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INTERVIEW/285: Globale Kriegsneuralgie - Kampf erklärt, Chance verwehrt ...    Wolfgang Gehrcke im Gespräch (SB)


Folgenreicher Kriegseintritt der Bundesrepublik

Interview am 8. Dezember 2015 in Hamburg-Eimsbüttel


Wolfgang Gehrcke ist Außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages. Auf Einladung der Linksfraktion in der Bezirksversammlung Hamburg-Eimsbüttel referierte der erfahrene Außenpolitiker in einer öffentlichen Veranstaltung zu den Ursachen von Flucht und Vertreibung, wobei die aktuelle Entscheidung zur Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Syrien im Mittelpunkt stand. Anschließend hatte der Schattenblick Gelegenheit, Wolfgang Gehrcke einige weiterführende Fragen zu diesem Thema zu stellen.


Beim Vortrag im Café Veronika in der Lenzsiedlung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wolfgang Gehrcke
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Gehrcke, könnten Sie sich vorstellen, daß es in Syrien zu einer direkten Konfrontation zwischen US-amerikanischen und russischen Kampffliegern oder sogar von Bodentruppen kommen könnte? Besteht die Gefahr einer brisanten Eskalation zwischen den beiden Großmächten?

Wolfgang Gehrcke (WG): Die besteht auf alle Fälle. Ich möchte mir das lieber nicht vorstellen und nicht wünschen, es ist aber nicht auszuschließen. Man muß sich nur einmal die Begründung der Türkei zum Abschuß des russischen Kampfjets anschauen. Die Regierung in Ankara behauptet ja, daß sich dieser Kampfjet 17 Sekunden im türkischen Luftraum befand, und das hat ausgereicht, um ihn abzuschießen. Das zeigt, wie schnell solche Entscheidungen getroffen werden. Der Abschuß eines russischen Flugzeuges durch die USA ist leider nicht auszuschließen, das wiederum kann zu einem Weltkrieg führen.

Ich finde, man muß alle Sicherungen einbauen, die möglich sind, und das kann sich nicht nur auf militärische Mittel beschränken. Für den Krieg am Boden setzen beide Akteure offensichtlich darauf, daß befreundete Verbände eingesetzt werden können. Die USA versuchen ja vergeblich, bewaffnete syrische Truppen ins Gefecht zu schicken. Sie zahlen viel Geld dafür, aber finden so recht niemanden. Auf der russischen Seite kämpfen am Boden zumindest die offiziellen Truppen des syrischen Staates, die syrische Armee, offensichtlich auch die Revolutionsgarden aus dem Iran und die Hisbollah, das sind natürlich Eliteeinheiten. Rußland verfügt also über Bodentruppen, doch ob die ausreichen werden, weiß ich nicht, denn ich bin kein Militär. Die USA wollen Hilfstruppen am Boden für sich gewinnen, denn der Krieg ist in den USA so unpopulär, daß Barack Obama sich derzeit nicht traut, die Entsendung eigener Soldaten nach Syrien anzuordnen.

SB: Worum geht es den USA? Das ehrgeizige Projekt einer Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens besteht seit den 90er Jahren, aber allem Anschein nach hat es nicht so gut funktioniert wie geplant. Könnte man sagen, daß die Konfrontation zwischen den beiden Kontrahenten des Kalten Krieges auf einer anderen Ebene wieder aufgenommen wird?

WG: Man kann durchaus sagen, daß es zum Nachteil der Menschen im Nahen Osten wie überhaupt der Sicherheit in der Welt ist. Ich glaube, daß die USA den gesamten Raum des Nahen Ostens strategisch im Blick haben. Wer Syrien kontrolliert, verfügt über das kulturelle, politische und geographische Zentrum dieses Raumes. Die USA haben ein recht stabiles Bündnis mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit Saudi-Arabien und Katar. Ob die Absicht der US-Regierung, den gesamten Raum bis Syrien zu bestimmen, verwirklicht werden kann, entscheidet sich auch an der Haltung Ägyptens. Rußland hat durchgesetzt, daß Ägypten das erste Mal an den Syrien-Verhandlungen beteiligt wird. Ich habe seit längerem den Eindruck, daß die eigentliche strategische Achse Kairo-Moskau-Damaskus ist. Da spielt Assad nicht so eine große Rolle.

SB: Ist die russische Politik, einmal unabhängig von nüchternen geostrategischen Erwägungen, aufgrund des Problems mit dem politischen Islam im eigenen Land auch ein wenig ideologisch geprägt? Spielt das eine Rolle bei einem Bündnis mit Ägypten, dessen Regierung massiv gegen die Muslimbruderschaft vorgeht?

WG: Ja, die Muslimbruderschaften sind in Rußland verboten. Rußland geht sehr aktiv gegen sie vor, das war bislang schon ein diplomatisches Problem. Die ersten zwei Verhandlungsrunden zur Lösung des Syrienproblems fanden in Rußland statt. Zwar hat man die verschiedenen Fraktionen der syrischen Opposition eingeladen, aber die Muslimbruderschaft wurde zu diesen Verhandlungen nicht zugelassen. Ich glaube allerdings, daß man die Muslimbruderschaft mit am Tisch haben muß, wenn man verhandelt, auch wenn das kein reines Vergnügen ist.

Natürlich hat die russische Politik eine klare ideologische Komponente gegen den Islamismus, was ich gut verstehen kann. Man muß sich dort für den Fall einer Niederlage Assads in Syrien und der hohen symbolischen Bedeutung, die das für das Ansehen Rußlands hätte, sorgen, daß die Heimkehrer aus dem Syrienkrieg und aus dem Afghanistankrieg, bei denen es sich zum Teil um tschetschenische Truppen handelt, versuchen werden, die Auseinandersetzung im Kaukasus wieder zu entfachen. Das ist das größte Problem für Rußland.

SB: Gibt es für die Vertreter des politischen Islam tatsächlich gravierende Gründe, Assad zu beseitigen? Wir wissen zwar, daß sein Vater Hafiz al-Assad unter den Muslimen Syriens ein großes Massaker angerichtet hat, aber es gibt auch Berichte darüber, daß mit seinem Sohn eine eher liberale Politik Einzug gehalten hat.

WG: Das kann ich bestätigen. Das war der Zeitpunkt, als ich mich in Syrien, wo ich einige Male war, als Abgeordneter relativ frei bewegen konnte. Natürlich war Syrien immer ein Polizeistaat. Schon wenn ich am Flughafen ankam, war mir immer klar, daß man hier keine fünf Schritte macht, die nicht registriert werden. Es war erkennbar, daß der syrische Staat sehr viel investiert in Bildung, in sozialen Ausgleich, aber auch hart gegen den Islamismus vorgegangen ist.

Bei meinem letzten Syrienbesuch gab es den Wunsch der Bundesregierung und gleichzeitig des syrischen Parlamentes, daß ich mit dem Religionsminister rede. Mein Eindruck war, die Bundesregierung wollte ihn dazu veranlassen, anständig mit den Christen umzugehen. Das war aber gar nicht die Fragestellung. Er hat mir sofort erklärt: Wir wissen, was hier in den Moscheen abläuft, und Sie können sicher sein, daß wir es nicht zulassen werden, daß der Islam den säkularen Staat zerschlägt. Das war bekannt, und es wäre ein großer Fortschritt gewesen, wenn sich im Nahen Osten ein säkularer Staat gehalten hätte. Daran hätten sich die Palästinenser orientieren können, denn auch der palästinensische Staat wird, wenn er zustande kommt, säkular sein.

Es ist das Problem des jungen Assad gewesen, daß er sich auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs eingelassen hat. Das hat zu tiefen Verwerfungen in der syrischen Gesellschaft geführt. In diesem stände- und stammesmäßig geprägten Land mit einem hohen Anteil an landwirtschaftlicher Produktion kam es zu schmerzhaften wirtschaftlichen Einschnitten. Die Subventionen der staatlich gestützten Preise für Lebensmittel, Öl, Gas et cetera konnten nicht mehr aufrechterhalten werden, weil zwischen dem Internationalen Währungsfonds und Assad ein neoliberaler Umbau des Staates Syrien ausgehandelt worden war. Das hat dem Westen offensichtlich nicht gereicht, denn nun sollte auch noch Assad gehen. Dabei wird mit vielen blutigen Diktaturen ohne weiteres paktiert, zum Beispiel mit Saudi-Arabien. Das damalige Syrien war keine Demokratie nach unseren Vorstellungen. Aber es war, was Demokratie und Teilhabe der Bevölkerung betrifft, nicht viel schlechter und sogar besser als Saudi-Arabien, Katar oder die Emirate. Man wollte diesen stabilen Anker weghaben und damit Einfluß auf den gesamten Raum des Nahen und Mittleren Ostens bis hin zum Iran nehmen.

SB: Spielt diese Achse - es wird ja gern vom schiitischen Halbmond gesprochen - bei den strategischen Überlegungen eine Rolle?

WG: Natürlich. Rußland hat schon mehrere Probleme am Hals. Wenn sie Assad so fallenlassen würden, wie der Westen es fordert, lautet die Botschaft doch: "Laßt euch nicht auf ein Bündnis mit Rußland ein, ihr werdet verraten." Das kann sich Rußland in diesem stark von der Geschichte geprägten Raum überhaupt nicht leisten. Ich bin für Wahlen in Syrien, da würde man am Ergebnis sehen, wer sich letztendlich durchsetzt. An Wahlen wollen sich alle Syrer, auch die, die im Ausland leben und in der Emigration sind, beteiligen können. Es hat in Syrien eine leider vielfach gespaltene, aber doch relativ starke kommunistische Bewegung gegeben. Sie hat sich immer wieder in Einzelteile zerlegt. Aber es hat viele kluge säkulare Kräfte in Syrien gegeben, die sich heute noch in der Emigration befinden und die man unbedingt für den Wiederaufbau des Landes gewinnen muß.

SB: Wie läßt sich die syrische Baath-Partei einordnen?

WG: Die syrische Baath-Partei zeichnete immer eine eigene Richtung aus. Sie hatte ein Regierungsmodell, das, wenn ich spotten würde, so ein bißchen wie in der DDR aufgestellt war. Sie war die führende Partei und befand sich im Bündnis mit anderen nationalen Kräften, mit denen sie eine Koalitionsregierung bildete, in der die Koalitionspartner nicht so viel zu sagen haben. Die letztendlichen Entscheidungen wurden von der Baath-Partei und im Zentrum der Baath-Partei von den alevitisch geprägten Assad-Leuten gefällt. Man hat das dann mit den anderen Parteien abgesprochen, die alle eigene Minister hatten. Es gab sogar zwei kommunistische Minister, doch all das war nicht tragfähig genug. Eine echte Koalitionsregierung ist für die Übergangsregierung schon notwendig. Und das wird wahrscheinlich ohne die Muslimbruderschaften nicht gehen.

SB: Was den Beginn des Krieges in Syrien betrifft, so herrschen zwei verschiedene Sichtweisen vor. Zum einen wird behauptet, daß Assad den arabischen Frühling von Anfang an massiv unterdrückt habe. Zum andern wird gesagt, daß dieser arabische Frühling frühzeitig durch militärische Kräfte unterminiert worden sei, die mit dem demokratischen Anspruch, der den arabischen Frühling auszeichnete, nicht mehr viel gemein hatten. Was ist da passiert?

WG: In Wien gab es vor den jetzigen Verhandlungen eine Konferenz von 80 syrischen Oppositionellen, an der Leute aus der Umgebung Assads bis hin zum Chef der Muslimbruderschaft beteiligt waren. Ich wurde gebeten, die Schlußrunde zu moderieren. Das war sehr schwierig. Der Chef der Muslimbruderschaft, der später auch Chef der Exilregierung geworden ist, bevor er wieder abgesetzt wurde, leitete alle seine Beiträge mit den Worten ein "Ich erkläre im Namen Allahs, des allmächtigen Gottes", und dann kam seine Position. Ich habe ihn in der Pause angesprochen und gesagt: Wissen Sie, wenn Sie sagen, Sie sprechen hier für Ihren Gott, ist es sehr schwierig für mich, Ihnen zu widersprechen. Ich will mich auf diese religiöse Ebene gar nicht einlassen, und ich will Ihrem Gott und Ihrem Glauben nicht widersprechen. Ich will zu politischen Ergebnissen kommen."

Das Problem steht heute noch im Raum. Ich glaube, daß die Assad-Regierung panikhaft gegen die Bewegungen in Daara und anderen Städten vorgegangen ist. Sie wußten ja, was unter dem alten Assad passiert ist. Es war völlig unverhältnismäßig, wie man versucht hat, Kinder abzustrafen und zu unterdrücken. Das hat natürlich sehr viel Protest ausgelöst, aber es war eine kurze Phase, in der es sich um einen demokratischen Aufstand handelte. Alle meine kommunistischen Genossen sagten, Wolfgang, das ist ein demokratischer Aufstand, aber du darfst nicht vergessen, daß wir unsere Erfahrungen mit den Muslimbruderschaften gemacht haben. In diese Bewegung stiegen sofort von außen Kräfte ein.

Das erfolgte zeitgleich mit dem Umbruch in Ägypten, wo die Muslimbruderschaften nach dem Sturz der Mubarak-Regierung die Macht eroberten und das Land in die Katastrophe führten. Laut meinen Nahostexperten sind die Muslimbruderschaften in Ägypten und Syrien sehr unterschiedlich. Aber die Vorstellung, daß mit Ägypten und Syrien, die früher einen Staat bildeten, ein von den Muslimbruderschaften orientierter Riegel zustande kommt, löste bei vielen Panik aus. Da sind Saudi-Arabien und Katar mit viel Geld eingestiegen, am Rande auch die Emirate, und das schuf sofort die Situation eines Stellvertreterkrieges.

SB: Wenn die Bundesrepublik sich an diesem Krieg beteiligt, begibt sie sich auf ein sehr unübersichtliches Terrain, was allein die Tatsache zeigt, daß Rußland Assad unterstützt und die Bundesregierung nach wie vor vertritt, jede Zusammenarbeit mit Assad zu meiden. Was bedeutet das für die deutsche Außenpolitik?

WG: Die deutsche Außenpolitik wird vor große Probleme gestellt werden. Die Wiener Verhandlungen werden in New York fortgesetzt. Jetzt findet eine Verhandlungsrunde in Riad statt, wo Teile der weltlichen und der muslimorientierten Opposition versuchen, sich zu einigen, um dann als gemeinsame Delegation mit den Vertretern des syrischen Staates zu verhandeln. Alle begreifen Stück für Stück, daß es ohne einen Staat nicht gehen wird. Dann gibt es Überlegungen, die zumindest ich für interessant halte, obwohl ich nicht weiß, ob sie sich durchsetzen. Ein Machtfaktor ist die reguläre syrische Armee und ein sehr schwacher Machtfaktor ist die Freie Syrische Armee, die aber auch eine ganze Reihe republikanisch gesinnter Generäle und Offiziere hat. Eine Übergangsregierung wird sich auch militärisch absichern müssen, ohne das hätte sie in Syrien keine Zukunft. So könnte durch ein Zusammengehen der syrischen Armee und der republikanischen Teile der Freien Syrischen Armee ein neuer Machtfaktor entstehen. Über all das wird gesprochen, und solange die Bundesregierung nicht in Syrien militärisch engagiert war, konnte sie sich frei bewegen und war ein von vielen konsultierter Gesprächspartner. Deutschland hat einen sehr positiven Ruf, der mit einem Militäreinsatz aufs Spiel gesetzt wird.

SB: Wie würden sich die Kurden Nordsyriens in Rojava positionieren? Soweit ich weiß, setzt ihre Administration nicht auf die Zerschlagung des syrischen Staates. Meinen Sie, daß sie den Status einer relativen Autonomie erhalten könnten?

WG: Anders wird es gar nicht gehen. Ich habe den Chef der PYD mehrfach in Berlin getroffen. Es ist nicht so, daß die Bundesregierung nicht mit Teilen der PKK redet. Ich habe immer auch gegenüber Kräften der syrischen Opposition vertreten, daß es ohne Einigung mit den Kurden nicht gehen wird. Anfänglich lautete das Gegenargument: Wissen Sie, wenn wir die Staatsfrage in Syrien geregelt haben, dann regeln wir auch das Problem der Kurden. Darauf lassen sich die Kurden zu Recht nicht ein, sie sind immer betrogen worden. Sie wurden auch unter dem Assad-Regime schlecht behandelt. Sie waren zwar als Völkerschaft nicht mit dem Leben bedroht, aber in ihrem Paß waren sie als Kurden gekennzeichnet. Es gab viele Dinge, die völlig inakzeptabel waren. Das kurdische Selbstbewußtsein ist so groß, daß sie sich an einem zentralen Staat Syrien beteiligen werden. Sie wollen den Verbund nicht verlassen, sondern ein hohes Maß an Eigenständigkeit haben, und sie müssen ein hohes Maß an Schutz haben, weil die Türkei es nicht zulassen wird, daß sich in der Nähe ein kurdischer Staat bildet, der dann noch mit dem Nordirak zusammenarbeitet.

Für mich ist der kurdische Teil Syriens einer der zentralen Punkte der Oppositionsbewegung. Der arabische und der kurdische Teil der Opposition müssen sich zusammenschließen. Dazu sind sie offensichtlich bereit. Mit Assad haben sie sich im großen und ganzen arrangiert. Sie lassen die Assad-Armee nicht herein, und diese möchte auch nicht in den kurdischen Gebiete eingesetzt werden. Sie liefert aber Waffen. Ich habe jetzt gehört, daß Rußland im Gegenzug zu dem Abschuß seines Kampfjets durch die Türkei in Erwägung zieht, eine diplomatische Vertretung in Rojava einzurichten. Das finde ich pikant. Das ist schon ein deutliches Signal.

SB: Im Verhältnis Deutschland-Türkei könnte man fast von einem Deal reden, bei dem die Türkei auf der einen Seite die Flüchtlingsabwehr für die EU organisiert, während auf der anderen Seite die Staatsschutzinteressen der Türkei dadurch bedient werden, daß zum Beispiel die linke türkische und kurdische Opposition in der Bundesrepublik oder in der EU stärker kriminalisiert und verfolgt wird als bisher. Ist das richtig beschrieben?

WG: Das ist richtig beschrieben. Man muß hinzufügen, daß die Türkei und Deutschland Mitglieder der NATO sind. Man hat der Türkei immer die Aufgabe zugewiesen, diese Flanke der NATO abzusichern. Man traut Griechenland nicht mehr völlig über den Weg, und ich will gar nicht darüber urteilen, ob das zu Recht oder zu Unrecht so ist. Man möchte gerne, daß die Türkei die NATO-Interessen auf berechenbare Weise vertritt. Man hat Vorbehalte gegen einen allzu abenteuerlichen türkischen Kurs, und ich meine wahrgenommen zu haben, daß der Abschuß des russischen Flugzeuges durch die Türkei keine Begeisterung in den westlichen Hauptstädten ausgelöst hat. Der Deal besteht darin, daß die Türkei die Flüchtlinge abfängt, in Lagern kaserniert und Europa nach Wunsch geregelt zuführt, was immer dann Europa ist.

Die Türkei baut die militärische Absicherung dieser Flanken gegen die instabilen Staaten im Nahen Osten auf und wird dadurch von der EU gefördert, möglicherweise sogar an die EU herangeführt. Das ist der Deal. Jetzt muß ich nicht die türkischen Interessen bedenken, aber wenn ich spotten würde, würde ich immer sagen, guckt euch das Schicksal Gadafis an. Der hat ebenfalls Flüchtlinge von dem Weg in die EU abgehalten, er hat Öl geliefert, und es gab keinen Anlaß für den Westen, ihn zu erledigen. Jetzt ist Erdogan nicht in einer vergleichbaren Situation. Aber das sind alles Bündnisse, die punktuell geschlossen und sich wieder auflösen werden. Der türkische Staat ist derzeit einer der schlimmsten Unrechtsstaaten in der ganzen Region.

SB: In der entscheidenden Bundestagsdebatte zum Thema Kriegsbeteiligung hat Sahra Wagenknecht eine Rede gehalten, die von zum Teil heftigen Zwischenrufen unterbrochen wurde. Wenn man das als Normalbürger, der nicht mit den Gepflogenheiten des politischen Geschäfts vertraut ist, hört, kann man den Eindruck bekommen, daß da erbitterte Feinde aufeinandertreffen. Wie ernst ist es zu nehmen, daß die Abgeordneten auf dem Parkett des Bundestages regelrecht ausfallend werden? Wird nachher an der Bar darüber gelacht, oder geht der Riß doch tiefer?

WG: Der Riß geht schon tiefer. Was mich selber angeht, so habe ich nichts gegen Zwischenrufe, selbst wenn sie blöde sind, denn man kann ja ordentlich Contra geben. Das gehört zu einer parlamentarischen Demokratie dazu, daß man Konflikte auch in aller Härte austrägt. Man muß den Respekt vor den anderen ja nicht völlig verlieren. Ich habe eine ganze Reihe Kollegen in der CDU, mit denen ich sehr respektvoll umgehen kann. Ich teile ihre Meinung nicht, sie meine nicht, okay. Bei den Schreiern zeigt sich allerdings, daß die Politik soviel primitiver geworden ist.

Zudem türmt sich bei Sahra Wagenknecht viel auf. Frau, jung, zugespitzt in der Politik, das löst auch männlichen Haß aus: Dieser Tante da vorne werden wir es aber mal zeigen. Das hört man ja bei den Zwischenrufen. Da kommt sehr viel Unversöhnliches dazu, dann zeigt sich schlichtweg ein Stückchen Neid, denn so einen Typus wie Sahra an der Spitze hätte jede Fraktion gerne. Wieso hat Die Linke so etwas? Ich glaube, die würden Sahra lieber einkaufen, wenn sie es könnten - können sie aber nicht.

SB: Die Argumente waren ja sehr zutreffend, und man hatte den Eindruck, daß die anderen Fraktionen inhaltlich nicht wirklich etwas dagegen aufzubieten hatten.

WG: Die Debatten werden inhaltlich alle schlechter. So hat Rolf Mützenich, der außenpolitische Chef der SPD, der sich zum linken Parteiflügel rechnet, in seiner Rede davon gesprochen, daß er selbst und die SPD im Inneren zerrissen sind. Das hört sich immer ganz toll an - wir quälen uns so -, das hängt mir so zum Halse raus. Hans-Ulrich Klose, der frühere Hamburger Bürgermeister der SPD, sagte mir anläßlich des Afghanistankrieges: Weißt du, Wolfgang, 49 Prozent bin ich gegen den Krieg, 51 Prozent dafür. Am Ende ist man dafür - diese Zerrissenheit der SPD kann ich von den Zustimmungen zu den Kriegskrediten bis in die heutige Zeit durchbuchstabieren.

Ich bin froh, daß wir in der Linken endlich einen Zustand erreicht haben, wo wir nicht sagen, daß wir in der Frage zerrissen sind. Wir sind uns klar, wir wollen das nicht. Das hat Sahra in ihrer Art, die mir sehr gut gefällt, herübergebracht. Früher konnte man Parlamentsreden auch genießen, das ist heute eher die Ausnahme. Bei diesem Schwabbeligen von Herrn Gabriel weiß ich gar nicht, wie ich mich damit auseinandersetzen kann. Die CDU hat keine Außenpolitiker mehr, die halbwegs eine eigene Handschrift haben. Philipp Mißfelder war ein solcher, mit dem konnte man sich streiten, das war auch kein Kriegstreiber. Man merkt an der Empörung der anderen, daß sie nichts aufzubieten haben und unsere Argumente eigentlich auch nicht von der Hand weisen können.

SB: Herr Gehrcke, vielen Dank für das Gespräch.

11. Dezember 2015


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