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INTERVIEW/302: Migrationskonferenz Kampnagel - Die Geschichte der Opfer ...    Ibrahim Arslan im Gespräch (SB)


Mölln, Solingen, NSU - stirbt der Rassismus niemals aus?

Interview mit Ibrahim Arslan am 27. Februar 2016 auf Kampnagel in Hamburg


Die Namen der Orte, in denen in den letzten Wochen und Monaten Asylunterkünfte in Flammen aufgegangen sind, könnten fast schon eine Enzyklopädie füllen. Dabei tritt die Gewalt gegen Menschen aus anderen Kulturräumen und Herkünften nicht erst seit den Flüchtlingsströmen des letzten Jahres heftig auf. Schon in den 1980er Jahren, wenn auch weniger TV-tauglich und im Halbschatten der Öffentlichkeit versteckt, wurden Ausländer, Asylanten und diskriminierte Minderheiten, seien es Türken, Vietnamesen, Roma, Menschen mit schwarzer Hautfarbe oder Schwule und Lesben und solche mit anderen sexuellen Orientierungen, von braunen Schlägertrupps im wahrsten Sinne des Wortes niedergeknüppelt.

Daß ein massenhafter Zustrom von Asylsuchenden Überfremdungsängste in Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft weckt, die sich dann nicht anders zu helfen wissen, als diesen Anfall von animalischem Revierverhalten und Futterkonkurrenz in Übergriffen, Gewaltexzessen und Brandanschlägen zu entladen, weil die Politik eben versage und Lynchjustiz das Gebot der Stunde sei, wird als Erklärungsmotiv gerne aus der Schublade einer beschwichtigenden Ratio gezogen. Rassismus mißt sich jedoch nicht an der Zahl fremdstämmiger Menschen. Als die Ausschreitungen im sächsischen Hoyerswerda im September 1991 und in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter unter dem Applaus tausender Zuschauer tobten, lebten dort kaum mehr als ein paar hundert Ausländer und Asylanten. Tatsächlich haben Regierungsvertreter und Medien schon zu Beginn der 1980er Jahre in der öffentlichen Debatte um die Ausländer- und Asylpolitik durch populistische Kampagnen eine Stimmung angeheizt, die in den Jahren 1991 und 1992 ihren furchtbaren Höhepunkt fand.

Begriffe wie Asylbetrug und Wirtschaftsflüchtling in Zeiten einer abflauenden Konjunktur haben nur den Zweck, den Unmut der Bevölkerung auf Sündenböcke umzulenken und Feindbilder zum Abreagieren zu schaffen. Wer diesen Geist aus der Flasche läßt, braucht sich über den strukturellen Rassismus in den Institutionen der Gesellschaft, in Gesetzen, Normen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt nicht zu wundern. Die notwendige Folge davon sind Ausgrenzung, Diskriminierung und Herabwürdigung auf Seiten der migrantischen Bevölkerung. Wenn Rassismus nach wie vor mit Rechtsextremismus gleichgesetzt wird und dies als Trennstrich fungiert zum latenten bis offenen Alltagsrassismus, haben Türkenwitze und ihre Folgen Konjunktur.

Die Institutionen des Staates haben die Entstehung rechtsextremer Keimzellen wie des NSU nicht hervorgerufen, wohl aber ein undurchsichtiges Dickicht geheimdienstlicher Operationen bis zur Unterwanderung rechtsextremistischer Kreise durch V-Leute geschaffen, das bis zum heutigen Tag keiner echten demokratischen Kontrolle unterliegt. Wie Strafverfolgungsbehörden und Sonderkommissionen der Landespolizeien bei Gewalt- und Tötungsdelikten gegen Migranten vorgehen, erhellt nicht nur der Nagelbombenanschlag von 2004 in der Kölner Keupstraße. Wie auch bei der NSU-Mordserie ging die Polizei über viele Jahre von einer Türken-Mafia aus. Schutzgelderpressung, Verstrickungen in den Drogenhandel, aber kein rassistischer Hintergrund hätte hinter den sogenannten Döner-Morden gesteckt. Die Opfer-Täter-Umkehrung bestimmte lange die polizeilichen Ermittlungen.

Die Flüchtlingskonferenz auf Kampnagel war kein Bittgang, sondern eine Anklage gegen den Rassismus. In dem Workshops "Ankommensort Keupstraße: Über den Aufstieg eines migrantischen Orts, NSU-Terror, strukturellen Rassismus und die Stärke kollektiven Handelns" referierten Mitat Özdemir von der Initiative "Keupstraße ist überall", Massimo Perinelli vom "Tribunal NSU-Komplex auflösen" und Ibrahim Arslan als Überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992 über Ursachen und Folgen der in Deutschland nie wirklich aufgearbeiteten Fremdenfeindlichkeit. Die Generation Rostock dürfe nicht singulär betrachtet werden. Vielmehr gelte es, Strategien der Gegenwehr auf die zunehmenden Angriffe gegen die rechtlich Schwächsten in der Gesellschaft zu entwickeln. Angst darf nicht zum Schweigen zwingen, denn wer schweigt, macht sich mitschuldig. Anders als die erste Gastarbeitergeneration, die weitgehend isoliert ihrer Arbeit nachging und nicht aufzumucken wagte, hätten sich heute Migrantenorganisationen und Kulturvereine mit politischem Bewußtsein gegründet.

Herr Özdemir machte ferner darauf aufmerksam, daß die Keupstraße in Köln ein gelungenes Beispiel für Integration darstelle. Deutschland sei sein Land, und er werde das Feld der Auseinandersetzung nicht den Rassisten überlassen. Für Arslan, der seine Großmutter, Schwester und Cousine in der Brandnacht von Mölln verloren hatte, darf es nicht bei einem Beileidstourismus bleiben oder daß Opfer auf Gedenkfeiern zu Gästen einer Inszenierung gemacht werden. Für Rassisten ist der Feind immer der andere, und so riet er, realistisch zu sein und das Unmögliche zu fordern. Denn das Vereinigende sei, daß wir Menschen sind.

Nach dem anderthalbstündigen Vortrag war noch Raum und Zeit für eine Diskussion mit dem Publikum. Ein Gast aus Österreich mahnte den gedanklichen Extremismus an, der bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sei. Ihm zufolge entstünde Gewalt zuerst im Kopf als Ausfluß von Vorurteilen und unüberprüften Einstellungen. Ein anderer erläuterte, daß sich in Deutschland seit 1945 vieles verändert habe, so daß Schluß sein müsse mit einer kollektiven Geschichtsverdrängung, die immer nur das Schlechte sehen will, aber die Erfolge unter den Tisch fallen läßt. Ein weiterer Besucher riet denen, die Angst vor Ausländern hätten, zum Psychiater zu gehen. Überhaupt war unter den Anwesenden eine große Solidarität mit Migranten und Asylbewerbern erkennbar. Als schließlich ein Zuschauer fragte, wer in der Verantwortung sei, daß sich Sexualdelikte wie in der Kölner Sylvesternacht nicht wiederholten, erhob sich eine junge Frau und erwiderte darauf: "Die Männer vielleicht?" Im Anschluß an den Vortrag hatte der Schattenblick Gelegenheit, Ibrahim Arslan noch einige Fragen zu stellen.


Ibrahim Arslan vor dem Kampnagel-Eingang - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ibrahim Arslan
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick: Ich frage nach dem Kind, das in der Brandnacht 1992 den Verlust naher und nächster Verwandter erlitten hat: Was ist damals in dir zerbrochen?

Ibrahim Arslan: Das Schlimmste war, daß ich das Vertrauen in dieses Land und auch das Vertrauen in die Menschen verloren habe. Im Grunde hat die verlorene Kindheit mich am tiefsten zerrissen. Ich war damals sieben Jahre alt; in diesem Alter spielt man für gewöhnlich mit Matchbox-Autos, wenn man ein Junge ist, oder mit Barbie-Puppen als Mädchen. Ich dagegen mußte mich ganz früh mit Rassismus befassen. Die Wunde schmerzt bis heute, noch immer beschäftige ich mich mit dem Thema Rassismus und engagiere mich dagegen. Aber das hätte ich nicht als kleines Kind erleben müssen. Ich wurde gezwungen, mir immer wieder die Frage zu stellen, warum ich überlebt habe und die anderen nicht. Gegen dieses Schuldgefühl mußte ich kämpfen und infolgedessen ein krankes Leben führen. Das hat mich am meisten zerstört.

SB: Hast du professionelle Hilfe bekommen, um dein Trauma zu verarbeiten, oder wie bist du damit umgegangen?

IA: Ich habe elf Jahre vor Gericht um meine Opferentschädigungsrente gekämpft, genau wie mein Vater und meine Mutter. Die deutsche Gesetzgebung ist ein bißchen kompliziert, wenn man seine Ansprüche nicht rechtzeitig beantragt, tritt Verjährung ein. In meinen Augen verjährt so etwas nicht, für die Behörden aber schon. So mußten wir für unsere Opferentschädigungsrente und auch für unsere psychiatrische Behandlung lange kämpfen. Wir haben keine Hilfe bekommen, mußten alles selbst beantragen, selber zu den Ärzten gehen und uns schließlich einen Anwalt nehmen. Viele Opfer und Überlebende wissen nicht, daß sie Ansprüche und Forderungen stellen dürfen, vor allem aber haben sie ein Recht auf psychiatrische Behandlung. Nur ist es in hierzulande leider so, daß man alles innerhalb der Verjährungsfrist beantragen und auch seine Rechte einfordern muß.

SB: Was hat den Prozeß derart in die Länge gezogen?

IA: Elf Jahre lang wurde meine Krankheit nicht anerkannt. Ich litt unter chronischem Husten und einer posttraumatischen Belastungsstörung, aber sie haben immer wieder gesagt, nein, das sind nur Probleme mit der Lunge. Der rassistische Hintergrund des Brandanschlags sollte ausgeblendet werden. Indem sie meine Erkrankung nicht auf den Anschlag beziehen wollten, haben sie das Ganze verharmlost und mir damit zu verstehen gegeben, daß ein Mensch durch einen Anschlag nicht krank werden kann. Für meine Krankheit müsse es andere körperliche Ursachen geben. Daher mußte ich mein Recht lange vor Gericht erkämpfen und psychiatrische Gutachten sowie Arztberichte einreichen. Ich mußte alles beweisen, um als Opfer und kranker Mensch anerkannt zu werden.

SB: Und wie ist das Gerichtsverfahren ausgegangen?

IA: Ich bin jetzt zu 50 Prozent schwerbehindert und als traumatisiertes Opfer anerkannt. Ich habe ein Recht auf psychiatrische Behandlung und kann jederzeit unentgeltlich zum Arzt gehen. Ich muß nichts aus eigener Tasche zahlen, die Kosten übernimmt der Staat. Mir war es persönlich auch sehr wichtig, daß man einsieht, daß mir so etwas in diesem Land passiert ist und ich ein Recht auf Entschädigung habe.

SB: Deine Familie richtet jedes Jahr am 23. November eine Gedenkveranstaltung aus. Was läßt dich und deine Familie immer wieder von neuem darum kämpfen, daß eure Geschichte nicht in fremde Hände fällt und von Institutionen, Behörden und der Presse zum Zwecke der Beschwichtigung instrumentalisiert wird?

IA: Daß andere Menschen nicht das gleiche erleben, was wir erleben mußten, ermutigt uns jedes Jahr aufs neue, an diese schreckliche Nacht zu erinnern. Wir möchten für Opfer und Überlebende eine bessere Rechtssicherheit und daß sie von vornherein wissen, was ihnen zusteht. Das ist unser Kampf, aber das Wichtigste ist, zu verhindern, daß die Geschichten verharmlost oder unter den Teppich gekehrt werden. Wenn man sich nicht dahinter klemmt, wird irgendwann nicht mehr über die Vorfälle gesprochen. Ich möchte dazu ein Beispiel geben: Wenn man in der Türkei über rassistische Anschläge in Deutschland spricht, erwähnt man meistens Solingen. Warum? Weil dort fünf Menschen gestorben sind - in Mölln waren es drei. Die Zahl der Opfer darf aber keine Wertigkeit begründen. Es sind Menschen, die in Mölln umgekommen sind. Wenn bei einem rassistischen Anschlag niemand das Leben verliert, wäre das ein Grund, darüber zu schweigen? Man muß über den Hintergrund aufklären und sensibilisieren.

Mölln und Solingen waren ja keine Einzelfälle, sondern stehen in einer langen Reihe von Übergriffen auf migrantische Menschen. Ramazan Avci war 1985 auf offener Straße in Hamburg von Skinheads getötet worden. Er war ein Migrant und Mensch, der von Rassisten umgebracht wurde. Ihn hat man vergessen. Wenn Solingen oder Mölln irgendwann aus dem Bewußtsein verschwinden, könnte der Eindruck entstehen, daß es in Deutschland nie Rassismus gegeben hat. Das darf nicht passieren. Wir müssen die Geschichten immer wieder in den Vordergrund rücken und die Leute darüber informieren, damit auch die Generation, die nach uns kommt, noch weiß, daß Rassismus in diesem Land existiert, und dagegen vorgehen kann. Das ist uns wichtig. Wenn wir uns nicht mit den Opfern und Toten solidarisieren und das Erinnern daran aus der Hand geben, wird die Geschichte von denen geschrieben, die den Rassismus verheimlichen wollen.

SB: Du hattest in deinem Vortrag gesagt, man müsse die Geschichte der Opfer gegen die Gewalt der Täter setzen und daß es keine Heroisierung von Rassisten geben dürfe. Inwiefern ließe sich aus deiner Sicht die Geschichte der Opfer zu einem politischen Instrument formen, was im Augenblick dringend erforderlich scheint, da fast jeden Tag in Deutschland Asylunterkünfte brennen?

IA: Opfergeschichten müssen immer erzählt werden; man darf dem Vergessen nicht überantworten, was den Opfern zugestoßen ist. Die Opfer sollten die Hauptzeugen des Geschehens und nicht bloße Statisten sein. Nur wenn man sie aus der Namenlosigkeit herausreißt und als Menschen, denen ein perfides Leid angetan wurde, ins Bewußtsein rückt, kann Sympathie zu den Opfern entstehen. Das Wort Opfer soll nicht mit Schwäche verbunden werden, sondern vielmehr mit Stärke. Opfer, die Bücher schreiben, ihre Geschichten erzählen, vielleicht sogar Filme machen, sind starke Opfer, weil sie Mut haben und sich von dem, was sie erlitten, nicht unterkriegen lassen. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn ich in der Öffentlichkeit nach drei Namen von Opfern bzw. Überlebenden frage, wird man mir vielleicht einen nennen können; frage ich aber nach dem NSU-Trio, würde jeder in Deutschland sofort die Namen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe wissen. Das ist nicht gut und kommt daher, daß beispielsweise Beate Zschäpe fast jeden Tag im Fernsehen gezeigt wird. Dadurch sympathisiert man mit den Tätern und ihre Taten werden auf diese Weise relativiert. Mit meinem Engagement will ich das ändern und die Opferperspektive wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte stellen.


Gruppenfoto am Tisch - Arslan, in der Mitte, umarmt Özdemir und Perinelli - Foto: © 2016 by Schattenblick

Mitat Özdemir (Initiative Keupstraße ist überall), Ibrahim Arslan, Dr. Massimo Perinelli (Moderator / Tribunal NSU-Komplex auflösen)
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Herr Mitat Özdemir von der Initiative "Keupstraße ist überall" hat in seinem Vortrag gesagt, um den Rassismus bekämpfen zu können, muß man ihn zuvor in sich entdecken. Wo fängt für dich Rassismus an?

IA: Rassismus ist nicht nur Fremdenhaß. Nach meiner persönlichen Meinung ist Rassismus eine Krankheit. Ich war selber Rassist und glaube, daß es 90 Prozent der Gesellschaft auch sind. Das fängt schon in Kinderjahren mit den allerkleinsten Sachen an. Man muß sich allen Ernstes die Frage stellen: Was ist der Haß in mir? Hasse ich behinderte Menschen, hasse ich Schwule und Lesben, hasse ich Ausländer und Flüchtlinge, hasse ich Frauen oder Männer? Der generelle Haß ist für mich Rassismus. Diesen Haß muß man erst einmal in sich selber bekämpfen. Man muß sich im Spiegel anschauen und sich fragen: Was ist eigentlich mein Rassismus? Wenn ich antirassistische oder antifaschistische Arbeit leisten will, muß ich den Rassismus in mir selbst erst einmal abtöten. Daran denkt man in aller Regel aber nicht und doch ist es die Voraussetzung für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema.

Wir Türken haben eine extrem rassistische Einstellung gegenüber Kurden. Warum können wir nicht mit den Kurden zusammenleben? 700 Jahre haben Türken und Kurden friedlich zusammengelebt und jetzt entzweit sie der Haß aufeinander. Das ist in meinen Augen sehr widersprüchlich. Natürlich ist der Rassismus mit einigen humanistischen Sprüchen nicht aus der Welt zu schaffen, er ist ein Komplex; wie ein Krake mit vielen Armen umklammert er die Menschen. Bevor man nicht alle Arme abgeschlagen hat, kann man keine antirassistische Arbeit tun. Es geht darum, sich von seinem ureigenen Haß zu emanzipieren.

SB: Während des Vortrags hat man dich und Herrn Özdemir als Ehrengäste zur Inszenierung "Wie das Lächeln aus dem Gesicht der Beate Zschäpe verschwindet" des Regisseurs und Kurators des Krass Festivals Branko Simic eingeladen. Darauf hast du recht unwirsch entgegnet: Was ist Beate Zschäpe? Was hat in dem Moment die Wut in dir aufflammen lassen?

IA: Die Wut ist tief in mir drinnen. Natürlich regt es mich auf, wenn man sich in erster Linie für die Täterperspektive interessiert. Bei Veranstaltungen werde ich oft gefragt: Ibrahim, was würdest du machen, wenn du mit den Tätern in einem Raum sitzen würdest? Sie umbringen, was denn sonst! wäre die natürlichste Antwort, aber was unterscheidet mich dann von einem Täter? Meine Opferrolle finde ich viel sympathischer und auch gemütlicher als die Täterrolle, deswegen sage ich, es ist viel ehrenhafter, als Opfer zu sterben, denn als Täter zu morden. Vor allem aber regt mich auf, daß selbst Migranten die Täterperspektive in den Vordergrund rücken. Meinetwegen kann man Beate Zschäpe in einem Theaterstück beleidigen oder versuchen, aus ihr Antworten herauszupressen, aber wenn ihr Name auf einem Plakat auftaucht, steht sie automatisch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und damit wird erreicht, daß man die Opfer vergißt - sie spielen keine Rolle mehr. Die Opfer und Überlebenden haben es jedoch satt, Beate Zschäpe oder das NSU-Trio immer wieder im TV zu sehen. Sowohl von unserer Seite aus, aber auch von Antifaschisten und Antirassisten muß dafür gesorgt werden, die Opferperspektive stärker zu berücksichtigen.

SB: Welche gesellschaftspolitischen Forderungen verknüpfst du mit deinem Engagement?

IA: Es muß bei den Schulen anfangen. Dort gehören Filme wie "American History X" nicht hinein. Statt dessen sollte man Filme zeigen, die die Opferperspektive zum Thema haben. Beispielsweise haben wir dazu den Dokumentarfilm "Nach dem Brand" gedreht, der von der Stiftung Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. gefördert wurde. Es geht darum, daß Jugendliche lernen, sich mit den Opfern und Überlebenden zu solidarisieren. In meiner Schulzeit pries man "American History X" als antirassistischen Film, aber egal welchen Schüler oder welche Schülerin, darunter auch Migranten und Migrantinnen, man nach dem Film gefragt hat, welchen Darsteller sie am besten fanden, die Antwort war fast einhellig: Der mit dem Hakenkreuz auf der Brust war der coolste und sah auch gut aus. Auf diese Weise schafft man Sympathien zu den Tätern und legitimiert im gewissen Sinne den Fremdenhaß, auch wenn die Message im Film eine andere ist. Warum ist dies so? Weil der Täter die Hauptrolle spielt! Warum macht man das nicht mit den Opfern? Es wäre durchaus möglich, Sympathien für sie zu wecken oder sie gar als Helden darzustellen. Vor allem geht es jedoch darum, darauf hinzuwirken, daß niemand mehr auf die Idee kommt, Menschen zu Opfern zu machen. Das ist mein politisches Ziel.

SB: Ibrahim, vielen Dank für das Interview.


Mehrsprachiges Transparent der Initiative 'Keupstraße ist überall' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Braune Gewalt kann jeden treffen
Foto: © 2016 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zur Hamburger Flüchtlingskonferenz im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/231: Migrationskonferenz Kampnagel - Teilen und Verweilen (SB)
INTERVIEW/300: Migrationskonferenz Kampnagel - Historische Pflicht und humane Selbstverständlichkeit ...    Beate Gleiser im Gespräch (SB)
INTERVIEW/301: Migrationskonferenz Kampnagel - Nah! und solidarisch ...    Asmara Habtezion im Gespräch (SB)

11. März 2016


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