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INTERVIEW/253: Die andere Türkei - derselbe Kampf ...    Cansu Özdemir im Gespräch (SB)


Demokratische Autonomie - Modell und Beispiel für die gesamte Türkei

Interview mit der Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten der Partei Die Linke Cansu Özdemir

Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Hamburg-Altona am 12. April 2015


C. Özdemir in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Cansu Özdemir
Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit 22 Jahren war die Hamburger Studentin Cansu Özdemir am 7. März 2011 erstmals als Abgeordnete der Partei Die Linke in die Hamburger Bürgerschaft eingezogen. Ihr aufsehenerregendes Wahlergebnis konnte sie bei der diesjährigen Bürgerschaftswahl noch von rund 10.000 auf knapp 13.000 Stimmen steigern. Cansu Özdemir ist gebürtige Hamburgerin, ihre Eltern sind kurdische Einwanderer, sie studiert an der Universität Hamburg Kulturanthropologie und Politologie. In der jetzigen Bürgerschaft ist Die Linke mit elf Abgeordneten vertreten, nachdem sie mit insgesamt 8,5 Prozent bei Landtagswahlen das bundesweit zweitbeste Ergebnis erzielen konnte. Überraschend wählte die Fraktion Cansu Özdemir und Sabine Boeddinghaus zu ihren Vorsitzenden.

Bei beiden Bürgerschaftswahlen schien es Versuche gegeben zu haben, Cansu Özdemir politisch zu diskreditieren. So wurde, basierend auf einer Erklärung des Hamburger Verfassungsschutzes, gegen sie der Vorwurf erhoben, sie habe in Kontakt zu der in Deutschland verbotenen PKK gestanden. Sie wies dies entschieden zurück und erklärte, daß sie in der kurdischen Heimat ihrer Eltern oft zu Besuch gewesen sei und mit Abgeordneten der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), dem Menschenrechtsverein (IHD) und der kurdischen Frauenbewegung (DÖKH) gesprochen habe. Auch in Hamburg habe sie sich für Frieden und Demokratisierung in der Türkei eingesetzt in Wahrnehmung ihrer Grundrechte. [1]

Vier Jahre später wurden dieses Engagement und ihre politische Arbeit in der Partei Die Linke seitens ihrer Wählerinnen und Wähler eindeutig honoriert. Ein abermaliger mutmaßlicher Diskreditierungsversuch ist insofern fehlgeschlagen. Im Januar 2015, kurz vor der Bürgerschaftswahl, hatte die Hamburger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet wegen eines von ihr - wie von Tausenden anderen auch - auf Facebook geteiltem Foto vom November 2014, das mehrere Bundestagsabgeordnete ihrer Partei mit einer PKK-Fahne zeigt. Sie forderte Akteneinsicht ein, wobei herausgekommen sei, daß niemand eine Anzeige gestellt hatte, die Staatsanwaltschaft also von sich aus in Aktion getreten war. [2]

Das Ermittlungsverfahren wurde, wie in einer Solidaritätserklärung der Hamburger Linkspartei für Cansu Özdemir gefordert, inzwischen eingestellt. In der Erklärung hatte die Partei darauf hingewiesen, daß angesichts der Kämpfe in Kobanê inzwischen sogar CDU-Politikerinnen und Politiker öffentlich darüber nachdächten, die PKK im Kampf gegen den Islamischen Staat zu unterstützen. Auch angesichts der politischen Gespräche zwischen der türkischen Regierung und dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan sei die Absurdität des PKK-Verbots offensichtlich. [3]

Die politische Solidarität der Partei Die Linke auf Bundes- und Landesebene wie hier in Hamburg beschränkt sich allerdings nicht auf Initiativen gegen dieses als undemokratisch bewertete Parteienverbot. Sie gilt im Vorfeld der am 7. Juni in der Türkei stattfindenden Parlamentswahlen in zunehmendem Maße der HDP und damit einer zwar aus der kurdischen Bewegung stammenden, nun aber in der gesamten Türkei antretenden Partei. Da sie alle fortschrittlichen Kräfte ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit anspricht, verbinden mit ihr und ihrem möglichen Wahlerfolg viele Menschen innerhalb wie außerhalb der Türkei die begründete Hoffnung auf eine fundamentale Demokratisierung des Landes.

Für viele der in Deutschland lebenden Staatsangehörigen der Türkei, gleichgültig, ob kurdischer oder türkischer Nationalität, liegt es daher mehr als nahe, den Wahlkampf der HDP auch von hier aus zu unterstützen. Für Hamburger Kurdinnen und Kurden, die in der Partei Die Linke ihre politische Heimat und ihr parlamentarisches Betätigungsfeld gefunden haben, liegen die Solidarität mit der kurdischen bzw. türkeiweiten Demokratiebewegung und das programmatische Engagement für einen demokratischen Sozialismus auf ein- und derselben Linie. Dies trifft mit Sicherheit auch auf Cansu Özdemir zu, die anläßlich der Einweihung eines Kontakt- und Informationsbüros der HDP am 12. April an einer Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Büro des Altonaer Bezirksverbandes der Partei Die Linke teilnahm. [4] Im Anschluß daran fand sie sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.


C. Özdemir spricht, hinter ihr Plakate mit der Aufschrift 'HDP - Peoples Democratic Party' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Cansu Özdemir während der Pressekonferenz anläßlich der Einweihung des HDP-Kontakt- und Informationsbüros in Hamburg-Altona
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Özdemir, würden Sie sich kurz vorstellen und Ihre politische Arbeit beschreiben?

Cansu Özdemir (CÖ): Ich bin seit 2011 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und sitze da für die Fraktion Die Linke. Jetzt bin ich Ko-Vorsitzende der Bürgerschaftsfraktion und arbeite zu den Bereichen Soziales, Integration und Frauen. Davor aber war ich sehr lange in der kurdischen Community aktiv, habe dort Jugend- und Pressearbeit gemacht und auch den Frauenrat in Hamburg mit aufgebaut, in dem ich immer noch Mitglied bin. Heute liegen meine Arbeitsschwerpunkte eher beim Thema Obdachlosigkeit in Hamburg, Stichwort Zwangsräumungen, dann aber auch bei Armut und bei allen Gruppen, die von ihr betroffen sind oder auch davon, aufgrund von Barrieren nicht partizipieren zu können. Ich arbeite eher zu solchen Themen, dann aber auch zum Thema Kurdistan/Türkei, das mir einfach sehr am Herzen liegt, weil ich selbst auch ein Wahlrecht habe.

SB: Sind Sie denn mit dem Verlauf und dem Besucherandrang hier heute auf der Pressekonferenz bzw. bei der Einweihung des HDP-Kontaktbüros zufrieden?

CÖ: Oh ja. Ich glaube allerdings, daß es in Wirklichkeit noch sehr viel mehr Menschen gibt, die ein großes Interesse an der HDP haben. Aber es ist Sonntag und gutes Wetter, da haben viele bestimmt noch andere Sachen zu tun. Im großen und ganzen finde ich den Verlauf sehr gut. Es sind aus verschiedenen politischen und ethnischen Gruppen Menschen gekommen, was ich sehr schön finde. Das zeigt auch schon, wie die Stimmung hier ist. Das Ganze ist ja nicht ein Prozeß, der erst heute, sondern schon vor Monaten angefangen hat. Als wir - ich meine jetzt meine Partei Die Linke - im Wahlkampf Hausbesuche gemacht haben, war es schon so, daß wir angefangen haben, für die HDP zu mobilisieren und zu sagen: Jetzt geht doch schon 'mal zum türkischen Konsulat, um euer Wahlrecht zu beantragen und euch registrieren zu lassen. Das hat schon so im Dezember/Januar angefangen.

SB: In der Veranstaltung eben wurde schon angesprochen, daß die Verfassung in der Türkei noch aus der Zeit der Diktatur stammt. Können Sie einmal erläutern, an welchen Punkten sich das festmachen läßt und was das genau bedeutet?

CÖ: Ja, da gibt es zum Beispiel die Straftat "Beleidigung des Türkentums". Das ist etwas, was für mich einfach nie zeitgemäß war, aber auch für die Leute in der Türkei, die den Putsch verursacht haben, heute nicht zeitgemäß ist. Dann ist es aber auch so, daß zum Beispiel kaum Frauenrechte existieren, das ist für mich in dieser Verfassung sozusagen ein Querschnittsthema. Es ist nicht zu erkennen, wo da Frauen berücksichtigt werden, das gibt es einfach gar nicht. Das Problem mit dieser Verfassung besteht ja auch darin, daß sich gerade an Praxisbeispielen zeigt, wie sich das alles auswirkt. Ich habe ja vorhin schon erwähnt, daß Frauen, die vergewaltigt wurden, zu Tätern gemacht werden und die Täter zu Opfern. Die werden freigesprochen, aber die Frauen sind ihr Leben lang stigmatisiert. Das sind so konkrete Beispiele.

Dann ist es zum Beispiel auch noch so, daß die in der Türkei lebenden Minderheiten in dieser Verfassung gar nicht berücksichtigt werden. In der Verfassung gibt es nur Türken! Alle Menschen, die in der Türkei leben, sind Türken, und nur Türken haben Rechte und sind privilegiert. Die anderen gibt es gar nicht, sie existieren einfach nicht. Wenn wir uns heute das Bild der Türkei anschauen und die Verfassung dazu, dann kann man deutlich sehen, daß aufgrund der vielen Kriege auch eine große Menge Flüchtlinge in die Türkei gekommen sind, viele Deutsche sind auch eingewandert. Doch sie alle werden von der Verfassung gar nicht mitberücksichtigt.

SB: Die HDP hat sich, wie wir gehört haben, im Unterschied zur BDP [5] nicht als explizit kurdische Partei konstituiert. Könnte es bei den im Juni bevorstehenden Parlamentswahlen ein Problem damit geben, weil eher traditionell eingestellte Kurden und Kurdinnen damit vielleicht ein bißchen Schwierigkeiten haben?

CÖ: Klar. Im kurdischen Teil der Türkei gibt es die DBP. Die macht schwerpunktmäßig noch eher diese traditionelle kurdische Politik überall dort, wo überwiegend auch Kurdinnen und Kurden leben. Aber das System ist ja eigentlich das gleiche; was man sich wünscht, ist eine Demokratisierung. Also, langfristig könnte man die demokratische Autonomie so ein bißchen vergleichen mit dem Modell Schottland/Großbritannien, aber doch eher basisdemokratisch, also von unten nach oben. Das soll für die gesamte Türkei ein Beispiel sein und ein Schritt zu einer konkreten Demokratisierung. Natürlich kann es dabei Konflikte und Probleme geben, wie es sie in jeder linken Bewegung gibt, die aus vielen verschiedenen Gruppen besteht. Konkret könnte man das vielleicht so beschreiben: Am Anfang, als gesagt wurde, wir möchten eine Partei für die gesamte Türkei und für ganz Kurdistan werden, gab es natürlich auch Stimmen, die gefragt haben: Okay, heißt das denn nun, daß vielleicht die Lösung der kurdischen Frage nicht mehr im Mittelpunkt steht?

Aber bei meinen letzten Besuchen im Grenzgebiet zu Kobanê habe ich gesehen, daß sich das total gelegt hat. Da habe ich so etwas nicht mehr mitbekommen. Die Menschen haben gesagt: Das ist unsere gemeinsame Sache, wir wollen das gemeinsam anpacken. Und das macht den Kurdinnen und Kurden auch total viel Mut, daß nicht-kurdische, politische Menschen, von denen sie es nie erwartet hätten, auf einmal sagen: Wir möchten unsere gemeinsame Sache voranbringen. Ich kann mir vorstellen, daß es innerhalb dieser Strukturen natürlich von vielen Seiten auch Vorbehalte gibt. Das ist ja ein langer Prozeß, der in der Vergangenheit vielleicht dazu geführt hat, daß man jahrelang politisch nicht in Kontakt gekommen ist. Aber vielleicht ist die HDP jetzt auch ein Projekt, durch das Menschen die Möglichkeit haben, diese Vorurteile abzubauen. Ich denke, das wird sich in den nächsten Jahren total legen.

SB: Vor wenigen Tagen gab es hier in Hamburg einen Kongreß zum Thema kurdischer Aufbruch. [6] Ist das Modell "Demokratischer Konföderalismus" auch für die in Hamburg lebende kurdische Community relevant und wie macht sich das im Alltag bemerkbar?

CÖ: Klar, auf jeden Fall. Zum einen ist ganz wichtig, daß wir nicht klassische Vereine, sondern Rätesysteme haben. Wir haben auch den Frauenrat bewußt danach aufgebaut, weil wir gesagt haben: In einem Rat vereinen sich verschiedene Interessen, die auf sehr unterschiedliche Weise eingebracht werden, was wir dann aber ganz stark berücksichtigen müssen. Das bedeutet, daß auch Menschen von außen die Möglichkeit haben, sich da einzubringen. Es gibt auch den Kurdischen Volksrat in Hamburg. Das ist ein Projekt, das vor Jahren begonnen wurde und gut läuft. Die Menschen unserer Community haben sich schon daran gewöhnt und können da auch etwas mit anfangen.


C. Özdemir während des Interviews - Foto: © 2015 by Schattenblick

In der kurdischen Community in Hamburg haben wir ganz bewußt Rätesysteme aufgebaut
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Ist das eine Art Interessenvertretung der hier lebenden Kurdinnen und Kurden? Und wie stark ist der Bezug sozusagen zur Heimat?

CÖ: Es gibt einen sehr starken Bezug vor allem bei der ersten und zweiten Generation. Das sind die, die immer gesagt haben, daß sie zurückkehren werden, aber es im Endeffekt nie getan haben. Aber natürlich gibt es diesen Bezug jetzt auch bei der dritten und vierten Generation. Viele von ihnen haben seit Kobanê [7] noch einmal so eine Suche nach der eigenen Identität angefangen und die dann aber auch auf jeden Fall wieder gefunden. Das bedeutet, sich an verschiedenen Orten der Welt zuhause zu fühlen und zu sagen: Okay, ich bin Hamburger, aber ich bin auch jemand, der aus Batman kommt, auch dort fühle ich mich zuhause.

Das ist für viele jetzt ein Begriff geworden, seit Kobanê - wie ich finde - noch sehr viel stärker als zuvor. Kobanê ist auch wieder so ein Wendepunkt in der Geschichte der kurdischen Migrantinnen und Migranten geworden und wird es auch weiterhin sein. Viele können sich damit gut identifizieren. Aber ich möchte auch noch etwas sagen zum Beispiel zu dem Angriff des IS auf die Kurdinnen und Kurden hier in Hamburg am Steindamm [8], der ja klar gezeigt hat, daß man das gar nicht voneinander trennen kann. Wir haben sozusagen unsere Geschichte und unsere Kultur mit hierhergebracht und damit auch die Konflikte, die deshalb auch ein Teil von Hamburg und von Deutschland geworden sind.

SB: In diesem Zusammenhang würde ich gern auf den Begriff "Nation" zu sprechen kommen, der im Grunde sehr unpräzise ist. Man spricht von "den Kurden und Kurdinnen", so als ob innerhalb der kurdischen Community alle Menschen ein und dieselbe Überzeugung hätten. Schon seit langem gibt es den Vorwurf von linken Gruppen an kurdische Organisationen, sie würden die nationale Frage überbetonen und die Klassenfrage hinten anstellen. Sind solche Diskussionen heute noch ein Thema?

CÖ: Na klar. Schon allein deshalb, weil die Generation, die diese Debatte stark geführt hat, heute noch da ist und mitmischt. Natürlich setzen wir uns damit auseinander. Es wird ja nicht gesagt: Wir sprechen nicht mehr über die Klassen und ignorieren sie jetzt. Natürlich wird diese Frage in den Diskussionen berücksichtigt. Aber wenn man sich die jetzt in Kurdistan und auch in der Türkei lebende Generation anschaut, die ja mittlerweile zum Teil eine sehr akademische und politische geworden ist, dann kann man deutlich sehen, daß es ihr einfach nicht mehr ausreicht, nur über Klassen oder nur über das Thema Nation zu sprechen. Sie sprechen darüber, wie wir Wege schaffen können, um die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken. Das ist eher im Moment der Diskurs, auf den der Fokus gelegt wird. Und gerade jetzt, wo verschiedene Gruppen innerhalb der HDP organisiert sind, unter anderem natürlich auch türkische linke Gruppen, kommt man um solche Debatten gar nicht herum. Natürlich werden sie geführt, denn sie sind ein Teil der Geschichte, auch ein Teil der deutschen Linken.

SB: Die Wahlkampfkampagne der HDP ist in Hamburg ja offensichtlich sehr stark. Wie ist das in anderen Bundesländern, gibt es auch in anderen Städten solche Initiativen wie hier?

CÖ: In vielen Bundesländern wurden ganz verschiedene Initiativen gegründet. Die HDP versucht sie zu stärken, indem sie ihre Vertreterinnen und Vertreter in diese Bundesländer und Städte schickt, damit sie dort auf Veranstaltungen Reden halten und mitmobilisieren. Wenn eine Vertreterin oder ein Vertreter der HDP dabei ist und innerhalb von ein paar Stunden 3000 Leute erreicht werden, kann man sehen, wie stark die Mobilisierung sein kann. In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder auch Thüringen läuft das, soweit ich weiß, ziemlich gut, da haben sich auch solche Strukturen gebildet. Aber was in Hamburg immer etwas ganz Besonderes ist, das ist einfach, daß man hier eine Basis aus verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen hat, die immer zueinander finden, ohne daß man große Anstrengungen unternehmen müßte. Das ist der große Vorteil hier in Hamburg.

SB: Im kurdisch-türkischen Konflikt spielt offenbar auch die NATO-Mitgliedschaft der Türkei eine große Rolle und selbstverständlich auch die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Wie groß ist Ihrer Einschätzung nach der Einfluß sozusagen dritter Parteien auf die Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung?

CÖ: Der ist natürlich sehr stark. Man hat bei der ganzen Kobanê-Geschichte deutlich sehen können, was passieren und welche für Konsequenzen es haben kann, wenn westliche Staaten wie die USA nicht so agieren, wie die Türkei es sich wünschen würde. In den letzten Jahrzehnten wie auch jetzt ganz aktuell hat man deutlich sehen können, daß die NATO-Staaten hier ein ziemlich irres Spiel treiben. Zum einen werden mit Katar, der Türkei und Saudi-Arabien hegemoniale Kräfte militärisch gestärkt, zum anderen werden durch die Unterstützung der YPG in Kobanê emanzipatorische Kräfte, ich sag' mal, scheinbar gestärkt, damit sie den gemeinsamen Feind bekämpfen.

Aber auch wenn es darum geht, das PKK-Verbot aufzuheben, kann man wie bei der letzten Debatte im Bundestag, als die Linke den Antrag dazu eingebracht hat, ganz deutlich sehen, daß eigentlich alle Parteien - außer der Linken natürlich und Christian Ströbele, der war eine Ausnahme - mit den gleichen Argumenten wie früher gesagt haben: Die PKK hat vor zwanzig Jahren dies getan und vor dreißig Jahren jenes, sie hat sich ideologisch nicht weiterentwickelt und so weiter. Und obwohl es einen Paradigmenwechsel auch innerhalb der PKK gegeben hat, wollen sie den nicht berücksichtigen und einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß das eine emanzipatorische und progressive Kraft ist - und die einzige im Mittleren Osten, die sich mit Demokratieprozessen auseinandersetzt. Da sieht man eigentlich ganz deutlich, daß bei der NATO der Wille gar nicht vorhanden ist, den sogenannten Friedensprozeß voranzutreiben, der die Kurdinnen und Kurden in eine positive Lage bringen und mit allen Rechten ausstatten würde.

SB: Vielen Dank, Frau Özdemir, für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.die-linke-hamburg.de/presse/detail/artikel/cansu-oezdemir-erklaerung-zur-kampagne-des-verfassungsschutzes-gegen-mich.html

[2] http://www.zeit.de/hamburg/politik-wirtschaft/2015-03/buergerschaft-linke-cansu-oezdemir-hamburg/komplettansicht

[3] http://www.die-linke-hamburg.de/presse/detail/artikel/solidaritaetserklaerung-fuer-cansu-oezdemir.html

[4] Siehe den Bericht über die Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Hamburg-Altona am 12. April 2015 im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/191: Die andere Türkei - das Schlimmste verhindern ... (SB)

[5] HDP ist die Abkürzung für Halklarin Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker). Die HDP ist 2012 aus dem Zusammenschluß der kurdischen BDP (Baris ve Demokrasi Partisi - Partei des Friedens und der Demokratie) sowie kleineren Gruppierungen und Parteien des linken Spektrums entstanden. Die BDP ihrerseits benannte sich im Juli 2014 um in DBP (Demokratik Bölgeler Partisi - Partei der Demokratischen Regionen).

[6] Siehe auch die Berichterstattung im Schattenblick zu dem Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" in Hamburg vom 3. bis 5. April 2015 unter dem kategorischen Titel "Kurdischer Aufbruch" (Berichte und Interviews):
http://schattenblick.com/infopool/politik/ip_politik_report_bericht.shtml
http://schattenblick.com/infopool/politik/ip_politik_report_interview.shtml

[7] Die Stadt Kobanê liegt im gleichnamigen kurdischen Kanton in Rojava, wie die autonomen kurdischen Gebiete im Norden Syriens heißen. Kobanê geriet in die Schlagzeilen auch internationaler Medien durch die heftigen Kämpfe zwischen dem sogenannten Islamischen Staat und kurdischen Volksverteidigungskräften. Ihnen gelang es am 26. Januar 2015, die IS-Kämpfer, die die Stadt 133 Tage lang belagert und zum Teil erobert hatten, zurückzuschlagen.

[8] Am 7. Oktober 2014 war es in Hamburg-St. Georg zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen, wie es in der Presse hieß, Salafisten und Kurden gekommen. Es habe wie im Bürgerkrieg ausgesehen, als junge Männer - etwa je 400 - mit Macheten, Messern und Hämmern aufeinander losgingen, hieß es. Einem Bericht der ZEIT vom 16.10.2014 zufolge sind nach Angaben des Verfassungsschutzes die ersten Provokationen von den Salafisten ausgegangen. Viele Kurden seien extrem verzweifelt gewesen, weil Angehörige in Kobanê durch den IS getötet wurden und niemand etwas dagegen unternahm. Durch Schreckensbilder und Meldungen, zum Teil auch Falschmeldungen in den sozialen Medien seien die Emotionen auf beiden Seiten extrem hochgekocht. Als die Gewalt eskalierte, sei sogar die Hamburger Polizei geschockt gewesen und habe erst durch den Einsatz von Wasserwerfern die Lage unter Kontrolle bringen können. Die Bilanz lautete: 14 Verletzte, davon vier Schwerverletzte, und 22 Festnahmen. Nach Polizeieinschätzung, so die Hamburger Morgenpost, hätte es Tote geben können.
http://www.zeit.de/2014/43/islamismus-salafisten-kurden-hamburg/komplettansicht


Bisherige Beiträge zur Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Hamburg-Altona am 12. April 2015 im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/191: Die andere Türkei - das Schlimmste verhindern ... (SB)
INTERVIEW/252: Die andere Türkei - Wahlproporz und Daueropfer ...    Metin Kaya im Gespräch (SB)

28. April 2015


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