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INTERVIEW/225: Weggenossen unverdrossen - Brasiliens ungezügelte Proteste, Eduardo G. Serra im Gespräch (SB)


Vom sozialen Aufbegehren zur antikapitalistischen Front?

Interview am 29. Juni 2014 auf dem UZ-Pressefest in Dortmund



Wie immer in der Tradition der UZ-Pressefeste stand auch das diesjährige größte Fest der deutschen Linken nicht zuletzt im Zeichen internationaler Solidarität. So waren Repräsentanten von 34 kommunistischen Parteien und Befreiungsbewegungen aus zahlreichen Ländern Europas wie auch anderen Kontinenten vertreten. Im Internationalen Club traf der Schattenblick Eduardo G. Serra, einen Vertreter der Brasilianischen KP (PCB), der in diesem Gespräch Fragen zum Charakter der Protestbewegung gegen die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele, zur Politik der regierenden Arbeiterpartei und zu den Herausforderungen der brasilianischen Linken beantwortete.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Eduardo G. Serra
Foto: © 2014 by Schattenblick


Schattenblick: Die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien gehören zu den Großprojekten, die der frühere Präsident Luiz Inacio Lula da Silva auf den Weg gebracht hat. Lula wurde in Europa sehr geschätzt, weil man in ihm und nicht in Hugo Chavez, den Linken, geschweige denn den Kommunisten die Zukunft Lateinamerikas und mithin das favorisierte Entwicklungsmodell sah. Inzwischen zeichnen sich die gravierenden Folgen seines politischen Kurses jedoch immer deutlicher ab. Was für ein Erbe hat Lula insbesondere mit den genannten Großprojekten hinterlassen?

Eduardo G. Serra: Aus unserer Sicht hat die Regierung Lulas einige grundlegende Entscheidungen getroffen. Sie widersetzte sich dem Internationalen Währungsfonds nicht und führte die neoliberale Politik der Vorgängerregierung fort. Die brasilianische Regierung setzt sich aus mehreren Fraktionen zusammen, darunter auch Vertreter des rechten Sektors. Der Regierung gehören Repräsentanten der Agrarindustrie, Großbanken und anderer einflußreicher Wirtschaftszweige an. Diese Konstellation stellt eine zentrale Achse der Regierungspolitik dar. Die Regierung unter Führung der Arbeiterpartei hat durchaus einige begrüßenswerte Entwicklungen eingeleitet. So hat sie außenpolitisch Hugo Chavez von Beginn an unterstützt, gegen den erbitterten Widerstand der Rechten gute Beziehungen zu Kuba unterhalten und somit auf internationaler Ebene manches in Bewegung gebracht.

Analysieren wir jedoch diesen außenpolitischen Kurs sorgsam, stoßen wir auf einen zugrunde liegenden Zweck in Gestalt der Interessen der brasilianischen Exportwirtschaft. Wo die brasilianische Regierung Venezuela unterstützte, ging es ihr um den Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen wie etwa lukrative Verträge für Baukonzerne. Dasselbe gilt für Kuba, wo gerade die Erkundungsphase für eine große Hafenanlage abgeschlossen wurde. Wir widersprechen daher Lulas Entwurf des brasilianischen Entwicklungsmodells in mehrfacher Hinsicht. Es handelt sich um einen spezifisch neoliberalen Entwurf ohne in sich schlüssige staatliche Planung, der ausschließlich darauf ausgerichtet ist, ausländische Investoren anzulocken und die Interessen des einheimischen Kapitals zu bedienen.

Was nun die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele betrifft, so handelt es sich um Projekte führender Sektoren der brasilianischen Wirtschaft. Für die Stadien und anderen Baumaßnahmen wurden enorme Summen aufgewendet, wobei es zu einem Skandal kam, als publik wurde, daß die gezahlten Beträge doppelt so hoch wie die tatsächlichen Kosten waren. Auch für die Olympiade gilt, daß sämtliche dafür in Angriff genommenen Projekte auf die Profite der daran beteiligten Unternehmen und nicht etwa auf eine bessere Infrastruktur oder erträglichere soziale Verhältnisse, die der Bevölkerung zugute kämen, abgestellt sind.

Dies hatte zur Folge, daß bereits im vergangenen Jahr zahllose Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Fußballweltmeisterschaft zu demonstrieren. Wir sind nicht gegen den Fußball an sich, wohl aber gegen das Geschäftsmodell, nach dem dieses sportliche Großereignis konzipiert und umgesetzt wird. "FIFA go home!" wurde zur meistgehörten Parole, weil es sich dabei um einen Akteur der Privatwirtschaft handelt, der seine eigenen Profite und die anderer beteiligter Unternehmen sichert. Unter den Besuchern der Sportstätten sieht man fast ausschließlich weiße Gesichter, obgleich Brasilien mitnichten ein Land der Weißen ist, sondern die vielfältigsten Farbgebungen aufweist. Ärmere und zumeist dunkelhäutige Teile der Bevölkerung können es sich überhaupt nicht leisten, die teuren Fußballstadien zu besuchen, und selbst die Mittelklasse ist angesichts der hohen Eintrittspreise mehrheitlich ausgeschlossen. Es handelt sich um ein Sportereignis für Reiche.

SB: Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft ging man repressiv gegen die ansässige Bevölkerung vor: Es wurden Menschen vertrieben, ganze Stadtteile gesäubert, polizeiliche Kordons um die Stadien gelegt. Könnte man soweit gehen, von einer Art Polizeistaat zu sprechen, den die regierende Arbeiterpartei zur Durchsetzung ihrer Großprojekte in Stellung bringt?

ES: Im Zuge dieser repressiven Maßnahmen kam es zu Vertreibungen, um Platz für neue Straßen zu schaffen und das Umfeld der Stadien zu sichern, wie auch zahlreichen Polizeieinsätzen gegen die Protestbewegung. Wo immer sich die Menschen dagegen wehrten, wurden sie brutal unterdrückt. Die Strategie des Staatsapparats sah insbesondere vor, Polizeieinheiten direkt in den betreffenden Armenvierteln zu stationieren, wofür offiziell der Kampf gegen den Drogenhandel als Begründung herhalten mußte. In Wirklichkeit ging es jedoch darum, die arme Bevölkerung mit einem repressiven Regime unter Kontrolle zu halten. Diese Vorgehensweise nahm im Umfeld der Stadien für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele ihren Anfang, da man diese Großereignisse ungehindert und störungsfrei abwickeln wollte. Wir lehnen den Drogenhandel und die Übernahme ganzer Stadtviertel durch kriminelle Banden natürlich ab, zumal mancherorts in Brasilien eine regelrechte Parallelgesellschaft unter dem Zwang solcher Banden existiert. Die Politik, arme Leute mit Repression zu überziehen, um sie unter Kontrolle zu halten und das Umfeld der Sportstätten zu säubern, lehnen wir jedoch gleichermaßen entschieden ab.

SB: Berichten zufolge haben in einigen Fällen in den Armenvierteln postierte Polizeieinheiten das Geschäft der vertriebenen Drogenhändler selbst übernommen, so daß zumindest Teile der Sicherheitskräfte nicht einmal im Sinne des offiziell vertretenen Vorwands ihren Zweck erfüllen.

ES: In Brasilien existiert das Modell einer Militärpolizei, das wir grundsätzlich ablehnen. Die Polizei darf niemals mit dem Militär verbunden sein, sondern muß von der Zivilgesellschaft kontrolliert werden. Neben der Militärpolizei und zivilen Polizeikräften kommen auch Spezialeinheiten zum Einsatz, die für bestimmte Zwecke wie etwa die Bekämpfung des Drogenhandels gebildet worden sind. Wir halten es für unabdingbar, die Militärpolizei vollständig abzuschaffen und die zivile Polizei unter die Kontrolle der Arbeiterschaft und der Menschen in den Vierteln zu stellen. Diese Forderungen finden wachsende Unterstützung und haben sich inzwischen recht weit verbreitet, so daß sich inzwischen sogar Teile des Regierungslagers veranlaßt sehen, einige Maßnahmen in dieser Richtung zu unterstützen und einzuleiten.

Außerdem treten wir für die Bildung von Strukturen direkter Volksdemokratie ein - nicht für Sowjets, wohl aber die Ausübung direkter Demokratie. Unter dem starken Druck der Protestbewegung hat sich die Regierung ansatzweise in dieser Richtung bewegt.

SB: In deutschen Medien wurde zumeist berichtet, daß der Protest gegen die Fußballweltmeisterschaft vor allem von der unzufriedenen Mittelschicht getragen werde. Trifft diese Einschätzung zu oder blendet sie wesentliche Teile der Bewegung aus?

ES: Diese Einschätzung trifft teilweise zu, da die Unzufriedenheit in der brasilianischen Mittelschicht beträchtlich zugenommen hat. Viele Leute haben Kredite aufgenommen, um sich beispielsweise ein Auto zu kaufen, und können diese Gelder nicht mehr zurückzahlen. Das Sozialsystem weist gravierende Unzulänglichkeiten auf, die Schulen und das Transportwesen in den großen Städten sind in einem miserablen Zustand. Die Unzufriedenheit beschränkt sich jedoch keineswegs auf die Mittelklasse, zumal die armen Bevölkerungsteile mit repressiven Mitteln eingeschränkt und kontrolliert werden. Die Polizei geht nicht nur gegen die Protestbewegung, sondern auch gegen die Armenviertel repressiv vor, als stünden alle dort lebenden Menschen unter dem Generalverdacht, Kriminelle zu sein. Daher schlossen sich auch viele arme Leute der Protestbewegung an, die sehr breit ist und sogar traditionell miteinander verfeindete Gruppen einschließt. Das Spektrum reichte von Parteien der organisierten Linken über eine Mittelklasse ohne insgesamt klare politische Ziele wie auch arme Bevölkerungsteile bis hin zu Parteien der Rechten. Sogar faschistische Gruppierungen gingen gegen die Regierung auf die Straße und dann auch auf uns los.

Der Klassenkampf hat sich verschärft, und wir stehen vor dem Problem, daß die Arbeiterpartei die notwendigen Veränderungen nicht herbeiführt und damit das Ansehen der Linken schwächt, die viele Menschen immer noch mit ihr assoziieren. Die Parteien und Organisationen der Linken müssen immer wieder erklären und klarstellen, daß sie nicht mit der Arbeiterpartei in einen Topf geworfen werden dürfen.

SB: Breite Bewegungen sozialen Protests wie jene in Brasilien führen viele Menschen und Organisationen unterschiedlicher Ausrichtung auf der Straße zusammen. Früher oder später stellt sich jedoch die Frage, welche Richtung diese politische Kampagne einschlagen soll, um eine gewisse Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit zu entwickeln. Wie ist es in dieser Hinsicht um den Zusammenhalt der Protestbewegung bestellt?

ES: Das ist ein Problem, mit dem wir uns seit geraumer Zeit auseinandersetzen. Bislang sind viele Menschen auf die Straße gegangen, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, doch wissen sie nicht so recht, was getan und verändert werden soll. Inzwischen wächst das Bewußtsein, welche Ziele verfolgt werden sollten. Die zahlreichen kleinen Gruppen und Organisationen, aus denen sich die Bewegung zusammensetzt, versuchen nun, sich enger zusammenzuschließen und eine gemeinsame Stoßkraft zu entwickeln. Aus unserer Sicht ist es von grundsätzlicher Bedeutung, eine klare Zielvorgabe zu erarbeiten, was genau man auf welche Weise an den sozialen Verhältnissen und Arbeitsbedingungen verändern will, um der vorherrschenden neoliberalen Doktrin etwas entgegenzusetzen. Wir machen auf diesem Weg Fortschritte, da die Demonstrationen zunehmend besser organisiert sind und unter Führung der Linken eine gemeinsame Front herausbilden. Allerdings gibt es natürlich noch sehr viel zu tun.

Im nächsten Jahr finden in Brasilien Präsidentschaftswahlen statt, bei denen aus unserer Sicht drei Kandidaten der Rechten ins Rennen gehen: Die derzeitige Präsidentin, da sie eine konservative Koalition unter Einschluß der Rechten anführt, ein Bewerber aus dem rechten oppositionellen Lager und ein dritter Kandidat aus den Reihen der Sozialistischen Partei, der noch vor sechs Monaten selbst der Regierung angehört hat. Er stellt sich zwar als junger Unternehmer dar, der für frischen Wind sorgen will, entstammt jedoch dem rechten politischen Establishment. Deshalb haben wir beschlossen, zusammen mit anderen linken Parteien einen eigenen Kandidaten aufzustellen, so daß wir einander nicht bekämpfen, sondern eine Allianz bilden. Wir halten den Zeitpunkt für gekommen, klar Position zu beziehen und die Wahlen zu nutzen, um für radikale Veränderungen des Gesellschaftsmodells einzutreten. Wir fordern eine unmittelbare demokratische Partizipation der Bevölkerung, Veränderungen der Ökonomie, einen direkten Zugang zu Lebensmitteln und anderen essentiellen Gütern unter Ausschluß des Marktes und eine Politik, die die sozialen Rechte verbessert und sichert. Auf Grundlage dieses Programms präsentieren wir uns als eine antikapitalistische Lösung.

SB: Aus deutscher und europäischer Perspektive wurde Lula und der Arbeiterpartei insbesondere zugute gehalten, ein erfolgreiches Modell zur Hebung des Lebensstandards der ärmsten Bevölkerungsteile auf den Weg gebracht zu haben, das nicht in Widerspruch zu maßgeblichen Wirtschaftsinteressen stehe. Auch Teile der Linken attestierten Lula, er habe mit seinem Ansatz spürbare Verbesserungen herbeigeführt, die beispielhaft für andere Länder Lateinamerikas sein könnten. Trifft diese Einschätzung aus deiner Sicht zu?

ES: Die Regierung unter Führung der Arbeiterpartei hat tatsächlich einige Verbesserungen herbeigeführt. So waren die an den Schulbesuch der Kinder gekoppelten Lebensmittelhilfen für arme Familien durchaus erfolgreich. Gleiches gilt für die Anhebung des Mindestlohns über die Inflationsrate. In Verbindung mit gewissen finanziellen Hilfen für die Mittelklasse, die deren Konsummöglichkeiten erweiterten, führte dies zu stabilen Wachstumsraten von durchschnittlich 3,2 Prozent in den letzten zwölf Jahren. Wir erkennen diese Erfolge an, weisen aber zugleich auf die engen Grenzen dieses Modells hin. Eine starke Opposition von rechts lehnt selbst diese begrenzten Hilfen für die armen Bevölkerungsteile entschieden ab. Inzwischen haben die fehlenden Gelder zur weiteren Unterstützung der Mittelschicht und um so mehr der armen Leute dazu geführt, daß die Popularität der Arbeiterpartei schwindet. Hinzu kommen zahlreiche Korruptionsskandale wie jene bei der Fußballweltmeisterschaft und der Vorbereitung der Olympischen Spiele.

Anfangs hatten wir große Probleme, Menschen im Ausland klarzumachen, daß Lula kein Linker ist. Alle nannten ihn einen Arbeiterführer und glaubten, daß mit der Arbeiterpartei die Arbeiterklasse halbwegs an die Macht gekommen sei. Auch wir haben Lula bei den Wahlen 2002 unterstützt und gehörten zwei Jahre lang seiner Regierungskoalition an. Als die Regierungsmehrheit dann aber die Sozialleistungen abbaute, die Renten kürzte, die Privatisierung nicht im mindestens bremste wie auch die Zusammenarbeit mit der Weltbank und dem IWF uneingeschränkt fortsetzte, wollten wir uns daran nicht länger beteiligen und verließen die Koalition. Wir sind seither in der Opposition und unterstützen natürlich einzelne Maßnahmen, sofern wir sie für richtig halten, da wir keine radikalen Sektierer sind. Inzwischen wird aber immer mehr Menschen klar, daß die Regierung der Arbeiterpartei keine linke, sondern vielmehr eine neoliberale ist.

SB: Die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff hat in vielen Fällen Großprojekte wie jene im Amazonasgebiet vorangetrieben, unter denen insbesondere die indigenen Völker gravierend zu leiden haben. Ist das ein weiteres Gesicht der Arbeiterpartei, die Interessen bestimmter Sektoren der Großindustrie gegen alle Widerstände durchzusetzen?

ES: Der ungehinderten Ausweitung des Agrarsektors wird uneingeschränkter Vorrang eingeräumt, und die indigenen Völker stehen diesem Vordringen in den Regenwald im Wege. Sie werden mit repressivsten Mitteln bis hin zur physischen Vernichtung unterdrückt. Das Modell raschen Wachstums, das Lula und die Arbeiterpartei dem Land verordnet haben, gestattet unter anderem die Abholzung des Waldes und die Ausweitung der Rinderhaltung im Amazonasgebiet. Die dortigen Böden sind jedoch nährstoffarm, mit Ausnahme der Flußufer und einiger weiterer begrenzter Regionen im Dschungel. Die Regierung erlaubte es selbst ausländischen Firmen beispielsweise aus Malaysia, im Regenwald Holz zu schlagen. Zudem unterstützte sie die Ausweitung der Viehzucht in dieser Region, was zu einer großflächigen Zerstörung des Regenwaldes führt. Nach offizieller Lesart der Regierung werden Maßnahmen zum Schutz der indigenen Völker ergriffen, doch die Realität sieht ganz anders aus.

Im vergangenen Jahr passierte ein Gesetz zum Umgang mit dem Regenwald den Kongreß, das eindeutig die Interessen der einflußreichen Agrarindustrie widerspiegelt. Es erlaubt, bis nahe an die Flüsse heranzurücken, deren Schutzzonen damit dezimiert werden, gestattet den Anbau an Abhängen, was den Umweltschutz schwerwiegend beeinträchtigt, und etliches mehr, das der fortschreitenden Vernichtung des tropischen Regenwaldes und der Vertreibung und Vernichtung der indigenen Völker Vorschub leistet. Das ist die traurige Realität.

SB: Ist das nicht ein Entwicklungsmodell, das sich an den westlichen Industriestaaten und deren Zerstörungsgewalt orientiert?

ES: Angesichts der neoliberal ausgerichteten Politik der brasilianischen Regierung ist die industrielle Entwicklung in großen Teilen von ausländischen Unternehmen durchsetzt und geprägt. Da keine konsistente Planung existiert, wird schlichtweg die Arbeiterschaft ausgebeutet und die einheimische Industrie nicht entwickelt. Beispielsweise findet man in der Automobilproduktion Marken wie Volkswagen, Fiat oder andere ausländische Hersteller, jedoch keinen Übertrag zur Förderung einer eigenständigen brasilianischen Produktion.

Ansätze einer staatlichen Planung gab es nur in zwei Phasen der jüngeren Geschichte Brasiliens, nämlich in den 1950er Jahren und später unter der Militärdiktatur, als ein eher strukturiertes Modell der Entwicklung mit gewissen nationalistischen Elementen propagiert wurde. Doch das ist längst Vergangenheit, denn heute räumt man dem freien Zugang ausländischen Kapitals absoluten Vorrang ein, da man sich davon rasches und kontinuierliches Wirtschaftswachstum erhofft. Wir halten dem entgehen, daß die Abhängigkeit von ausländischem Kapital beendet werden sollte, und befürworten in dieser Hinsicht eine radikale Veränderung.

SB: Kann es überhaupt ein tragfähiges Entwicklungsmodell für Brasilien sein, in großem Stil Agrarerzeugnisse zu produzieren und zu exportieren?

ES: Dieses exportorientierte Modell stützt sich auf folgende sechs Sektoren der Bereitstellung von Rohstoffen: Kaffee, Zuckerrohr, Sojabohnen, Hölzer zur Papierherstellung, Mais und Viehzucht. Hingegen importiert Brasilien schwarze Bohnen aus China, obgleich diese ein Grundnahrungsmittel sind. Die Agrarindustrie hat derart expandiert, daß die Produktion einheimischer Nahrungsmittel wie Bohnen, Reis und Gemüse regelrecht verdrängt und vernichtet worden ist. Dieser Ausweitung des Exports von Agrarprodukten steht eine durchaus große, aber rückläufige Industrie gegenüber. Wir exportieren auch Stahl und inzwischen sogar Erdöl - und das ist das Modell, sich als ein Global Player in die Weltwirtschaft zu integrieren. Es ist ein schreckliches Modell, die Entwicklung auf den Export von Rohstoffen gründen zu wollen. Die Vorstellung, daß auf diese Weise Gelder ins Land fließen, mit denen sich soziale Entwicklung finanzieren ließe, stößt schon jetzt an ihre Grenzen. Wir fallen in eine ferne Vergangenheit zurück, wenn wir uns als Lieferant von Rohstoffen definieren.

SB: Welche Konsequenzen hat das für die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und den Abstand zwischen Arm und Reich in Brasilien?

ES: Brasilien weist eine der weltweit extremsten Ausprägungen von Reichtum in den Händen weniger auf. Etwa ein Prozent der Bevölkerung verfügt über mehr als 50 Prozent aller Einkünfte, und diese Konzentration nimmt immer weiter zu. Ungefähr die Hälfte aller brasilianischen Haushalte hat weder einen Wasseranschluß noch sanitäre Einrichtungen. Zwar ist die Beschäftigungslage der armen Bevölkerungsteile etwas besser geworden, doch handelt es sich zumeist um prekäre Arbeitsverhältnisse ohne Sozialleistungen und Bestandsschutz. Gemessen an unseren Bodenschätzen und Agrarflächen sind wir ein reiches Land, doch das Entwicklungsmodell führt dazu, daß sich der Reichtum auf eine kleine Elite konzentriert.

SB: Welches wären unter diesen Voraussetzungen die wichtigsten Aufgaben der Linken?

ES: Die wichtigste Aufgabe der Linken sehe ich darin, die Fähigkeit zur Herbeiführung grundlegender Veränderungen wiederzuerlangen. Die weitverbreitete Hoffnung auch in Kreisen der Arbeiterschaft, der Mittelschicht und im progressiven Flügel der Kirchen, Lula werde diese Veränderung einleiten, hat sich nicht erfüllt. Daher ist die Linke gefordert, ein antikapitalistisches Entwicklungsmodell vorzulegen und zu vertreten. Wir propagieren keine Wiederauferstehung, die schon morgen früh stattfindet, wohl aber einen sozialistischen Weg, der von antikapitalistischen Bewegungen getragen und ebensolchen Maßnahmen befördert wird. Diese Front einer Volksbewegung mit einer klar antikapitalistischen Ausrichtung versuchen wir herbeizuführen.

SB: Ich würde dich gern abschließend fragen, wie dir das UZ-Pressefest bislang gefallen hat. Bist du aus diesem Anlaß zum ersten Mal nach Deutschland gekommen?

ES: In Deutschland bin ich schon mehrfach gewesen, aber das UZ-Pressefest besuche ich zum ersten Mal. Mir gefällt es sehr gut, da die Atmosphäre äußerst anregend ist, viele Gespräche geführt werden und ich das Gefühl habe, hier in einer kommunistischen Gesellschaft zu sein.

SB: Eduardo, herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

Transparent 'UZ-Pressefest Volksfest der DKP' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Erster Bericht zum 18. UZ-Pressefest in Dortmund im Schattenblick unter
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BERICHT/181: Weggenossen unverdrossen - Abbruch, Umbruch, Aufbruch ... (SB)

3. Juli 2014