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INTERVIEW/299: Treffen um Rosa Luxemburg - Der falsche Feind ...    Dov Khenin im Gespräch (SB)


Bunkermentalität blendet Armut in Israel aus

Interview am 10. Januar 2016 in Berlin


Der Politikwissenschaftler und Anwalt Dov Khenin gehört dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Israels an und ist Abgeordneter der Vereinigten Liste (Hadash) in der Knesset. Am Rosa-Luxemburg-Wochenende in Berlin nahm er an der Podiumsdiskussion zum Thema "Antiimperialismus heute" teil und hielt einen Redebeitrag beim Jahresauftakt der Europäischen Linken. Im Anschluß an diese Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu Bündnissen in der linken Bewegung, den Prioritäten seiner politischen Arbeit, den Lebensverhältnissen in der israelischen Gesellschaft und der Bedeutung ökologischer Kämpfe für Kommunisten.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Dov Khenin
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Wir haben soeben beim Jahresauftakt der Europäischen Linken eine sehr emotionale Veranstaltung mit vielen Höhepunkten erlebt, die den Eindruck hinterlassen könnte, daß die Linke in Deutschland und Europa wieder im Aufwind ist. Handelt es sich dabei aus Ihrer Sicht eher um ein situatives Empfinden, oder kann man tatsächlich von einer wiedererstarkenden linken Bewegung sprechen?

Dov Khenin (DK): Meines Erachtens wird die Linke heute mehr denn je gebraucht. Wie ich vorhin in meiner Rede auf dem Podium ausgeführt habe, hat die Eindämmung der revolutionären Linken in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich zum Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus beigetragen. Das ist die große Herausforderung, vor der wir auch heute stehen, weil sich das kapitalistische System in einer tiefen Krise befindet. Wenn es uns nicht gelingt, eine progressive, linke, radikale Alternative nach vorn zu bringen, die geeignet ist, die Mehrheit der Menschen zu überzeugen, droht die Gefahr eines neuen Faschismus. Deswegen bin ich der Auffassung, daß linke Radikalität dringend benötigt wird und von aktueller Bedeutung ist.

SB: Sie sind Mitglied der Kommunistischen Partei in Israel und haben hier auf einer Veranstaltung gesprochen, die man nicht als kommunistisch, sondern in einem weniger radikalen Sinn als links bezeichnen würde. Wie ist es grundsätzlich um Ihre Bereitschaft bestellt, mit verschiedenen Fraktionen des linken Spektrums zusammenzuarbeiten?

DK: Ich halte breite Bündnisse unter Einschluß möglichst vieler Gruppierungen der Linken für unverzichtbar. Wir haben unsere Differenzen, brauchen sie nicht zu verbergen und können sie weiter diskutieren. Ein Zusammenschluß aller Linken ist dringend geboten, um dem drohenden Faschismus, dem Imperialismus mit seinen Kriegen und dem kapitalistischen System, das die Lebensverhältnisse auf breiter Front angreift und verschlechtert, die Stirn zu bieten. Wir sind aufgerufen, eine Einheit in Vielfalt zu schaffen, da wir Unterschiede aufweisen, aber vereint kämpfen sollten.

SB: Wie Sie bei der gestrigen Podiumsdiskussion zum Thema "Antiimperialismus heute" hervorgehoben haben, ist der Imperialismus dem Kapitalismus inhärent. In welchem Ausmaß und auf welche Weise lassen sich Imperialismus und Krieg auch innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems bekämpfen?

DK: Wir sollten Krieg und Imperialismus bekämpfen, ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, daß es stets um den grundlegenden Kampf gegen den Kapitalismus geht. Objektiv gesehen stellt die Verhinderung imperialistischer Kriege ein Element des antikapitalistischen Kampfs dar. Diese beiden Dinge sind untrennbar miteinander verbunden.

SB: Sie decken in Ihrer politischen Arbeit als Abgeordneter in der Knesset ein weitgefächertes Spektrum an Themen und Tätigkeitsfeldern ab, werden aber zugleich mit den Worten zitiert, nichts sei so wichtig wie die Löhne der Arbeiterschaft. Wie verbinden Sie diese traditionell marxistisch anmutende Position mit anderen Bereichen Ihres Engagements und welchen Rang räumen Sie letzteren ein?

DK: Natürlich stehen die Angelegenheiten der Arbeiterklasse im Mittelpunkt des Interesses unserer Bewegung. Aber dasselbe gilt auch für Krieg und Besatzung, denn wie Sie sicher wissen, ist die Situation in Israel sehr schwierig. Wir haben eine rechtsgerichtete Regierung unter Netanjahu, die sehr gefährliche Manöver wie den Siedlungsbau in den besetzten palästinensischen Gebieten forciert und vor einer Eskalation des Krieges im Nahen Osten nicht zurückschreckt. All diese Dinge sind in der Realität eng miteinander verflochten. Man sollte mit den Menschen darüber sprechen, was ihnen Sorgen macht und worunter sie leiden. Ist ihnen der Lohn zu niedrig, spricht man mit ihnen über den Lohn. Fühlen sie sich unsicher, sind Sicherheit und Frieden das Gesprächsthema. Eines hängt mit dem anderen zusammen, und so lassen sich die Ansätze auseinander entwickeln.

SB: Wie viele Sitze hat Ihre Fraktion derzeit in der Knesset?

DK: Wir sind gegenwärtig mit fünf Abgeordneten im Parlament vertreten, das insgesamt 120 Sitze hat. Um unseren Einfluß zu verstärken, haben wir uns mit anderen kleineren Fraktionen in der Vereinigten Liste zusammengeschlossen, die es auf 30 Abgeordnete bringt und damit die stärkste politische Kraft ist. Unsere Bewegung hat derzeit den Vorsitz der Vereinigten Liste inne.

SB: Die übergroße Mehrheit der israelischen Bevölkerung hat die Palästinenser und deren Problematik lange Zeit weitgehend ausgeblendet. Können Sie eine allmähliche Veränderung hinsichtlich dieser Einstellung erkennen?

DK: Lassen Sie es mich folgendermaßen ausdrücken: In der israelischen Bevölkerung gibt es eine Mehrheit für eine Zweistaatenlösung, also einen palästinensischen Staat unmittelbar neben Israel. Unser Problem besteht nun darin, daß die allermeisten Leute der Auffassung sind, daß diese Lösung nicht verwirklicht werden kann. Sie glauben, daß arabische Extremisten die Umsetzung verhindern und den Staat Israel zerstören wollen. Deswegen unterstützen viele Israelis die rechtsgerichteten Kräfte, da diese versprechen, Stärke zu zeigen, für sie zu kämpfen und niemals aufzugeben. Mit dieser Problematik müssen wir uns auseinandersetzen.

SB: Hier in Deutschland herrscht angesichts sinkender Löhne und eingeschrumpfter Sozialleistungen zwar ein beträchtliches Unbehagen vor, das jedoch mit Blick auf den insgesamt höheren Lebensstandard verglichen mit Ländern wie Griechenland nicht in Aufbegehren mündet. Läßt sich eine gleiche oder ähnliche Situation auch in der israelischen Gesellschaft beobachten?

DK: In Israel ist die ökonomische und soziale Situation besorgniserregend. Gemessen an der Armutsquote rangiert das Land auf dem vorletzten Platz der OECD-Liste [1] und entwickelt sich zu einer immer ungleicheren Gesellschaft. Aber wir werden nicht in der Lage sein, diese Situation zu ändern, solange die Menschen davon überzeugt sind, daß sie um ihr Leben kämpfen, und sich deswegen um rechtsgerichtete Politiker, Parteien und Strömungen scharen. Soziale und ökonomische Fragen mit jenen von Krieg und Frieden zu verbinden, ist von zentraler Bedeutung, will man einen grundsätzlichen Politikwechsel in Israel herbeiführen.

SB: In der deutschen Traditionslinken wurde Ökologie lange Zeit als ein marginales Thema eingestuft, wenn nicht gar als ideologischer Konter des bürgerlichen Lagers angesehen. Sie selbst engagieren sich hingegen als kommunistischer Abgeordneter auch im Umweltbereich, da Sie dieser Thematik offensichtlich einen hohen Stellenwert einräumen.

DK: Ich halte Ökologie für ein zentrales Thema. Bevor ich in die Knesset gewählt wurde, war ich mehrere Jahre Vorsitzender der Vereinigung der israelischen NGOs im Umweltbereich, einer breiten Bewegung mit Zehntausenden Mitgliedern. Als Kommunist halte ich den Kampf um ökologische Fragen für absolut notwendig und unverzichtbar, weil der heutige Kapitalismus nicht nur den inneren Widerspruch zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem, Ausbeuter und Ausgebeutetem, hervorbringt, sondern auch den äußeren Widerspruch zwischen diesem System und dem Planeten, auf dem wir leben.

Sich mit diesem äußeren Widerspruch auseinanderzusetzen, wird immer wichtiger, weil das kapitalistische System aufgrund der notwendigen Kapitalakkumulation eine expansive Tendenz hat. Im Zuge dieser Expansion berücksichtigt es nicht die begrenzten Möglichkeiten, die dieser Planet für unsere Existenz bietet. Deswegen wird der Kapitalismus zu einer Gefahr für die gesamte Menschheit, wie Krebs für den menschlichen Körper lebensbedrohlich ist - da wächst etwas immer weiter, ohne die Schranken des Körpers in Betracht zu ziehen, in dem es lebt. Deswegen halte ich ökologische Fragen für essentiell und absolut zentral für Marxisten und Kommunisten und hoffe sehr, daß die Linke in Deutschland und anderswo ihre Perzeption ökologischer Kämpfe und ihr Engagement darin verstärkt.

SB: Herr Khenin, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] Israel gehört zu den ärmsten Ländern der entwickelten Welt. In der Liste der 34 Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Israel den vorletzten Platz vor Mexiko. Rund 1,7 Millionen Menschen leben in Armut, damit sind 22 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen.
http://www.israelnetz.com/gesellschaft/detailansicht/aktuell/bericht-jeder-fuenfte-israeli-lebt-in-armut-94374/


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