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INTERVIEW/277: Kurdischer Aufbruch - überall derselbe Feind ...    Alex Mohubetswane Mashilo im Gespräch (1) (SB)


Erfahrungen aus Südafrika

Gespräch mit Alex Mohubetswane Mashilo am 5. April 2015 in Hamburg (1. Teil)

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


A. Mashilo während des Interviews - Foto: © 2015 by Schattenblick

Alex Mohubetswane Mashilo
Foto: © 2015 by Schattenblick

Wenn sich ein Volk wie das kurdische, das zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte die Möglichkeit hatte, sich in einem eigenen Staat zu konstituieren, aufmacht, die Ketten der Fremdherrschaft und Okkupation, die häufig bis an den Rand der Assimilation und erzwungenen Verleugnung der eigenen Identität reichten, von sich zu werfen, steht es vor grundlegenden Fragen des menschlichen Zusammenlebens in seiner vergesellschafteten Form. Kommt dann noch hinzu, daß die vier Staaten, die das zerteilte kurdische Siedlungsgebiet als ihr unverrückbares Territorium ansehen, alles andere als kooperativ auf die kurdischen Emanzipationsbestrebungen reagieren und statt dessen zu härtester Repression greifen, selbst wenn die Forderung nach einem eigenen Staat zugunsten einer Autonomielösung fallengelassen wurde, wird das Problem nur umso größer, zumal dann, wenn die internationale Gemeinschaft, die sich gern als Hüterin von Demokratie und Menschenrechten ausgibt, wenn dies ihren Interessen zweckdienlich ist, auf dem kurdischen Auge blind und taub zu sein scheint.

Auf der Basis dieser Gemengelage hat in der kurdischen Bewegung und Gesellschaft seit vielen Jahren das Konzept eines dezentralen, selbstverwalteten Aufbaus einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaft - ohne eigenen Staat - immer mehr Gestalt angenommen. Die Idee eines solchen demokratischen Aufbaus war bereits im Frühjahr 2012 Thema einer von kurdischen Organisationen ausgerichteten Konferenz, die in Hamburg unter dem Titel "Die kapitalistische Moderne herausfordern" [1] stattfand und im April dieses Jahres ihre Fortsetzung fand.

Da liegt es auf der Hand, daß sich die Initiatoren und Organisatoren dieser Konferenzen, weil sie den kurdischen Aufbruch zugleich auch als einen internationalistischen verstehen, weil es um die Durchsetzung einer nichtkapitalistischen, nichtsexistischen und nichtrassistischen Gesellschaftsform geht, auch für Südafrika interessieren, einem der wenigen Länder, in dem eine Regierungsallianz angetreten ist, um eine neue demokratische Gesellschaft aufzubauen. Konkret geht es um die Frage - und dies war auf der zweiten Konferenz eines der Themen einer Session zu "Lehren aus alternativen Praktiken" -, was eine fortschrittliche Partei in einem kapitalistischen Staat bewirken könne.


A. Mashilo am Rednerpult während seines Vortrags - Foto: © 2015 by Schattenblick

Solidaritätserklärung der Südafrikanischen Kommunistischen Partei mit der kurdischen Bewegung
Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit Alex Mohubetswane Mashilo konnte ein Referent gewonnen werden, der zu dieser Frage, was Südafrika betrifft, ausführlich Stellung nahm. Er ist Sprecher der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (South African Communist Party - SACP). Zu Beginn seines Vortrags, in dem er auf die historische Entwicklung und aktuelle Lage seines Landes einging, erinnerte er daran, daß Abdullah Öcalan ein Freund Nelson Mandelas gewesen sei und ihn in Südafrika besucht habe. Es habe einen intensiven Austausch zwischen ihnen gegeben, beide hätten voneinander gelernt, und so erklärte sich der Referent - im Namen seiner Partei - mit dem kurdischen Volk solidarisch.

Im Anschluß konnte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Alex Mohubetswane Mashilo nutzen. Im ersten Teil geht es um historische Fragen zu Kapitalismus und Rassismus und die Verbesserungen, die nach 1994 durch die Dreierallianz aus ANC, SACP und dem Gewerkschaftsdachverband COSATU erreicht werden konnten, aber auch die gravierenden Probleme, die in dem nach wie vor kapitalistischen Land bestehen. Im zweiten Teil wird das Verhältnis zwischen dem ANC und der SACP ebenso thematisiert wie die Zukunft Südafrikas und seine Rolle auf dem afrikanischen Kontinent wie auch innerhalb der weltweiten Bestrebungen, die Alleinherrschaft des internationalen Kapitals und seiner Agenturen zu beenden.


Schattenblick (SB): Ob im Falle des Apartheidsregimes in Südafrika zuerst der Kapitalismus oder der Rassismus bekämpft werden müsse, war eine Frage, über die auch in anderen Ländern viel diskutiert wurde. Wie würden Sie, wenn Sie aus heutiger Sicht auf die Zeit zurückblicken, in der Nelson Mandela freigelassen und die Regenbogennation geboren wurde, den Sieg im Anti-Apartheidskampf bewerten? War er vollständig?

Alex Mohubetswane Mashilo (AMM): Erstens: Der südafrikanische Befreiungskampf reicht weiter zurück als bis zur Apartheid, die 1949 offiziell zum Gesetz erklärt wurde. Es gibt ihn seit der Gründung des Afrikanischen Nationalkongresses (African National Congress - ANC) im Jahre 1912, der 1921 die Gründung der South African Communist Party (SACP) folgte. Zweitens: Bereits vor der Entstehung dieser beiden Organisationen, die als Verbündete gekämpft haben, gab es in Südafrika antikoloniale Kämpfe, und zwar seit der kolonialen Invasion und Besiedelung wie auch während der Eroberungs- und Enteignungskriege, die bis auf das Jahr 1652 zurückgehen. [2] Die Kämpfe beschränkten sich also nicht auf den Kampf gegen die Apartheid.


Ein Gemälde, das die europäischen Ankömmlinge in hochherrschaftlicher Positur zeigt, während einige Schwarze in Lendenschurzen verängstigt am Rande kauern - Foto: Charles Davidson Bell [Public domain], via Wikimedia Commons

Pioniere des christlichen Abendlandes im späteren Südafrika - Gemälde von Charles Bell über die "Ankunft" Jan van Riebeecks am Kap
Foto: Charles Davidson Bell [Public domain], via Wikimedia Commons

Seit dieser Zeit mußten die Afrikaner über die Jahrhunderte hinweg ihr Land, aber auch ihre Produktionsmittel und Produktionsweisen verteidigen, und zwar nicht nur gegen den Kolonialismus, sondern auch gegen den Kapitalismus, der in Südafrika als Teil der Kolonialherrschaft in der Region eingeführt wurde. Dieser Kampf wurde also über Jahrhunderte hinweg geführt und dauerte dann noch einmal mehrere Jahrzehnte an, bis im April 1994 ein demokratischer Durchbruch erzielt werden konnte - nur ein Jahr nach der brutalen Ermordung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chris Hani durch Janusz Walús und Clive Derby-Lewis am 10. April 1993.

SB: Wie schätzen Sie die Ereignisse von 1994 ein? Was wurde beendet, was nicht?

AMM: Das war ein sehr langer Prozeß. 1994 wurde die Grundlage für die Entwicklung einer Demokratie gelegt, für eine nicht-rassistische, nicht-sexistische und wirklich demokratische Gesellschaft. Das war das Resultat des Kampfes gegen die Apartheid, die in Südafrika die höchste und eine sehr spezielle Form des Kolonialismus repräsentiert hatte. Die Tatsache, daß die Apartheid 1994 abgeschafft wurde, bedeutete nicht, daß die rassistischen Klassenkräfte, die innerhalb der südafrikanischen Wirtschaft über das Eigentum verfügten, entmachtet worden wären.

Die großen imperialistischen Kräfte vor allem aus Westeuropa - Deutschland, Frankreich, aber auch Großbritannien, das die Südafrikanische Union aufgebaut hatte - hatten nach Verhandlungen mit den südafrikanischen Buren ein Regime der nationalen Unterdrückung geschaffen und mit Hilfe ihres Kapitals die Kontrolle über die Bergbauindustrie Südafrikas übernommen. Auch die Vereinigten Staaten übten einen enormen Einfluß auf die südafrikanische Wirtschaft aus, auch Japan und andere Staaten. Die Vision der demokratischen Veränderungskräfte, die Apartheid zu beenden, führte de facto nicht zu ihrer Beseitigung. Sie wurde als Gesetz und als Verfassungsbegriff abgeschafft, aber etliche Rassisten, wenn nicht die meisten, fuhren damit fort, auf unterschiedliche Weise Rassismus zu praktizieren. Auch die Frauen litten weiterhin unter den verschiedensten Formen patriarchaler Herrschaft.

SB: Nach 1994 kreuzten sich in Südafrika also Formen kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Herrschaft bzw. Ausbeutung. Hatte die Regenbogennation denn überhaupt eine Chance, sich ohne Einmischung von außen zu entwickeln?

AMM: Die Arbeiterklasse, deren Mehrheit aus Afrikanern, also Schwarzen bestand, wurde - die weiße Arbeiterklasse eingeschlossen - weiterhin ausgebeutet durch die weiße Bourgeoisie Südafrikas, sowohl die britische als auch die burische, aber auch durch das imperialistische Kapital aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Japan und weiteren Staaten. Südafrika als Staat war nicht notwendigerweise von imperialistischer Herrschaft befreit, was in erster Linie daran lag, daß einfach nicht genügend Ressourcen vorhanden waren, um eine grundlegende Veränderung und Entwicklung voranzutreiben. Hinzu kam, daß das internationale Kapital die Wirtschaft des Landes mehr den je durchdrang.

Darüber hinaus hat es Veränderungen in der Weltwirtschaft gegeben, die dazu führten, daß Produktionsprozesse auf die südliche Halbkugel verlagert wurden, besonders nach Ostasien, vor allem nach China. Es wurde eine neue Rollenverteilung des internationalen Kapitals aufgebaut mit Veränderungen, die die Verwertungsbedingungen insgesamt betrafen. In Südafrika machte sich diese Entwicklung in Form indirekter Investitionen bemerkbar und breitete sich immer weiter aus. Natürlich waren die Investitionsbeziehungen oberflächlich gesehen nicht kolonialistisch und verfestigten doch die wirtschaftliche Unterentwicklung Südafrikas als einem Peripheriestaat, um die imperialistische Wirtschaft Westeuropas, Nordamerikas und Japans zu übervorteilen. Die neue Verwertungsordnung des Kapitals veränderte, um Eingriffe in die südafrikanische Wirtschaft machen zu können durch direkte Projekte und indirekte Investitionen, nicht notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital.

SB: Wie haben sich denn in Südafrika, wenn auch unter fortgesetzt kapitalistisch organisierten Verwertungsbedingungen, die sozialen Verhältnisse verändert? War 1994 insofern eine Zäsur?

AMM: Seit 1994 sind massive Fortschritte erreicht worden, die die sozialen Verhältnisse betreffen. Das läßt sich durch folgende Beispiele veranschaulichen: Über 3,5 Millionen Häuser sind unentgeltlich für die Armen errichtet worden. Davon haben in den schwarzen Familien bei einer durchschnittlichen Größe von 5 Personen über 17,5 Millionen Menschen profitiert. Das ist eine ungeheuer große Zahl bei einer Gesamtpopulation von rund 52 Millionen Menschen.

Seit 1894, als der erste Elektrizitätsanschluß für einen Haushalt am Kap gelegt wurde, haben die Kolonialregime einschließlich der Apartheid-Regierung bis 1994, also während des gesamten Jahrhunderts, insgesamt 5 Millionen Haushalte elektrifiziert. Dies geschah auf einer rassistischen Basis, die die Mehrheit der Afrikaner und insbesondere die schwarze Bevölkerung ausschloß. Zwischen 1994 und dem letzten Jahr, also 2014, hat die neue, demokratisch gewählte Regierung 7 Millionen Haushalte elektrifiziert, natürlich auf einer nicht-rassistischen Basis. Während dieser 20 Jahre sind also 2 Millionen Haushalte mehr elektrifiziert worden als in dem ganzen Jahrhundert zwischen 1894 und 1994!

SB: Dennoch gab es viel Kritik an der ANC-Regierung, weil viele Haushalte lange Zeit noch immer ohne Strom waren. Können Sie uns dazu etwas sagen?

AMM: Als die ANC-Regierung damit begann, das Land zu elektrifizieren, kam es zu Kapazitätsproblemen. Als die Elektrizifierung massiv ausgeweitet werden sollte, gab es einen Rückschlag, weil eine neoliberale Politik übernommen worden war. So wurde versucht, die öffentlichen Versorgungsbetriebe zu privatisieren und sie weitgehend dem Markt zu überlassen, um so neue Generatorenkapazitäten zu erzeugen. Aber weil Elektrizität in Südafrika sehr billig war, entwickelte sich an diesem Markt, der auf Privatisierung drängte, kein Interesse daran, in den Energiebereich zu investieren oder Anteile an Energieunternehmen zu erwerben. Selbstverständlich war dies der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP) und dem größten Gewerkschaftsdachverband COSATU (Congress of South African Trade Unions) bewußt, deren sozialistische Achse im Bündnis gegen die Privatisierung kämpfte.

Für die Unternehmen selbst war klar, daß es für sie, wenn sie Energiebetriebe kauften, die Preise aber niedrig bleiben würden, keine Möglichkeit geben würde, schnell und schneller Kapital zu akkumulieren. Sie kauften also nicht, und so gab es auch keine neue Generatorenkapazität. Zu diesem Zeitpunkt, als überdeutlich wurde, daß der Staat dies tun müsse, war es bereits zu spät für einen solchen Neuaufbau und die Ausweitung der Kapazitäten, um bei den Versorgungsleistungen im Energiebereich mit der steigenden Nachfrage Schritt halten können. Südafrika hatte also ein gravierendes Problem. Das rassistische Elektrifizierungsprogramm schloß die Mehrheit der Bürger, nämlich die Schwarzen, die über 70 Prozent der Bevölkerung ausmachten, aus. Es sorgte erstens nicht für genug Kapazitäten, um jeden Menschen mit Strom versorgen zu können, und zweitens verhinderte die 1996 durchgesetzte neoliberale Politik eine Expansion der Energieversorgung. Dieses Problem überstieg unsere Möglichkeiten.


A. Mashilo während des Interviews - Foto: © 2015 by Schattenblick

70 Prozent der Bevölkerung, die Schwarzen, wurden von der Stromversorgung ausgeschlossen.
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Können Sie, um Mißverständnisse auszuräumen, erläutern, wen Sie meinen, wenn Sie von Afrikanern oder allgemein von Schwarzen sprechen?

AMM: Mit Afrikanern meinen wir einfach Afrikaner. Wenn ich von Schwarzen spreche, schließt das beispielsweise die in Südafrika lebenden Inder mit ein. Wir akzeptieren sie und sie akzeptieren sich selbst als Teil der schwarzen Bevölkerung, die zur afrikanischen Bevölkerung gehört. Dann gibt es Farbige, und natürlich sind da noch die südafrikanischen Chinesen, die schon vor sehr langer Zeit hierhergekommen und nun Bürger unseres Landes sind. Auch sie sind von den Kolonialregime unterdrückt worden.

SB: Welche Rolle spielte und spielt Bildung in diesem Befreiungskampf?

AMM: Den Schwarzen wurde auf unterschiedliche Weise der Zugang zu Bildung verweigert. Für sie gab es nur sehr wenige Bildungseinrichtungen, was Bildung schon in der Grundschule, aber natürlich auch in der High School etc. zu einer elitären Angelegenheit machte. Bildungsinvestitionen nach der Zeit der kolonialen Unterdrückung, nicht nur der Apartheid, gab es in gesetzlicher Form erst nach 1994. Im Laufe der Geschichte seit der Gründung Südafrikas als einem einheitlichen Staat und der Geschichte der beiden Kolonien, die in diesen Staat integriert wurden und zwei seiner vier Provinzen bildeten, hat es nie nennenswerte Investitionen in die Bildung der afrikanischen Bevölkerung oder der schwarzen im allgemeinen gegeben.

Seit 1994 ist das natürlich anders. Wir haben große Anstrengungen unternommen, um neue Schulen zu bauen und Bildung zu ermöglichen. Wo Kinder vorher unter einem Baum unterrichtet wurden, bauten wir eine Schule. Es wurden kostenlos Bücher, Schreib- und Unterrichtsmaterialien auszugeben, für die Bezahlung der Lehrer wurde gesorgt. Jetzt, in den 20 Jahren von 1994 bis heute, haben wir für alle Kinder in Südafrika Bildung ermöglicht, auch den Universitätszugang. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir in unserer ursprünglichen Vision, der Freiheitscharta von 1955, gesagt, daß Bildung für alle offen sein soll.

SB: Inwieweit haben sich denn die Erwartungen, durch einen Zugang zu guter Bildung für alle Menschen einen sozialgesellschaftlichen Umbruch zu schaffen, der den Idealen der Regenbogennation gerecht wird, erfüllt?

AMM: Nachdem wir die Tür der Bildung geöffnet hatten, haben wir eines lernen müssen. Im Grunde wurden die aus kolonialer Unterdrückung stammenden und auf kapitalistischer Ausbeutung beruhenden Verhältnisse nur legalisiert, weshalb viele unserer Leute immer noch arm waren. Wenn man ihnen sagt, geht zur Schule, gehen sie dort zwar hin, aber mit leerem Magen lernen sie nichts. Deshalb mußten wir Ernährungsteams in den Schulen organisieren, die die Ernährung von Millionen Schulkindern gewährleistet haben. Es gibt Studien, die belegen, daß aufgrund der Schulernährungsteams viele Kinder aus armen Familien ermutigt wurden, überhaupt zur Schule zu gehen, weil sie dort zu essen bekommen und Unterricht erhalten. Das ist eine sehr, sehr große Errungenschaft.

SB: Wie ist es um die Hochschulbildung bestellt, die häufig, auch hier in Deutschland, aus finanziellen Gründen stark vom sozialen Status abhängt? Konnten in Südafrika Fortschritte erreicht werden bei der Umsetzung des Anspruchs, den Universitätszugang für alle zu ermöglichen?

AMM: Im Bereich der höheren Bildung, die an Colleges und Universitäten angeboten wird, waren Afrikaner früher in der Minderheit. Tatsächlich gab es separate Universitäten. Es gab welche ausschließlich für Weiße, speziell für Inder, aber auch für Schwarze oder Afrikaner. Letztere wurden systematisch benachteiligt und inkompetent gehalten, wodurch der Wert der beruflichen Qualifikationen dieser Universitäten untergraben wurde. Wir haben dann ein Programm eingeführt zur Transformation der College- und Universitätsbildung. Zugleich haben wir, weil Afrikaner überall an den Rand gedrängt waren, den Zugang erleichtert, so daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Mehrheit der Studenten an den Universitäten Schwarze sind.

Aber für viele Kinder aus der Arbeiterklasse, deren Eltern niedrige Löhne bekommen oder arbeitslos sind, ist das immer noch ein Problem. Wie können wir für sie den Zugang zu Bildung erweitern? Wir haben Reformen auf den Weg gebracht zur finanziellen Unterstützung für die Colleges, die bislang nur auf sehr wenige Studenten zugeschnitten waren, und den Bildungsfonds um die Möglichkeit der Finanzhilfe für Studenten erweitert. Zwischen 1994 und Dezember 2013 haben 1,4 Millionen Studenten aus diesem Fonds Unterstützung erhalten. Zur Zeit ist es so, daß er für die Unterbringung und die Verpflegung der Studenten an der Universität zahlt und für Bücher etc. aufkommt. Man muß nur eine Karte ausfüllen und erhält Zugang zu all dem, genauso, wie wir es mit den Grund- und Gymnasialschülern handhaben. Der Grundgedanke ist dabei, daß Studenten, die finanziert wurden, das Geld an den Fonds zurückzahlen, wenn sie anfangen zu arbeiten, damit er auch über die Mittel verfügt, den Bildungsbereich immer weiter auszuweiten. Das ist eine sich-selbst-erhaltende Methode.

SB: Die Idee erinnert an das Berufsausbildungsförderungssystem hier in der Bundesrepublik Deutschland, kurz Bafög genannt. Wie sieht es denn in Südafrika mit der Umsetzung dieses Konzepts aus?

AMM: Nicht so gut. In einer Wirtschaft, in der die Arbeitslosigkeit immer noch sehr hoch ist, gibt es viele Studenten, die zwar ihre Universitätsabschlüsse haben, aber keine Anstellung finden oder lange darauf warten müssen. Es gibt auch Studenten, die sagen, Bildung ist frei, und nicht zahlen wollen. Aber davon einmal abgesehen, wurde 2007 auf der 52. Nationalen Konferenz des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) eine Resolution angenommen, um bis zum Ersten Universitätsgrad freie Bildung für arme und Arbeiterfamilien einzuführen, die sich ein Hochschulstudium nicht leisten können. Zu dieser Zeit ging es vor allem darum, daß Studenten, die für die Fondsförderung geeignet sind und sich anhand der Kriterien qualifiziert haben, eine finanzielle Unterstützung erhalten, die sie nicht zurückzahlen müssen, wenn sie die Prüfungen bestehen. Der Grundgedanke war, die Förderung noch weiter auszubauen, doch gegenwärtig schränkt der Mangel an finanziellen Ressourcen des Fonds einen solchen Fortschritt ein. Aber es gibt positive Ansätze.

SB: Und wie sieht es im heutigen Südafrika mit dem Schritt von der Ausbildung ins Berufsleben aus?

AMM: Unser Land war eine Kolonie, die für viele, viele Jahre ausgebeutet wurde und in der Arbeitslosigkeit rassenabhängig war. Die Industrie gehörte dem weißen Privatkapital in Südafrika und dem imperialistischem Kapital aus Europa, Nordamerika und Japan. Schlüsselpositionen in der Industrie gab es für uns nicht. Keinem Afrikaner war es erlaubt, Ingenieur zu werden, es war einfach verboten. Es war noch nicht einmal erlaubt, Manager zu werden. Ein Schwarzer durfte keine weißen Arbeiter unter sich haben. Das war verboten, auch für alle Frauen, ungeachtet der Rasse. Das alles mußten wir 1994 abschaffen.

Dennoch ist es so, daß dieselben Leute auch weiterhin in der Lage waren, strategische Positionen zu besetzen und nach rassistischen Prinzipien Entscheidungen zu treffen. Durch diesen latenten Rassismus ist es heute noch für beruflich Qualifizierte wie auch Schulabgänger, die aus weißen Familien kommen, leichter, eine Anstellung zu finden, als für die aus schwarzen Gemeinden. Das ist unentwirrbar verflochten mit einer Dynamik zwischen Besitz und der Verwaltungskontrolle in der Industrie. Vielen Schwarzen, die in den Anstellungsstrukturen vorangekommen sind, gelang dies mit Hilfe des öffentlichen Sektors, weil die Veränderungen dort mit großer Geschwindigkeit vonstatten gingen und sämtliche Kontrollstrukturen des alten Regimes schnell eliminiert wurden.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Siehe die Berichterstattung im Schattenblick zu dem ersten Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" in Hamburg vom 3. bis 5. Februar 2012 unter dem kategorischen Titel "Kongreß Kurdischer Aufbruch" (Berichte und Interviews):
http://schattenblick.com/infopool/politik/ip_politik_report_bericht.shtml
http://schattenblick.com/infopool/politik/ip_politik_report_interview.shtml

[2] Am 6. April 1652 landete im Auftrag der Niederländischen Ostindien-Kompanie Jan van Riebeeck am Kap der Guten Hoffnung, um eine Versorgungsstation für die Handelsroute nach Südostasien zu errichten, woraus eine sich immer weiter ausbreitende Siedlung entstand. Was aus westlicher Sicht als "Beginn der modernen Geschichtsschreibung in Südafrika" (https://de.wikipedia.org/wiki/Südafrika) bezeichnet wird, war für die afrikanischen Völker der Beginn einer Kolonialisierung, derer sie sich in jahrhundertelangen Kämpfen zu erwehren suchten und deren postkoloniale Folgen noch heute von den Lebensbedingungen auf dem einst ausgeplünderten, versklavten und in Fremdbesitz genommenen Kontinent nicht zu trennen sind.


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Die Kapitalistische Moderne herausfordern II" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
BERICHT/192: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (1) (SB)
BERICHT/193: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (2) (SB)
BERICHT/194: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (3) (SB)
BERICHT/195: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (4) (SB)
BERICHT/197: Kurdischer Aufbruch - in demokratischer Urtradition ... (SB)
BERICHT/198: Kurdischer Aufbruch - Konföderalismus sticht Kulturchauvinismus ... (SB)
BERICHT/202: Kurdischer Aufbruch - Widerstand, Gegenangriff, Revolution ... (1) (SB)
BERICHT/206: Kurdischer Aufbruch - Widerstand, Gegenangriff, Revolution ... (2) (SB)
BERICHT/208: Kurdischer Aufbruch - internationalistischer Gegenentwurf ... (SB)
BERICHT/209: Kurdischer Aufbruch - Das Spinnrad ist zum Spinnen da, die Hand jedoch zum Kämpfen ... (SB)
INTERVIEW/250: Kurdischer Aufbruch - demokratische Souveränität und westliche Zwänge ...    Dêrsim Dagdeviren im Gespräch (SB)
INTERVIEW/251: Kurdischer Aufbruch - der Feind meines Feindes ...    Norman Paech im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/255: Kurdischer Aufbruch - und also Öcalan ...    Mustefa Ebdi im Gespräch (SB)
INTERVIEW/258: Kurdischer Aufbruch - Volle Bremsung, neuer Kurs ...    Elmar Altvater im Gespräch (SB)
INTERVIEW/261: Kurdischer Aufbruch - vom Vorbild lernen ...    Gönül Kaya im Gespräch (SB)
INTERVIEW/262: Kurdischer Aufbruch - Ketten der Schuld ...    David Graeber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/263: Kurdischer Aufbruch - die Klassen wandeln sich ...    David Harvey im Gespräch (SB)
INTERVIEW/264: Kurdischer Aufbruch - linksinternational ...    Arno-Jermaine Laffin im Gespräch (SB)
INTERVIEW/265: Kurdischer Aufbruch - Grenzen sind die ersten Fesseln ...    Anja Flach im Gespräch (SB)
INTERVIEW/266: Kurdischer Aufbruch - versklavt, erzogen und gebrochen ...    Radha D'Souza im Gespräch (SB)
INTERVIEW/267: Kurdischer Aufbruch - Im Feuer erstritten ...    Necibe Qeredaxi im Gespräch (SB)
INTERVIEW/268: Kurdischer Aufbruch - Geschichte neugedacht ...    Muriel Gonzáles Athenas im Gespräch (SB)
INTERVIEW/269: Kurdischer Aufbruch - Der Widerspruch ist unser ...    John Holloway im Gespräch (SB)

3. September 2015


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