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INTERVIEW/261: Kurdischer Aufbruch - vom Vorbild lernen ...    Gönül Kaya im Gespräch (SB)


Die Jugend wünscht sich eine Linke, die wesentlich mutiger ist

Gespräch mit Gönül Kaya von der Internationalen Freien Frauenstiftung am 5. April 2015 in Hamburg

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015



G. Kaya am Rednerpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gönül Kaya
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die "demokratische Autonomie" der kurdischen Bewegung nimmt im Zuge des syrischen Bürgerkriegs in den dortigen Kurdengebieten konkrete Gestalt an und hat sich in wenigen Jahren schon so sehr als ein im Interesse der Menschen glaubwürdiges und in der Praxis nützliches Konzept bewährt, daß es sich zu einem Modell für die gesamte, im Westen häufig als rückständig eingestufte Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickeln könnte. Die Befreiung der Frau ist dabei nicht ein Punkt unter vielen, sondern ein zentraler, um nicht zu sagen mit oberster Priorität verfolgter Kampf. Diskussionen darüber, ob der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit oder die Unterdrückung der Frau als Haupt- oder Nebenwiderspruch zu handhaben seien, dürften da weitgehend obsolet geworden sein. Diese Entwicklung ist sicherlich auf die Philosophie des langjährigen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zurückzuführen, der stets deutlich gemacht, daß eine Gesellschaft nicht frei sein könne, solange die Frau es nicht ist.

Die Revolution in Rojava, also den drei kurdischen Kantonen in Syrien, aus denen sich die staatliche Armee zurückgezogen hat, sei eine Hoffnungsrevolution und ein wichtiger Lichtstrahl, wie Selma Irmak, die Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses in Nordkurdistan (Ost-Türkei) auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" betonte, weil in ihr zugleich eine neue Gesellschaft aufgebaut werde. Diese Revolution bilde in der Tradition der Frauenbefreiungskämpfe einen neuen, bislang vielleicht unerreichten Höhepunkt, denn nun gäbe es in jedem Stadtteil und in jeder Straße eine Frauenrevolution. Die kurdische Frau, die früher nicht aus dem Haus ging und keinen Mund und keine Zunge hatte, steht jetzt mitten in der Gesellschaft und tritt gegen ihren Vater, ihren Mann und ihre Brüder auf.


S. Irmak am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Selma Irmak, Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses in Nordkurdistan (Türkei)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Eine kurdische Aktivistin, die seit 25 Jahren in der Bewegung für die Befreiung der Frauen kämpft, ist Gönül Kaya. Sie ist Vorstandsmitglied der Internationalen Freien Frauenstiftung und engagiert sich in der Internationalen Vertretung der kurdischen Frauenbewegung. Zur Zeit ist sie aber auch als Kolumnistin der Frauenzeitung Newaya Jin tätig. Auf der Hamburger Konferenz hielt sie in der Abschlußveranstaltung eine Ansprache, in der sie daran erinnerte, daß Kurdistan noch immer verwundet sei. Die Menschen hätten viele Tote zu betrauern, denn noch immer herrsche Krieg und noch immer werden den Kurdinnen und Kurden ihre Rechte vorenthalten. Die Sprache ist noch immer verboten und so sei die kurdische Tragödie noch nicht zu Ende, und doch gäbe die Revolution Hoffnung und setze Zeichen, daß ein freies, gemeinsames Leben aufgebaut und eine echte Demokratie entwickelt werden könne.

Diese Hoffnung werde weit über Kurdistan hinaus in vielen Teilen der Welt gehört und geteilt. Auch hier in Hamburg, auf einer Wissenschaftskonferenz in einer europäischen Großstadt, seien viele Menschen zusammengekommen, die sozialistische, anarchistische, feministische und internationalistische Überzeugungen hätten. Sie haben sich mit der kurdischen Bewegung solidarisch gezeigt und ein großes Interesse an den Ideen, Überlegungen und Diskussionen aufgebracht. In den drei Tagen sei immer wieder die Frage gestellt worden, wann denn der Kapitalismus verschwinden würde. Dies geschähe, so schloß Gönül Kaya, wenn die Menschen glauben, daß eine andere Welt möglich sei. Im Anschluß an die Abschlußveranstaltung konnte der Schattenblick ihr noch einige Fragen stellen.


G. Kaya spricht - Foto: © 2015 by Schattenblick

Während des Interviews
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Kaya, Sie sind seit 25 Jahren im Kampf kurdischer Frauen für Freiheit und politische Gleichberechtigung aktiv. Wenn Sie diese Zeit rückerinnern, was waren die wichtigsten Punkte und Momente, vielleicht auch Erfolge, in diesem langen Kampf?

Gönül Kaya (GK): Aus meiner persönlichen Sicht oder politisch?

SB: Beides, wenn Sie mögen.

GK: Diese 25 Jahre sind sowohl für mich als auch für die kurdische Frauenbewegung eine Phase, in der wichtige Schritte vollzogen wurden. Als ich der kurdischen Bewegung beigetreten bin, war die Bewegung eher fokussiert auf den nationalen Befreiungskampf. In diesen 25 Jahren habe ich mich und hat sich die kurdische Frauenbewegung natürlich weiterentwickelt im Hinblick nicht nur auf den nationalen Befreiungskampf, sondern auch auf die Bekämpfung der feudalen Strukturen und einer rückständigen Gesinnung. Neben der doch erheblichen Macht der Kolonialstaaten und der Aufteilung Kurdistans durch sie besteht das eigentliche Problem in der Gesinnung der kolonialisierten Menschen, die wirklich sehr rückständig ist. Wir erkennen da ein großes Demokratie-Defizit. Deswegen waren die 25 Jahre für mich persönlich wie für die Frauenbewegung zugleich auch eine Gedankenakademie.

SB: Können Sie den Menschen in den westeuropäischen Ländern erläutern, wie die Lage der Frauen in der traditionellen kurdischen Kultur gewesen ist und was die kurdische Bewegung gerade für Frauen bedeutet hat in diesem Aufbruch?

GK: Die eigentliche Quelle der kurdischen Bevölkerung lehnt sich an ein kommunales Leben an. Wir können sagen, sie hat eine kommunale Quelle. Es sind matriarchale Wurzeln vorhanden, jedoch gab es in der Entwicklung der kurdischen Gesellschaft einen Bruch, der zum einen durch die Besatzung, zum anderen aber auch durch die Islamisierung ausgelöst wurde. Der Einzug des Islam kam einer Assimilation gleich. Die Kurden wurden zunächst arabisiert, im Verlauf der Zeit dann türkisiert, weshalb auch die feudalen Traditionen sehr stark in der kurdischen Gesellschaft verwurzelt sind.

In Regionen, in denen diese ursprüngliche kommunale Kultur noch wirkt, sehen wir keine so starke Feudalisierung der Gesellschaft. In Gebieten, in denen die Ideologie oder die Gesinnung der Besatzer Einzug erhalten hat, erkennen wir eine große Repression gegen die Frauen. Ein Beispiel: Sowohl in Nordkurdistan, aber auch in Ostkurdistan und vor allem in Südkurdistan wie auch in Rojava [1] kam es vor, daß die Männer mehrere Frauen heirateten. In dieser Gesellschaftsform hatten die Frauen kein gesellschaftliches Mitspracherecht. Die Frau durfte die Grenzen der Familie des Mannes, des Vaters, der feudalen Strukturen nicht verlassen. Jede Frau, die sich dagegen erhoben hat, bekommt nur eine Antwort und das ist die Tötung.

Es gibt noch immer diese patriarchale Gesinnung innerhalb der kurdischen Gesellschaft. Sie haben das sicherlich mitverfolgt. Auch in Deutschland gibt es immer wieder Fälle, wo junge Frauen von seiten der Familie ihres Mannes getötet werden. Das beobachten wir sowohl bei den Sunniten als auch den Aleviten und den Jesiden. Das geschieht im Namen der Ehre. Die kurdische Frauenbewegung hat daher ihren Kampf ganz besonders auf diese rückständigen Traditionen fokussiert. Ein wichtiger Punkt dieses Kampfes ist, diese rückständige Gesinnung zu zerbrechen und die Frau ins Zentrum der Freiheit zu rücken. Auch innerhalb Europas sehen wir weiterhin diese rückständigen Strukturen. So wird einer Frau beispielsweise nicht erlaubt, aus dem Haus zu gehen, um sich der Sprache mächtig zu machen. Europa ist natürlich ein Ort des Kapitalismus und all seiner schlechten Seiten, aber es ist auch gleichzeitig ein Raum der Rechte und Freiheiten. Wir versuchen, die Frauen auch dahin zu kanalisieren.

SB: Frau Kaya, Sie sind Gründungsmitglied der Internationalen Freien Frauenstiftung. Ich würde gerne wissen, was das für eine Organisation ist und welche Tätigkeit Sie da ausüben?

GK: Die Stiftung wurde begründet von Frauen verschiedener ethnischer Herkunft, auch Deutsche und Holländerinnen waren darunter. Es geht zum einen um Aufklärungsarbeit für Frauen in Form von Seminaren, Konferenzen und ähnlichen Veranstaltungen. Wir bieten diese Veranstaltungen hauptsächlich für kurdische Flüchtlingsfrauen und -kinder an, die wir versuchen zusammenzubringen. Im Rahmen dieser Arbeit unserer Stiftung finden die Frauen, die der Sprachen der jeweiligen Länder, in denen sie leben, nicht mächtig sind, die Möglichkeit, über die Schwierigkeiten zu sprechen, die daraus entstehen. Auch über die Probleme mit den Kindern wird gesprochen. Wir bieten ihnen eine Plattform für den Austausch.

Wir haben auch Hilfsprojekte. Im Rahmen dieser Projekte kann man als Beispiel ein Kindergartenprojekt im Flüchtlingslager Machmur anführen, das wir organisiert haben. Zudem haben wir ein Bildungsprojekt, das in Amed Kinder unterstützt, die Kriegsopfer geworden sind. Wir organisieren zudem verschiedene Konferenzen, zuletzt eine Konferenz zum Thema "Kommunale Ökonomie und Frauen". Zum Thema Feminizid haben wir in verschiedenen europäischen Ländern, so in Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden, an der Organisation von Konferenzen teilgenommen. Im Moment haben wir ein Projekt laufen in bezug auf das Newroz-Flüchtlingslager in Rojava, in dem Kurden aus dem Sindschar-Gebirge leben. Da sind wir gerade dabei, ein Schulprojekt zu aufzubauen, ein weiteres soll auch Frauen Möglichkeiten zur Ausbildung bieten.


G. Kaya und D. Dagdeviren, dicht nebeneinander stehend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gönül Kaya mit Dêrsim Dagdeviren, die für sie übersetzte
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" sind insgesamt mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer als auf der vorigen Konferenz gewesen, unter ihnen waren auch sehr viele junge Menschen. Haben Sie hier oder bei anderen Veranstaltungen, an denen Sie teilgenommen haben, so etwas wie einen Übertrag beobachten können auf jüngere Deutsche, die die kurdische Befreiungsbewegung für sich neu entdecken und sich für sie engagieren?

GK: Bei der letzten Konferenz haben wir eine kleine Gruppe junger Deutscher verzeichnen können. Die Teilnehmerzahl dieser Konferenz ist für uns natürlich überaus erfreulich. In Deutschland gibt es vor dem Hintergrund von Menschen wie Clara [2] und Rosa Luxemburg eine Basis für solche Alternativen. Diese jungen Menschen wissen darum, wir sprechen und diskutieren manchmal mit ihnen darüber. Wir erkennen in der deutschen Jugend mit der Vertiefung der Krise des Kapitalismus eine zunehmende Suche nach neuen Möglichkeiten und Alternativen.

Natürlich schaut diese deutsche oder europäische Jugend auf die kurdische Befreiungsbewegung, aber sie wünscht sich genauso auch einen Fortschritt und einen Aufbruch für Deutschland, für Europa, also für sich selbst. Wir sehen natürlich auch die verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus in europäischen Ländern wie Griechenland, Spanien oder Italien und die Migration von Menschen, die aus diesen Ländern kommen, wodurch hier noch eine größere Sensibilität entsteht. Aus Kurdistan verzeichnen wir eine politische Migration nach Deutschland, und es besteht ein politischer Dialog zwischen den Menschen, die als Flüchtlinge hierher gekommen sind, und der hiesigen Bevölkerung, insbesondere der Jugend.

Daraus generiert sich dann auch eine Verständigung. Die Jugend wünscht sich keine Linke, die sich nur innerhalb der Grenzen Deutschlands bewegt, sondern sie möchte eine Linke, die wesentlich mutiger ist und die Grenzen überwindet. Daß die Jugend auf der Suche ist nach Alternativen, finde ich, ist sehr, sehr positiv und sehr wichtig. Wir dürfen, wie wir am Beispiel des Islamischen Staates sehen, nicht vergessen, daß die Systeme in einer solchen Phase des Umbruchs immer auch neue Strategien gegen diesen Aufbruch entwickeln. Doch der Protest allein gegen das bestehende System reicht nicht aus, es ist erforderlich, den Widerstand dagegen zu organisieren

SB: Vielen Dank, Frau Kaya, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Nordkurdistan ist der im Südosten der Türkei gelegene Teil des kurdischen Siedlungsgebietes. Als Ostkurdistan wird der iranische Teil Kurdistans bezeichnet, während mit Südkurdistan das autonome Kurdengebiet im Norden des Iraks gemeint ist. Rojava, das kurdische Wort für Westen, ist der Name des syrischen Teilgebiets, in dem die kurdische Bewegung im Verlauf des Bürgerkriegs mit dem Aufbau der demokratischen Autonomie beginnen konnte.

[2] Gemeint ist natürlich Clara Zetkin, eine enge Weg- und Kampfgefährtin Rosa Luxemburgs. Zetkin war eine sozialdemokratische Frauenrechtlerin, die die Geschlechterfrage zu einem Nebenwiderspruch erklärte. In der deutschen Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war diese Unterordnung unter den Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit höchst umstritten. Von 1920 bis 1933 war Zetkin Abgeordnete der von Rosa Luxemburg mitbegründeten KPD im Weimarer Reichstag.

Bisherige Beiträge zur Konferenz "Die Kapitalistische Moderne herausfordern II" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
BERICHT/192: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (1) (SB)
INTERVIEW/250: Kurdischer Aufbruch - demokratische Souveränität und westliche Zwänge ...    Dêrsim Dagdeviren im Gespräch (SB)
INTERVIEW/251: Kurdischer Aufbruch - der Feind meines Feindes ...    Norman Paech im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/255: Kurdischer Aufbruch - und also Öcalan ...    Mustefa Ebdi im Gespräch (SB)
INTERVIEW/258: Kurdischer Aufbruch - Volle Bremsung, neuer Kurs ...    Elmar Altvater im Gespräch (SB)

25. Mai 2015


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