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INTERVIEW/284: EU-Umlastkonverter - Geschichte nährt den Widerstand ...    Claudia Haydt im Gespräch (SB)


Denkverbote beseitigen, in Bewegung kommen

Interview am 11. November 2015 in Hamburg-St. Georg


Die Religionswissenschaftlerin und Soziologin Claudia Haydt ist bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) aktiv und Mitglied im Vorstand der Europäischen Linken (EL). In der Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" referierte sie zum Thema "Geostrategische und geopolitische Gesichtspunkte der Krise Griechenlands, der EU und des Euro". Anschließend beantwortete Claudia Haydt dem Schattenblick einige Fragen zu aktuellen politischen Entwicklungen und den sich daraus ergebenden Perspektiven sozialer Gegenbewegungen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Claudia Haydt
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): In deinem Vortrag war von zwei ökonomischen Blöcken, zum einen der westlichen Staatenwelt und zum anderen den BRICS-Staaten, die Rede. Nun ist es einerseits erfreulich, daß es ein Gegengewicht gegen die Vorherrschaft der USA und der NATO-Staaten gibt. Andererseits stellt sich die Frage, welcher Gesellschaftsentwurf in dem anderen Lager vertreten wird, da es sich ja nicht mehr um die klassische Blockkonfrontation handelt, die Anhaltspunkte für konkurrierende Gesellschaftsentwürfe bot.

Claudia Haydt (CH): Ja, aus meiner Sicht ist das Problem der Kapitalismus als solcher. Wir leben in einer Situation, wo innerhalb der verschiedenen kapitalistisch-imperialen Blöcke Widersprüche existieren, die sich um Einflußräume, um Zugriff auf Ressourcen, auch um die Frage militärischer Stärke und Absicherung drehen. All das bedeutet sehr viel Konflikt- und Spannungspotential und wenig progressive Entwicklung. Eine solche sehe ich allerdings bei einem Konzept wie Mercosur, bei den lateinamerikanischen Ländern, die ihre ökonomische Entwicklung mit einer sozialen Entwicklung verknüpfen und mit einem aus meiner Sicht sehr positiv konnotierten Internationalismus, der wirklich ein tätiger Internationalismus ist, verbinden. Von diesen Entwürfen könnten die europäischen Länder meiner Ansicht nach viel lernen. Sie sind ein kompletter Gegenentwurf zu der Entwicklung, die hierzulande mit dem Freihandelsabkommen vorangetrieben wird. In diese Richtung muß es auf jeden Fall weitergehen, alles andere erzeugt zuviel sozialen oder militärischen Sprengstoff oder auch beides.

SB: Wo siehst du jenseits des parteipolitischen Spektrums Möglichkeiten zur Formierung neuer sozialer Bewegungen, die auch tragfähig wären?

CH: Ich erlebe gerade, daß Menschen in vielen verschiedenen Bereichen aktiv werden. Erstaunlich zugkräftig trotz der Kompliziertheit des Themas ist die Opposition zu TTIP und anderen Freihandelsabkommen. Dort engagieren sich Menschen aus unterschiedlichsten Gründen, manche aus ökologischer Motivation, manche zum Erhalt von Arbeitsrechten, wieder andere aus Verbraucherschutzgründen und so weiter. Die Demonstration in Berlin mit mindestens 250.000 Menschen hat mich sehr positiv überrascht und natürlich auch gezeigt, welche Mobilisierung möglich ist, wenn die Gewerkschaften sich beteiligen, die Busse stellen und die Menschen sensibilisieren. Da erwarte ich in Zukunft von den Gewerkschaften deutlich mehr. So merke ich bei den Streikbewegungen, die wir in letzter Zeit hatten, und die häufig, wie zum Beispiel bei den Erzieherinnen, durch Druck von unten entstanden sind, daß in den Gewerkschaften sehr viel mehr Mobilisierungspotential steckt, als man sieht, wenn man auf die DGB-Spitze schaut. Das ist nur ein Bereich, in dem etwas geschieht, weshalb es sich lohnt, das weiter zu verfolgen und zu unterstützen.

Des weiteren zeigt sich bei den Flüchtlingshelferinnen und -helfern, daß sehr viele Menschen, die zuvor kaum politisch aktiv waren, nun einfach aus einer humanistischen Haltung heraus etwas tun. Sie wollen nicht nur zuschauen, wenn Menschen, hier angekommen, nicht mal ein Bett haben, auf dem sie schlafen können, nichts zu essen und keine hygienische Versorgung haben, sondern antworten mit ihrem Einsatz auf ein Staatsversagen. Das bedeutet natürlich auch, daß politisch aktive Menschen zum Teil absorbiert werden. Aber für sehr viel bedeutsamer halte ich, daß dort eine Politisierung im Schnelldurchlauf erfolgt, daß Menschen im Zuge der Flüchtlingshilfe darüber wütend werden, daß der Staat nicht tut, was er tun könnte. So beschäftigen sich Menschen mit Fluchtursachen wie Krieg, aber auch Armut wie etwa im Fall der Flüchtlinge aus dem Kosovo. Das wirkt sich natürlich unterschiedlich aus, aber bei vielen erlebe ich tatsächlich eine Politisierung, und das müssen wir auffangen. Wir dürfen die Menschen nicht alleine lassen, weil sonst eine ganze Gruppe der Bevölkerung innerhalb weniger Monate einen Burnout haben wird. Wenn es uns jedoch gelingt, diesen Ansatz von Politisierung aufzugreifen, präsent zu sein, den Helfern zu helfen und mit ihnen politische Veranstaltungen zu machen, dann sehe ich da ein großes Potential für politische Bewegung.

SB: Wenn über Grenzsicherungsmaßnahmen diskutiert wird, steht immer die Frage am Horizont, was denn geschieht, wenn die Bundeswehr für diese Aufgabe eingesetzt wird. Könnte bei einer Eskalation auch so etwas wie ein Schießbefehl ins Gespräch oder gar zur Anwendung kommen?

CH: Ich denke, daß ein Schießbefehl an der deutschen Grenze in nächster Zeit nicht zu erwarten ist, schlichtweg, weil er historisch so belastet ist, daß sich das erst einmal niemand trauen wird. Wir werden aber damit rechnen müssen, daß es diese Schießbefehle an den EU-Grenzen geben wird. Partiell haben wir schon einzelne Fälle gehabt. So wurde an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien ein Flüchtling erschossen, was vermutlich ein Warnschuß sein sollte, der aber den Kopf traf. Das sind für mich Vorboten dessen, daß diese EU-Grenzen nicht nur dadurch, daß Menschen gefährliche Überfahrten übers Mittelmeer machen, blutig werden, sondern daß dies schlichtweg durch Schußwaffeneinsatz geschieht. Wie sollte diese Abschottung auch durchgesetzt werden, wenn diejenigen, die sie durchsetzen, nicht bereit sind zu schießen?

SB: Existiert dazu eine Grundlage in den EU-Verträgen?

CH: Mit der Frontex-Agentur haben wir zumindest eine Institution, die das umsetzen kann und partiell immer wieder umgesetzt hat. Die Push-backs, das Zurückdrängen von Menschen, die die Land- oder Seegrenzen überschritten haben, waren zwar nicht direkt Schießbefehle, aber zum Teil trotzdem in der Konsequenz tödlich. Wenn Menschen in den reißenden Fluß Evros zwischen Griechenland und der Türkei zurückgedrängt werden und darin elendiglich umkommen, dann ist es zwar kein Schießbefehl, aber schlußendlich eine willentliche Inkaufnahme dessen, daß Menschen ermordet werden oder sterben müssen. Wenn ich Menschen in einem Schlauchboot wieder zurück auf die wilde See schicke, dann bin ich auch dafür verantwortlich, wenn sie sterben. Die Frontex-Beamten können zur Selbstverteidigung schießen. Wie Selbstverteidigung dann aussieht, kann auf offener See niemand überprüfen.

Ich denke, daß es auf diesem schleichenden Weg laufen wird. Wir dürfen nicht ausblenden, daß wir mit der EU-Mission Sophia bereits eine sogenannte robuste Mission im Mittelmeer haben, die vorgeblich gegen Schleuser gerichtet ist. Wenn der mutmaßliche Schleuser mit Flüchtlingen auf einem Boot sitzt, dann kann so eine Mission auch bedeuten, daß auf die Menschen in diesem Boot geschossen wird. Die strukturellen Voraussetzungen dafür sind geschaffen, und wie sehr sie umgesetzt werden, liegt ein Stück weit auch an der ethischen Ausstattung der Soldaten. Schlußendlich ist es unverantwortlich, überhaupt eine solche Situation zu schaffen. Ich halte diese Mission Sophia schlichtweg für unmoralisch. Sie ist zwar nach EU-Gesetzen legal, aber unmoralisch, weil sie Menschen ins Elend zurückschickt. Letztlich werden nicht Schleuser, die man auch Fluchthelfer nennen könnte, bekämpft, sondern diejenigen, die fliehen, was deren Flucht teurer und gefährlicher macht.

SB: Vor wenigen Tagen hat Ex-Außenminister Fischer in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung angemerkt, daß es aus deutscher oder europäischer Sicht ein Fehler gewesen sei, von der Türkei abzurücken. Wie beurteilst du die Politik der Bundesrepublik gegenüber der Türkei?

CH: Die deutsche Politik gegenüber der Türkei ist unglaublich widersprüchlich. Wir haben einerseits eine aus Rassismus auch antimuslimischer Art gespeiste Haltung, den EU-Beitritt der Türkei abzulehnen, andererseits wird mit diesem NATO-Partner eng kooperiert. So haben die an der syrisch-türkischen Grenze stationierten Patriot-Raketen der Bundeswehr lange Zeit die türkische Politik in der Region abgesichert. Währenddessen ist das Hauptinteresse nicht etwa eine demokratische Entwicklung in der Türkei, sondern es geht darum, das Land als Bollwerk gegen Flüchtlinge aufzubauen. So funktioniert die griechische Regierung in dieser Hinsicht zwar weitgehend, aber nicht ganz so, wie es aus EU-Sicht sein sollte. Daher ist eine Vorfeldabschottung gewünscht, indem man Lager in der Türkei einrichtet, die Grenzen militärisch sichert und so dafür sorgt, daß im Rest Europas nicht ankommt, was durch die militärische Zuspitzung in der ganzen Welt ausgelöst wird.

Die Türkei wird schlichtweg instrumentell betrachtet, und daher ist es völlig egal, welche Politik Erdogan macht, Hauptsache, er ist ein verläßlicher Verbündeter. Ich weiß nicht, wie sehr das zu Erdogans Konzept paßt, eine selbstbewußt nationalistische und auch chauvinistische Politik für die Türkei zu betreiben, die sich stark gegen kurdische und andere Minderheiten richtet und sehr antidemokratisch ist, wobei politische Repression fast schon zum guten Ton gehört. All das scheint egal zu sein. So fiel der jetzt im Rahmen des Betrittsprozesses veröffentlichte EU-Fortschrittsbericht für die politische Situation in der Türkei vernichtend aus, was allerdings keinerlei Auswirkung auf die Kooperationen wie wahrscheinlich auch auf die Milliarden hat, die zur Zurückhaltung von Flüchtlingen in die Türkei fließen werden. Ich halte das für barbarisch, undemokratisch und in jedem Fall für politisch kontraproduktiv, denn für eine kurzfristige Eindämmung werden sehr viel mehr Probleme entstehen.

SB: Deutsche und türkische Behörden arbeiten seit jeher gegen Linke und Kurden zusammen. Was ist zu befürchten, wenn der türkischen Regierung unter dem Motto der Flüchtlingsabwehr eine Art Freibrief ausgestellt wird?

CH: Wir haben gerade erlebt, wie es die Oppositionspartei HDP, die kurdische Kräfte plus viele linke Kräfte in der Türkei zusammenbringt, nur mit großer Mühe geschafft hat, wieder über die 10-Prozent-Hürde zu kommen. Es gelang ihr trotz massiver Repression und der Schließung von über 300 Wahllokalen in ihren Hochburgen. Erdogans Hoffnung war, die HDP unter 10 Prozent zu drücken und dafür zu sorgen, daß es im türkischen Parlament keine linke Opposition gibt. Ich befürchte, daß dieser Druck auf linke Kräfte weiter zunehmen und es auch noch stärkere Repression gegen kurdische Kräfte geben wird. Vor, während und auch nach der Wahl waren viele kurdische Städte abgeriegelt. Viele linke Journalistinnen und Journalisten, viele linke Politikerinnen und Politiker befinden sich im Gefängnis.

Mein Eindruck ist, daß das deutlich zunehmen wird. Daß der negative Fortschrittsbericht praktisch ignoriert wird, belegt, daß es diesen Freibrief tatsächlich gibt. Die EU ist in ihrer jetzigen Ausrichtung so sehr auf die Kooperation der Türkei angewiesen, daß Erdogan tun und lassen kann, was er will. Dabei wird das PKK-Verbot in der EU und auch in Deutschland noch strikter umgesetzt als in der Türkei. Diese Spaltung in der Bevölkerung des Landes zu unterstützen und fortzusetzen, halte ich politisch für absolut kontraproduktiv. Deswegen bin ich dafür, das PKK-Verbot sofort aufzuheben. Nicht weil ich die PKK-Strategien in jeder Hinsicht stärken würde, aber weil ein politischer Prozeß ermöglicht würde, weil politische Kräfte auch verhandeln und sich organisieren können müssen, um eine öffentliche Debatte zu führen. All das kann unter dem Stempel "Terrororganisation" nicht geschehen.

SB: Wie beurteilst du die deutsche Politik, militärische Unterstützung in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak zu leisten, zugleich aber das PKK-Verbot im Grunde auch auf Rojava anzuwenden?

CH: Es ist ganz offensichtlich ein rein instrumenteller Umgang mit kurdischen Kräften. Mit denjenigen im Norden des Iraks, mit denen es eine lange Kooperation im Irakkrieg gab, als sie Seite an Seite mit den USA gegen Saddam Hussein operiert haben. Man kennt sich relativ lange und arbeitet bei der Ausbeutung der Rohstoffe im Norden des Iraks zusammen. Das sind die kurdischen Kräfte, die politisch auf der Linie der meisten westlichen Staaten sind. Deswegen ist es konsequent, diese Kräfte zu fördern. Etwas anderes sind die Kräfte der PYD, der YPG und so weiter, die im Norden Syriens und teilweise auch in der Türkei eher für einen progressiven Ansatz stehen. Kurde zu sein ist ja noch kein politisches Programm, das ist eine ethnische Zugehörigkeit, innerhalb derer es ein breites Spektrum verschiedener politischer Strömungen gibt. Die progressiven kurdischen Kräfte werden marginalisiert oder verboten, das gilt für die EU und leider auch für die Türkei, was ganz erhebliche Konsequenzen hat. Es ist ja ein Irrsinn, daß Kobane mit viel internationaler Unterstützung freigebombt wurde, während die Kräfte, die Kobane angegriffen haben, gleichzeitig aus der Türkei gefördert und mit Waffen unterstützt worden sind. Daran merkt man, wie widersprüchlich die Interessen sind und daß es definitiv nicht um die Menschen vor Ort geht, sondern um einen Machtpoker, in dem sie im wahrsten Sinne des Wortes nur ein Bauernopfer sind.

SB: Die Bundesrepublik hat sich aus den Irakkriegen immer "herausgehalten", doch jetzt wirkt es so, als würden durch die Hintertür Aktivitäten entfaltet. Verfolgt Deutschland im Nordirak auch geostrategische Interessen?

CH: Ich entdecke keine speziellen geostrategischen Interessen der Bundesrepublik in der Region. Ich entdecke eher das Interesse daran, Deutschland als militärischen Akteur auch jenseits von EU und NATO auszuprobieren. Das Interessante an der Ausbildungsmission der Bundeswehr im Nordirak ist, daß sie weder im Rahmen der NATO noch unter Ägide der EU erfolgt, sondern rein national stattfindet. In gewisser Weise handelt es sich um ein koloniales Konzept, Hilfstruppen auszubilden, die politisch abhängig sind, weil sie Waffen, Munition und Ausbildung erhalten und die Kooperation mit den entsprechenden Kräften gelernt haben. In diesem Bereich auszuprobieren, inwieweit die Bundeswehr es schafft, ein solches koloniales Konzept umzusetzen, verstehe ich eher als einen Experimentierraum, so zynisch das klingen mag, als daß tatsächlich ein ausgefeiltes geostrategisches Konzept dahintersteht. Ich habe es auch in keinem der Strategiekonzepte bis jetzt gefunden. Ich glaube tatsächlich, daß es darum geht, nationale Militäreinsätze in Bereichen auszuprobieren, in denen es international keinen großen Aufschrei gibt.

SB: Für die Bundesrepublik wurde ja lange Zeit geltend gemacht, daß sie zwar eine ökonomische Macht sei, aber militärisch eher zurückhaltend agiere. Läßt sich aus deiner Sicht ökonomischer Einfluß längerfristig ohne militärische Stärke ausüben?

CH: Ja natürlich. Was immer man von China halten mag, so übt das staatskapitalistische Land aber massiven Einfluß in den Nachbarländern aus, ohne dort eine militärische Präsenz zu unterhalten. Es ist durchaus möglich, allein durch ökonomische Stärke Einfluß zu gewinnen. Deutschland ist unbestreitbar ein ökonomisch sehr starkes Land, was ich nicht gut finden muß, aber hätte auch ohne das Militär auf jeden Fall die Möglichkeit, seine Machtambitionen umzusetzen. Nur gibt es dann natürlich bestimmte Grenzen, die zu beachten sind. Ich habe den Eindruck, daß über diese Grenzen hinausgegangen werden soll, indem Staaten, die gegen ihre eigenen Interessen gerichtet kooperieren müssen, schlußendlich klargemacht wird, daß sie andernfalls mit einer Intervention zu rechnen haben. Es gilt, das Erpessungspotential über das Ökonomische hinaus zu vergrößern. In meinen Augen ist das Militär ein Kraftverstärker, der auch dann wirkt, wenn er nicht eingesetzt wird, schlichtweg indem gezeigt wird, daß er eingesetzt werden kann und damit ein Drohpotential im wahrsten Sinne des Wortes ist. Einen zwingenden Zusammenhang, daß ein Land, das sein Militär nicht einsetzt, nicht starken internationalen Einfluß nehmen kann, sehe ich jedoch nicht.

SB: Du hattest die Kampfbereitschaft der griechischen Bevölkerung mit der fehlenden Kampfbereitschaft der deutschen verglichen. Warum ist es trotz aller sozialer Grausamkeiten hierzulande so still?

CH: Einer der Fehler ist sicher die antikommunistische Grundhaltung. In einem Land, wo "du Kommunist!" ein Vorwurf ist, ist es relativ schwierig, Ideen wie Umverteilung ernsthaft in die Köpfe der Menschen zu bekommen. Einfach gesagt, verfängt der Vorwurf, daß du Gleichmacherei betreibst und gegen die Leistungsorientierung bist, in weiten Teilen der Bevölkerung. Thomas Mann sagte einmal, daß es die Grundtorheit des 20. Jahrhunderts ist, antikommunistisch zu sein. Er hatte recht damit, und an dieser Stelle muß ich sagen, daß ich mich selber nicht als Kommunistin bezeichnen würde, sondern daß ich schlichtweg Ideen des Kommunismus so wichtig finde, daß sie in der Diskussion sein müssen. Genauso wie die Idee des Sozialismus in der Diskussion sein sollte, denn nur wenn konkurrierende Ideen bedacht werden, hat man die Chance, den politischen Raum zu vergrößern, Entscheidungsräume zu schaffen, oder anders gesagt, Koordinatensysteme zu verschieben.

Momentan haben wir Koordinatensysteme, die durch verschiedene Formen des Kapitalismus geprägt sind. Wobei der keynesianistische Kapitalismus die linke Seite darstellt und im Moment alles daraufzusteuert, einen neoliberalen, extrem ausbeuterischen Kapitalismus durchzusetzen. Das Koordinatensystem wird von diesen beiden Polen eingefaßt, jenseits derer es so gut wie nichts gibt, was politisch wirksam ist. Auch die parlamentarische Linke verfolgt im Prinzip ein rein keynesianistisches Konzept, für dessen Verwirklichung es links davon etwas geben muß, was in der Debatte ist. Wenn der Keynesianismus schon den linken Rand darstellt, wird es kaum möglich sein, ihn umzusetzen. Deswegen geht es mir darum, in der politischen Debatte Denkräume zu eröffnen, aus denen heraus sich Bewegungen initiieren lassen. Bevor Menschen sich organisieren, müssen sie eine Idee davon haben, in welche Richtung es gehen kann. Wir müssen viel politische Alphabetisierungsarbeit in diesem Land leisten, weil es unausgesprochene und zum Teil auch ausgesprochene Denkverbote gibt. Dazu gehört das Denkverbot "Kommunist" und sogar das Denkverbot "Sozialist". Selbst ernstgemeinte Sozialdemokratie wird ja belächelt. Einen Wettstreit der Ideen offen und ohne Denkverbote zu führen, ist aus meiner Sicht der erste Schritt, der in Deutschland gemacht werden muß, bevor es zu einer ernstzunehmenden Mobilisierung kommt.

SB: Claudia, vielen Dank für das Gespräch.


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29. November 2015


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