texte und sogar Gerüche übermittelt wird, will ich gar nicht wissen. Ich will zum Beispiel nicht damit konfrontiert werden, wie Armut riecht. Warum müssen Armutsbetroffene und Wohnungslose aus den Fußgängerzonen entfernt werden? Weil sie das Stadtbild stören? Das ist doch völlig absurd.

SB: Es gibt heute die sogenannte Willkommenskultur. Klaus Dörner [7] sagte einmal, seiner Überzeugung nach hätten sehr, sehr viele Menschen das Bedürfnis, ehrenamtlich zu arbeiten. Nicht immer, aber vielleicht ein paar Stunden in der Woche. Da schwört er drauf.

JS: Helfensbedürftig hat er das genannt. [8]

SB: Eine solche Solidarität kommt nicht unbedingt aus einem Lebenszusammenhang, in dem man feste Bindungen eingeht und sagt, ich halte zu dir, egal was kommt, sondern wo man sagt: für ein paar Stunden würde ich gerne etwas tun. Ist das ein Phänomen, das man mit der Bekämpfung der Armut vielleicht gar nicht zusammenbringen kann?

JS: Dazu habe ich eine Idee. Das begegnet einem wirklich häufig, daß Leute sagen, damit will ich nichts zu tun haben. Dann gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die sich dabei ertappen, was sie wirklich denken. Aber aufgrund ihrer Sozialisation oder wegen ihrer Moral sagen sie: Das darf ich doch gar nicht denken. Und dann helfen sie drei Stunden im Monat und sagen sich: Gott sei Dank bin ich nicht so wie die anderen. Aus meiner Sicht ist das eine Art Ausgleich, um letztendlich doch die Abgrenzung zu sichern.

Natürlich gibt es in der Flüchtlingshilfe Menschen, die das schon sehr, sehr lange machen. Wir haben jetzt aber die Situation - medial gehypt, was auch gut ist, denn die Helfenden werden wirklich gebraucht -, daß viele zum Beispiel nicht für sich selber sorgen. Wir haben Menschen erlebt, die sich nicht nur für drei Stunden, sondern bis zur Erschöpfung engagieren, aber immer, um damit gleichzeitig auch den eigenen Rückzug vorzubereiten, und immer schwingt da viel Moral mit. Es ist gewagt, aber ich würde wirklich sagen, daß das keine echte Solidarität ist. Wenn ich helfe, habe ich ein gutes Gefühl und ich bin dir dankbar, daß du dich mir anbietest, daß ich dir helfen kann, weil ich mir damit ein gutes Gefühl verschaffen kann.

SB: Da spukt wohl immer noch die Schuldfrage drin herum, so als ob man sich irgendwie freikaufen könne.

JS: Mit Sicherheit, ja. Das gibt es, das sehe ich auch so. So etwas zu sagen ist natürlich immer ungerecht, vor allen Dingen im Einzelfall gegenüber all denjenigen, für die das mit Sicherheit nicht zutrifft. Ganz deutlich wird das bei den Tafeln, auf die man auch einen kritisch würdigenden Blick haben muß. In der Nationalen Armutskonferenz haben wir leidenschaftlich darüber gestritten und debattiert und werden da auch keine Lösung finden. Ist das Armutsbekämpfung oder Armutslinderung? Da gibt es eine sonderbare Debatte. Die Armutslinderer werden nicht ganz so gelitten wie die Armutsbekämpfer.

SB: Können Sie die Kritik an den Tafeln näher erläutern?

JS: Die Tafeln sind Armutslinderer. Jetzt kann man natürlich radikal-politisch argumentieren, indem man sagt, sie lindern nicht nur Armut, sondern stabilisieren sie auch. Zum Teil ist das ja auch so. Paradoxerweise war es Herr Ramelow [9], der in Thüringen mit Stolz gezeigt hat, daß die Tafeln jetzt große Hallen haben mit Gabelstaplern und viel Logistik und wie toll das alles ist. Aber letztendlich ist das alles ehrenamtlich. Für eine solche Struktur der Armutslinderung wäre es wahrscheinlich eine Katastrophe, wenn die Zahl der Armen abnehmen würde.

SB: Da könnte man weiterfragen, was wohl noch alles zur Armutslinderung gehört. Nun war das heute eine Veranstaltung der Hamburger Linksfraktion. Da hätte eigentlich auch die Frage gestellt werden können, was das alles mit dem Kapitalismus zu tun hat. Wundern wir uns wirklich darüber, daß Armutsbekämpfung zwar oft als Wort im Munde geführt wird, daß aber Zahlen und Fakten und alles übrige für eine gegenteilige Entwicklung sprechen?

JS: Ja, das ist so. Bei der letzten Bundestagswahl hat der Deutsche Akademische Austauschdienst eine Wahlbeobachterkommission nach Deutschland eingeladen. Das ist interessant, denn wir denken ja immer, daß die Vereinten Nationen, die OECD oder wer auch immer Wahlbeobachter in die Bananenrepubliken dieser Welt schicken, um zu prüfen, ob die auch anständig wählen. Und dann hatten wir plötzlich selber eine solche Kommission im Land, besetzt überwiegend aus Germanisten oder anderen Experten aus anderen Ländern der Erde, die sich mit Deutschland befassen. Politologen waren auch dabei. Das war eine hochspannende Kommission. Die kamen auch nach Hamburg, und wir hatten die Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Die wollten sich mit uns ein bißchen darüber unterhalten, wie das eigentlich hier bei uns mit der Armutsbekämpfung und so weiter so geht.

Vor allen Dingen die Afrikaner waren sehr kritisch. Eine Frau aus Ghana - ich werde das nie, nie vergessen, sie sprach in perfektem Deutsch mit allem drum und dran und hatte sich schon sehr lange mit Deutschland beschäftigt - sagte: Das ist ja gut, daß ihr bei uns die Preise für die Rohstoffe und Exporte, die wir für euch herstellen, mit den kapitalistischen Mechanismen so niedrig haltet. So könnt ihr das auf uns runterdrücken, damit ihr weiterhin eure Hartz-IV-Empfänger, eure Armutsbevölkerung auf relativ hohem Niveau für günstig wenig Geld gut ernähren könnt. Auf diese Weise sichert ihr letztendlich die Ausbeutung. [10] Sowohl Detlef Scheele [11], der damals dabei war, als auch ich, wir konnten nichts dazu sagen.

SB: Der damalige Sozialsenator Hamburgs?

JS: Ja. Der war natürlich völlig verblüfft. Ich habe nur gesagt: Natürlich ist das so, klar. Das hört ja nicht an unseren Grenzen auf, auch nicht am Binnenmarkt. Die Dinge, die wir importieren oder die Rohstoffe und sonstigen Dinge, die wir ja auch auch ausbeuten... Da muß man jetzt nicht Kommunist sein und auch nicht Marx gelesen haben. Aber klar ist doch: Würden wir die Dinge der Ausbeutung in anderen Ländern zu fairen Preisen im fairen Handel kaufen, könnten wir uns hier in Deutschland nicht dieses Heer armer Menschen leisten. Wir leisten sie uns aber und wir brauchen sie ja auch.

Bei diesen Zusammenhängen wird man immer sehr schnell akademisch, und natürlich wird man in dieser Gesellschaft und in dem Wirtschaftssystem, in dem wir leben, sofort schräg angeguckt, wenn man sagt, dieses System braucht arme Menschen, um zu funktionieren. Die Agenda 2010 hat deshalb funktioniert, weil man wußte, daß es ein Erfolg für den Mittelstand werden würde. Der Mittelstand erkauft sich sozusagen seinen Wohlstand und seine behagliche Biederkeit, die er dann auch ausleben kann auf Kosten der Armutsbevölkerung, des Niedriglohnsektors und der prekären Situationen auch in der Rente. Der Mittelstandswohlstand ist erkauft und wird dann aufs Ganze projiziert, indem gesagt wird: Unser Nation geht es doch gut. Kennen Sie das Bild mit dem Backofen und dem Kühlschrank?

SB: Nein. Was ist das?

JS: Das geht so: Wenn man den Kopf im Backofen hat und die Füße im Kühlschrank, hat es der Bauch durchschnittlich warm. Und damit die Temperatur im Bauch in der weiteren Durchschnittstemperatur behaglich bleibt, muß ich, wenn hier oben der Backofen heißer wird - also wenn die Vermögen noch größer werden -, unten im Kühlschrank die Temperatur noch weiter runterstellen. Sicher, man kann das überreizen, aber für mich ist das ein wirklich schönes Bild. Es zeigt, wer eigentlich beurteilt, ob es uns gut geht. Ich habe heute irgendwo gelesen, daß wir gerne vom Durchschnittseinkommen und -alter der Kreuzfahrtnutzer auf die Lebenssituation der Rentner in Deutschland schließen. In solchen Filmberichten sitzen dann 200 Rentner auf der Queen Mary und fahren nach Southampton, und wir sehen uns an, welches Einkommen sie im Schnitt haben und wie alt sie sind und sagen dann: Wow, den Rentnern in Deutschland geht es aber wirklich gut.

Was ich damit sagen will: Wer hat eigentlich das primäre Recht zu definieren, daß es uns gut geht? Das ist genau die Schicht, zu der wir ja auch gehören und die so tut, als sei das die ganze Wahrheit. Dazu fällt mir ein Buch ein, "Die Asozialen" von Walter Wüllenweber. [12] Klar gibt es deviante [13] Jugendliche, für die keine Regeln mehr gelten, oft aus einer Armutsperspektive heraus. Doch der Autor sagt, interessanterweise gelten für die Jugendlichen von Superreichen genau dieselben Devianzregeln. Das nennt er dann sehr provokativ "Die Asozialen".

Der Jugendliche, der uns immer exemplarisch vorgeführt wird, ersticht messerfuchtelnd Passanten am Jungfernstieg, weil ihm alles egal ist und er keine Emotionen mehr hat. So wird das in dem Buch beschrieben. Genau denselben Effekt hat man aber auch bei den Superreichen. Anstrengungsloser Wohlstand. Der Jugendliche weiß - ob er Abitur hat oder nicht und ob er überhaupt die Schule schafft, spielt überhaupt keine Rolle - sozusagen schon mit dem ersten Gedanken, den er in seinem sechsten Lebensjahr halbwegs klar fassen kann, daß er irgendwann einmal 20 Milliarden erbt oder jetzt schon besitzt und daß, wenn er das Alter des Erbens erreicht hat, aus diesen 20 Milliarden automatisch 30 geworden sind und er dazu gar nichts beitragen mußte. Das ist doch irre! Doch die Superreichen definieren nicht die Wirklichkeit und die Armen auch nicht, sondern die in der Mitte, und die haben natürlich auch von der Agenda 2010 definitiv profitiert.

SB: Zu Hartz IV wird häufig gesagt, daß die eigentliche Katastrophe auch darin liegt, daß die Agenda 2010 in Deutschland so reibungslos durchgesetzt werden konnte, während in Frankreich, wenn man das jetzt einmal vergleichen wollte, die Arbeitsrechtsreform zu massiven Protesten geführt hat.

JS: Ich bin in der Nähe der Grenze aufgewachsen und habe Freunde und zum Teil auch Familie drüben in Frankreich. Da ist die Lage wirklich eine völlig andere, auch mit einem ganz anderen historischen Bewußtsein. Der Text der Marseillaise ist zwar fürchterlich, militaristisch ohne Ende, aber dieses Bewußtsein von Zusammengehörigkeit und Solidarität... Das geht auch in Frankreich natürlich nicht bis in die Eliten hinein. Aber in den befreundeten Familien zum Beispiel ist es völlig selbstverständlich, daß junge Leute, auch die Schüler, auf die Straße gehen, wenn es den Rentnern ans Leder geht. Solche Traditionen gibt es, glaube ich, bei uns seit 1848 nicht mehr.

SB: Auch 1968 war die Situation in Frankreich noch einmal eine andere als hier in Deutschland, wo die Studentenbewegung weitgehend unter sich blieb.

JS: Ja, das schwappte zum Teil auch zu uns über. Aber was ist davon heute noch übrig? In der Friedensbewegung gab es noch eine starke Solidarität, auch in der Anti-AKW-Bewegung. Ein Freund erzählte mir, daß Schwarz-Schilling, Postminister unter Kohl, einmal gesagt habe: Daß wir damals die Straßen aufgerissen haben, um dieses blöde Kabel in den Boden zu verlegen, damit jeder RTL und so weiter und den ganzen Schwachsinn empfangen kann, sei der Niedergang des politischen Bewußtseins gewesen. Manchmal glaube ich an die Vereinfachung, sie gefällt mir! (lacht) Wenn man sieht, wie sich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen verändert hat in seinen Angeboten, ist das natürlich kein Wunder. Klar, es gibt die Nischensender, aber die Idee, die man ja irgendwann einmal hatte, nämlich daß die Öffentlich-rechtlichen zur politischen Bewußtseinsbildung beitragen und nicht nur Nachrichten bringen sollen, ist doch verlorengegangen.

SB: Herr Speicher, wir bedanken uns für das lange Gespräch.


J. Speicher in Großaufnahme, lächelnd - Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Glaube an die Vereinfachung...
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Siehe den Bericht zu den Referaten - u.a. von Joachim Speicher - auf der Veranstaltung im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/241: Soziale Löcher - soziale Kompressen ... (SB)

[2] Das Buch des Soziologen und wissenschaftlichen Mitarbeiters des Hamburger Instituts für Sozialforschung Heinz Bude "Gesellschaft der Angst" erschien im September 2014.

[3] Die Nationale Armutskonferenz (nak), ein Zusammenschluß der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, einzelner Fachverbände und vieler Selbsthilfeorganisationen, wurde im Herbst 1991 ins Leben gerufen. Es ist ein vornehmlich in politischem Lobbyismus und Öffentlichkeitsarbeit tätiger Verband, der auch im Beirat zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vertreten ist. Die nak ist zugleich deutsche Sektion des European Anti Poverty Network (EAPN), einem europaweitem Netzwerk der Armutsbekämpfung, das sich auf europäischer Ebene u.a. bei sozialpolitischen Veranstaltungen der Europäischen Kommission engagiert.

[4] Siehe auch das Interview mit Ulrich Schneider am Rande der Anti-TTIP-Demonstration am 23. April 2016 in Hannover im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER/GESELLSCHAFT → REPORT:
INTERVIEW/114: TTIP Nein danke - neoglobal konsequent ...    Ulrich Schneider im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0114.html

[5] Zum Armutsnetzwerk e.V. (ANW) haben sich Menschen mit Armutserfahrungen, Initiativen und Organisationen und weitere Interessierte, die sich dem Kampf gegen Armut und Ausgrenzung widmen, zusammengeschlossen. Das Netzwerk wurde 2011 gegründet, der Verein 2012. Aktiv ist er bundes-, aber auch europaweit, er ist Mitglied in der Nationalen Armutskonferenz.

[6] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-paritaetischer-wohlfahrtsverband-spielt-mit-dem-feuer-a-1078831.html

[7] Siehe auch das zweiteilige Interview mit dem Mediziner und Sozialpsychiater Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner vom 16. Januar 2014 im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:
INTERVIEW/005: Irren ist menschlich - Sturmzeit in der Psychiatrie, Klaus Dörner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/006: Irren ist menschlich - Kritikbewegt, reformbeflügelt, konstruktiv... Klaus Dörner im Gespräch (SB)

[8] Helfensbedürftig ist auch der Titel eines von Klaus Dörner verfaßten Buches. Siehe die Rezension im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH:
REZENSION/615: Klaus Dörner - Helfensbedürftig. Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert (SB)

[9] Bodo Ramelow ist seit 2014 Ministerpräsident von Thüringen. Er ist der erste "Landesfürst", der der Partei Die Linke angehört.

[10] Zur neokoloniale Abhängigkeit Afrikas vom Handelsregime der EU siehe auch im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:
BERICHT/072: Das Anti-TTIP-Bündnis - Erhalt marktregulierter Vorherrschaft ... (SB)
INTERVIEW/104: Das Anti-TTIP-Bündnis - Großer Spieler Eurozone ...    Francisco Mari im Gespräch (SB)

[11] Der SPD-Politiker Detlef Scheele war von März 2011 bis Oktober 2015 Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration in der Freien und Hansestadt Hamburg. Seit dem 15. Oktober 2015 ist er Vorstandsmitglied bei der Bundesagentur für Arbeit.

[12] Das Buch "Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert" von Walter Wüllenweber ist 2012 erschienen. Siehe auch die Rezension im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH:
REZENSION/626: Walter Wüllenweber - Die Asozialen (Politik) (SB)

[13] Als deviant bzw. Devianz wird in Soziologie und sozialer Arbeit abweichendes Verhalten bezeichnet.


Weitere Beiträge zur Veranstaltung "Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/240: Soziale Löcher - da hilft auch keine Naht ... (SB)
BERICHT/241: Soziale Löcher - soziale Kompressen ... (SB)
INTERVIEW/319: Soziale Löcher - privat initiativ, Staatshilfe schief ...    Bettina Reuter im Gespräch (SB)
INTERVIEW/320: Soziale Löcher - meistbietend verkauft ...    Johannes Richter im Gespräch (SB)


29. Juli 2016


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