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INTERVIEW/195: Obamas Amerika - Linke Horizonte, Margaret Kimberley im Gespräch (SB)


Interview mit Margaret Kimberley am 15. August 2013 in New York



Die Redakteurin Margaret Kimberley arbeitet für den Black Agenda Report, die führende linke Zeitschrift der Schwarzen in den USA, seit seiner Gründung 2006. Sie führte dort zunächst eine wöchentliche Kolumne und betreibt seit 2010 den Blog "Freedom Rider", dessen Titel gezielt an die mutigen Bürgerrechtsaktivisten erinnert, die in den sechziger Jahren mit Überlandbussen in die Südstaaten fuhren, um dort das 1960 vom Obersten Gerichtshof verhängte Verbot der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln, Gaststätten und Wartesälen durchzusetzen und dabei häufig mit der Gewalt weißer Rassisten konfrontiert wurden. Die aufschlußreichen und nicht selten bitterbösen Kommentare der erklärten Kriegsgegnerin sind unter anderem bei der Dallas Morning News, dem Chicago Defender sowie bei den Onlineportalen Alternet, Bushflash, Counterpunch und Tom Paine erschienen. Am 15. August sprach der Schattenblick in New York mit Margaret Kimberley über Obamas Amerika aus schwarzer Perspektive.

Porträtfoto von Margaret Kimberley - Foto: © 2013 by Schattenblick

Margaret Kimberley
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Kimberley, könnten Sie uns etwas über Ihre persönliche Geschichte und Ihren politischen Werdegang erzählen?

Margaret Kimberley: Ich bin geborene New Yorkerin und hier auch aufgewachsen. Meine Eltern waren politisch interessierte Menschen und haben mich und meine Geschwister schon mit jungen Jahren dazu aufgefordert, uns über das, was in den USA und der Welt passiert, zu informieren. Insbesondere meine Mutter hat mich vieles über Geschichte gelehrt, auch von Personen und Geschehnissen erzählt, die im Schulunterricht keine Erwähnung fanden. Nach der Schule habe ich Geschichtswissenschaft am Williams College in Massachusetts studiert. Hinsichtlich meiner politischen Erweckung hatten der Ausgang der Wahl und der Diebstahl der Präsidentschaft 2000 eine einschneidende Wirkung auf mich. George W. Bush hat damals weder nach Wählerstimmen noch nach der Anzahl der Wahlmänner der einzelnen Bundesstaaten gewonnen, sondern Al Gore. Statt dessen hat sich Bush jun. mit Hilfe von republikanischen Schlägertrupps in Florida und konservativen Richtern am Obersten Gerichtshof in Washington den Weg ins Weiße Haus erschwindelt. Mitansehen zu müssen, wie korrupt das politische System in unserem Land geworden war, war für mich damals ein ziemlicher Schock.

Bis dahin war ich eine brave Wählerin der demokratischen Partei gewesen. Als ich jedoch erlebte, wie die führenden Demokraten einknickten und den Betrug der Republikaner am Wahlvolk einfach durchgehen ließen, ohne wirklich etwas dagegen zu tun, war es für mich mit dem Zwei-Parteien-System vorbei. Zu diesem Zeitpunkt erkannte ich, daß die Führung der demokratischen Partei mit den Republikanern unter einer Decke steckte und mit ihnen lieber irgendwelche Hinterzimmerdeals ausheckte, als den Willen und das Votum der eigenen Wähler zu respektieren, geschweige denn ihnen Geltung zu verschaffen. Es schien ihnen nichts auszumachen, die eigenen Aktivisten, die seit Jahren die ganze Basisarbeit betrieben, Spenden einsammelten und auch selbst Geld gaben, zu betrügen. Damals begriff ich, daß die Art, wie ich bis dahin Politik verstanden hatte, unzureichend war. Wie der Zufall es wollte, deckte sich meine politische Radikalisierung zeitlich mit dem Aufkommen des Internets. Ich konnte plötzlich allen möglichen, mir bis dahin unbekannten Informationsquellen nachgehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt ich mich für eine politisch gut informierte Person. Als ich feststellte, daß das so nicht stimmte, besann ich mich darauf, das Versäumte nachzuholen, und es gab viele Wissenslücken zu schließen.

Früher las ich regelmäßig die New York Times und dachte nach der täglichen Lektüre zu wissen, was in der Welt geschieht. Das war ein Trugschluß. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wer heute die NY-Times liest, weiß nichts davon, daß jeden Tag am havarierten Kernkraftwerk Fukushima in Japan 300 Tonnen radioaktiv verseuchten Grundwassers in den Pazifik einsickern. Er weiß auch nichts davon, daß Präsident Obama und Justizminister Eric Holder nicht wirklich vorhaben, den überproportional hohen Anteil junger schwarzer Männer hinter Gittern in diesem Land entscheidend zu verringern. Das haben beide öffentlich zugegeben; nur liest man davon nichts in der NY-Times.

SB: Vor einigen Jahren haben Sie und Glen Ford den Black Commentator verlassen, um den Black Agenda Report zu gründen. Was war das Motiv für die Trennung?

MK: Es gab redaktionelle Meinungsverschiedenheiten zwischen Glen Ford und Peter Gamble, die zusammen 2002 den Black Commentator gegründet hatten. Manchmal können unterschiedliche Positionen nicht in Einklang gebracht werden, und dann ist eine Trennung für beide Seiten das Beste. Nichtsdestotrotz bin ich dankbar dafür, daß es den Black Commentator gab und ich eine Zeitlang Artikel für ihn schreiben konnte.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Margaret Kimberley lächelt - Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Als Außenseiter hat man den Eindruck, der gemäßigte Black Commentator vertritt die Linie der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), der wichtigsten politischen Organisation farbiger Menschen in den USA, die traditionell den Demokraten nahesteht, und stellt sich damit hinter die Obama-Regierung, während sich der eher linke Black Agenda Report in seiner Kritik am ersten schwarzen Präsidenten Amerikas nicht zurückhält. Könnte an dieser stark vereinfachten Beschreibung des Unterschieds zwischen beiden Publikationen vielleicht etwas dran sein?

MK: Auf jedem Fall. Glen Ford und Bruce Dickson haben sich recht früh beim Black Commentator kritisch mit der Karriere des aufstrebenden Jungsenators aus Illinois auseinandergesetzt. Und auch nachdem es Obama 2008 gelungen war, die Präsidentenwahl zu gewinnen, hat sich der Black Agenda Report eine kritische Distanz zu ihm bewahrt. Dagegen lassen viele Linksliberale in den USA, vornehmlich schwarze, bei Obama Sachen durchgehen, gegen die sie heftig protestieren würden, wäre der Präsident ein Weißer. Sie halten es für wichtiger, einem schwarzen Präsidenten den Rücken zu stärken, als ihren bisherigen politischen Standpunkt beizubehalten. Wir beim Black Agenda Report bleiben unserer linken Position treu. Wir sehen nicht ein, daß man falsche politische Entscheidungen des Präsidenten verteidigen soll, nur weil dieser aus der schwarzen Minderheit kommt. Ich kann Solidarität unter Menschen einer lange unterdrückten Minderheit verstehen, aber nicht Solidarität mit dem Präsidenten.

Um Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, muß man sich mit denjenigen kapitalistischen Kräften arrangieren, die seit jeher die Feinde der einfachen Menschen waren, es heute noch sind und es immer sein werden. Um das Weiße Haus zu erobern, muß man um die Schwerreichen und großen Konzerne werben und versuchen, sie als Wahlkampfspender zu gewinnen. Viele denken, die Präsidentenwahl beginne mit den Vorwahlen im Bundesstaat Iowa im Januar des jeweiligen Wahljahres. Dem ist aber nicht so. Der Wahlkampf beginnt viel früher. Jeder, der eine ernsthafte Kampagne starten will, muß sich lange vorher mit Vertretern der verschiedenen Industrielobbies treffen und ihnen versichern, als Präsident ein offenes Ohr für ihre Interessen zu haben. Von daher ist der Präsident stets jemand, dem die Anliegen der Schwerreichen und Großkonzerne, nicht die der arbeitenden Bevölkerung am Herzen liegen. Im Wahlkampf täuscht er Interesse am Wohl der einfachen Mitbürger vor, damit sie für ihn stimmen. Nach der Wahl steht er jedoch voll im Dienst des Kapitals, das ihn letztlich ins Weiße Haus gehievt hat.

SB: Barack Obama ist die Wiederwahl gelungen. Er hat damit eine zweite Amtszeit bekommen. Hat er während seiner bisher fünfeinhalb Jahre als Präsident überhaupt etwas Progressives für die kleinen Leute getan, oder besteht sein einziger Verdienst vielleicht lediglich darin, 2008 und 2012 verhindert zu haben, daß reaktionäre Republikaner wie John McCain respektive Mitt Romney Präsident wurden?

MK: Er kann kein progressives Gesetzesvorhaben vorweisen, das er durchgesetzt hätte. Wie häufig bei demokratischen Präsidenten hat auch die Anwesenheit Obamas im Weißen Haus die progressiven Kräfte im Land geschwächt. Die linksliberalen Gruppierungen, die normalerweise das Leben eines jeden republikanischen Präsidenten zur Hölle machen, befinden sich seit der Wahlnacht im November 2008 quasi im Winterschlaf. Um einige Beispiele zu nennen: Die Lage der beiden Whistleblower Bradley Manning und Edward Snowden könnte nicht schlimmer sein, wäre der Präsident ein Republikaner; das gleiche gilt für die Menschen in Afghanistan, Pakistan und Jemen, wo die USA Krieg führen bzw. regelmäßig illegale Drohnenangriffe gegen mutmaßliche Terroristen durchführen und dabei zahlreiche Zivilisten töten.

Unter Demokraten und Republikanern besteht im Kongreß politisch kein fundamentaler Dissens. Beide bekennen sich zum herrschenden kapitalistischen System. Die Unterschiede liegen in der Frage der persönlichen Freiheit des einzelnen: Ob man für oder gegen Abtreibung, die gleichgeschlechtliche Ehe, Kinderadoption durch Schwule und Lesben et cetera ist. Die Demokraten halten den sogenannten persönlichen Liberalismus hoch, während die Republikaner an althergebrachten Familienwerten hängen. Das Problem ist, daß viele progressive Wähler nicht bereit sind, Kritik am Präsidenten zu üben, solange er für ihre persönlichen Freiheiten eintritt bzw. sie gegen Restriktionsvorhaben der Republikaner verteidigt.

Wir vom Black Agenda Report sind nicht der Meinung, daß man die Militärinterventionen der USA im Ausland wie beispielsweise den illegalen Sturz der Regierung Muammar Gaddhafis in Libyen vor zwei Jahren oder den noch nicht vollzogenen Regimewechsel im Syrien Baschar Al Assads einfach ignorieren darf, nur weil unser Präsident im eigenen Land das Recht der Frau auf Abtreibung verteidigt. Das gleiche gilt für seine billionenteuren Rettungsbemühungen der Finanzindustrie und der Wall Street-Großbanken sowie seine mißratene Gesundheitsreform, die anfangs nur von den Kritikern, inzwischen jedoch von allen Obama-Care genannt wird. Die damit verbundenen Veränderungen des amerikanischen Krankenversicherungssystems werden einigen Menschen helfen, doch die meisten werden mehr bezahlen müssen, während eine nicht geringe Gruppe ganz ohne Gesundheitsvorsorge wird auskommen müssen. Obwohl es ursprünglich ganz anders angepriesen wurde, ist Obama-Care zu einer Finanzspritze für die private Gesundheitsindustrie und die Krankenversicherungen geworden. Zwar werden die Versicherungskosten gesenkt, aber nur, um die Konzerne und nicht die Versicherten zu entlasten. Die bekannten, seit Jahrzehnten bestehenden großen Ungerechtigkeiten im US-Gesundheitssystem - zum Beispiel, daß sich viele arme Leute die Krankenversicherung nicht leisten können, geschweige denn den Arztbesuch oder den Aufenthalt im Krankenhaus - bleiben davon unberührt.

Margaret Kimberley auf dem Bürgersteig vor dem Comfort Diner - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die Wahl Obamas zum Präsidenten hat eine heftige Reaktion am rechten Rand der amerikanischen Wählerschaft, vor allem unter der weißen Mittelschicht, ausgelöst und bei den Republikanern zur Entstehung der Tea-Party-Bewegung geführt, welche die Befugnisse der Zentralregierung in Washington zurückdrängen will. Gleichzeitig hat der Einzug des ersten schwarzen Präsidenten in das Weiße Haus viele progressive, linke Wähler dazu verführt, ihren Widerstand gegen den Betrieb des Sonderninternierungslagers Guantánamo Bay auf Kuba, gegen CIA-Drohnenangriffe in Pakistan, Somalia und im Jemen sowie gegen illegale Abhöraktionen der NSA aufzugeben. Hat die amerikanische Linke seit der Wahl Obamas den Rechten mehr oder weniger das Feld überlassen?

MK: Aus PR-technischer Sicht sind die Tea-Party-Leute, die vor rassistischen Argumenten nicht zurückschrecken, um den Präsidenten öffentlich zu attackieren, für Obama ein Geschenk des Himmels. Die demokratischen Wähler, allen voran die schwarzen unter ihnen, fühlen sich verpflichtet, den Präsidenten in Schutz zu nehmen und übersehen dabei seine gebrochenen Wahlkampfversprechen. Traditionell waren die Schwarzen unter den Demokraten dem linken Flügel zuzuordnen. Wenn es um Fortschritt und Wandel in diesem Land ging, standen die Schwarzen immer an vorderster Front. Der Umstand, daß die schwarzen Politaktivisten seit mehr als fünf Jahren hauptsächlich damit beschäftigt sind, sich schützend vor Obama zu stellen, hat die Linke innerhalb der demokratischen Partei insgesamt geschwächt.

SB: Ende 2011, Anfang 2012 hat die Occupy-Bewegung mit ihrer Kritik an der kapitalistischen Elite wegen ihrer Verantwortung für die globale Wirtschaftskrise viel Wirbel in den USA erzeugt und etliche Nachahmer in anderen Ländern der westlichen Welt gefunden. Die Demonstrationen von damals sind inzwischen längst abgeflaut. Was ist von der damaligen Aufbruchstimmung geblieben? Ist die aktuelle landesweite Aktion gegen Niedriglöhne in der Fast-Food-Industrie mit Streiks gegen Filialen von McDonalds, Burger King, Kentucky Fried Chicken et cetera vielleicht auf Impulse aus der Occupy-Bewegung zurückzuführen?

MK: Occupy wirkt heute noch nach. Das Problem bei der Bewegung war die überstarke Betonung der Bedeutung der Zeltlager. Als sie dann nach einigen Monaten per Gerichtsbeschluß von der Polizei beseitigt wurden, blieb von der Bewegung von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr viel übrig. Dennoch hat sie viele Amerikaner politisiert. Ihre Analyse, derzufolge die 99 Prozent Durchschnittsbürger von dem 1 Prozent Plutokraten ausgenommen und beherrscht werden, hat für sehr viele Menschen das politische und wirtschaftliche Mißverhältnis hier in den USA auf den Punkt gebracht und zu einer neuen Solidarität zwischen der Mittelschicht und den unteren Schichten geführt. Ich würde mir ein Wiedererstarken der Occupy-Bewegung wünschen, denn geschichtlich gesehen ist Veränderung in diesem Land stets von den Basisgruppen und Massenbewegungen und weniger von der etablierten Politik ausgegangen.

Ich finde die Streiks in der Fast-Food-Industrie sehr ermutigend, vor allem, wenn man bedenkt, daß seit Beginn der Finanzkrise 2007 in den USA fünf Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen sind. Früher waren Filialen der Fast-Food-Ketten Orte, an denen hauptsächlich Jugendliche Teilzeitarbeit verrichteten, also Studenten ihr Studium finanzierten und Schüler ihr Taschengeld aufbesserten. Inzwischen arbeiten in diesen Läden viele Erwachsene Vollzeit, bekommen dafür jedoch nicht genügend Lohn, um ihre Familien über die Runden zu bringen. Leute von der Occupy-Bewegung sind heute in den Streiks gegen die Fast-Food-Restaurants involviert, kämpfen landesweit gegen die Zwangsräumungen von Wohnungen überschuldeter Eigenheimbesitzer durch die Banken sowie gegen die Stop-and-Frisk-Maßnahmen der Polizei in New York, weil überproportional junge schwarze Männer in den ärmeren Stadtteilen angehalten und nach illegalem Drogen- und Waffenbesitz durchsucht werden.

SB: Die Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 sowie die neue Initiative Black is Back scheinen Amerikas Schwarze wieder politisch zu mobilisieren, oder wertet man mit dieser Einschätzung ihre Bedeutung zu sehr auf?

MK: Von den Veranstaltungen in Washington am Samstag, den 24. August, zur Erinnerung an den großen Marsch erwarte ich lediglich staatstragendes, leeres Gerede. Der Hauptinitiator der Feierlichkeiten ist der schwarze Baptistenprediger Al Sharpton aus New York, der einst politisch sehr aktiv gewesen ist, aber in letzter Zeit hauptsächlich als Fernseh- und Radiokommentator von sich reden macht. Seit Obama im Weißen Haus residiert, fungiert Sharpton als sein medialer Leibwächter und verteidigt ihn gegen Kritik aus der schwarzen Bevölkerung. Durch zahlreiche geschäftliche Aktivitäten hat er seine frühere politische Schärfe verloren. Vor kurzem ging er gemeinsam mit Newt Gingrich, der früheren Galionsfigur der republikanischen Rechten im Kongreß, landesweit auf Tournee, um Werbung für die Privatisierung im Bildungssystem zu machen. Diese Leute wollen das öffentliche Schulsystem kaputtmachen, um daraus Profit zu schlagen. Als Hauptredner bei der Schlußkundgebung nach dem von Sharpton organisierten Gedenkmarsch auf Washington tritt Obama auf. Eigentlich widert mich das Ganze an. Dank Obama und Sharpton mutiert eine Veranstaltung, die an die moralischen Werte von Doktor Martin Luther King, der einst wegen seiner Ablehnung des Vietnamkrieges mit Präsident Lyndon Johnson brach, hätte erinnern können, zu einer Selbstbeweihräucherungsparade der Demokraten.

Martin Luther King war ein Mann der Prinzipien, der offen gegen Krieg und Armut sprach. 1968, gerade ein Jahr nach seinem öffentlichen Bruch mit Johnson, fiel er einem Attentat zum Opfer. Meiner Meinung nach wurde er wegen seiner Kritik am Vietnamkrieg ermordet. Er kämpfte auch gegen soziale und wirtschaftliche Benachteiligung. Beim Marsch auf Washington im August 1963 ging es nicht nur um Bürgerrechte, sondern auch um Arbeitsplätze und sozialen Ausgleich. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung besuchte King Memphis, um sich mit streikenden Arbeitern der städtischen Müllabfuhr solidarisch zu erklären. Fünfzig Jahre später soll das Andenken an Kings berühmte "I have a dream"-Rede ausgerechnet von Obama, dem Oberbefehlshaber der größten und bestausgerüsteten Streitmacht der Welt, gewürdigt werden. Das ist ein schlechter Witz. Obama und alle US-Präsidenten vor ihm repräsentieren das, was King ablehnte. Von daher erwarte ich von der Gedenkveranstaltung in Washington nicht den leisesten Impuls einer progressiven Veränderung für die schwarze Bevölkerung Amerikas.

Der Blick von der 120. Straße auf die im gotischen Stil zwischen 1927 und 1930 gebaute Riverside Church mit ihrem 119 Meter hohen Turm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die überkonfessionelle Riverside Church am Upper West Side von Manhattan, wo Reverend Martin Luther King am 4. April 1967 seine berühmte Rede gegen den Vietnamkrieg hielt
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sind solche Impulse eher von der Initiative Black is Back zu erwarten?

MK: Mit der Black is Back Coalition (BIBC), die von Glen Ford und anderen Freunden des Black Agenda Report ins Leben gerufen wurde, wollen wir nicht zu den Tagen des schwarzen Nationalismus zurückkehren, sondern vielmehr eine Basisorganisation schaffen, welche die spezifischen politischen Interessen der schwarzen Minderheit in den USA verficht - und zwar aus einer linken, sozialistischen Perspektive heraus.

SB: Ist die Black is Back Coalition landesweit organisiert, oder existiert sie nur in Metropolen wie New York?

MK: Bisher hat sie nur an der Ostküste - New York, New Jersey, Philadelphia, Washington D.C. und Florida - Fuß gefaßt. Wir wollen die politischen Interessen der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft wieder auf die Tagesordnung setzen. In seiner berühmten Rede 2004 auf dem Parteitag der Demokraten in Massachusetts erklärte Barack Obama bekanntlich, es gäbe kein weißes, kein schwarzes und kein braunes Amerika, sondern nur ein Amerika, wo Menschen aller Hautfarben, Religionen und Abstammungen gleich wären. Die Rede, die wenig überraschend von den Medien im großen Stil gefeiert wurde, machte Obama, der bis dahin lediglich in Illinois als Senator renommiert war, landesweit bekannt und zum politischen Shooting Star. Seine Wahl zum Präsidenten vier Jahre später hat den Mythos vom post-rassistischen Amerika so richtig aufleben lassen. Wir wehren uns gegen diese Schönfärberei, erklären, daß es sehr wohl ein schwarzes Amerika gibt, und treten in dessen Namen unter anderem für ein Ende der skandalösen Masseninhaftierung junger schwarzer Männer, der überproportionalen Anwendung von Polizeigewalt gegen Schwarze, des Antiterrorkrieges in Syrien, im Jemen, in Somalia, Pakistan und Afghanistan, des Antidrogenkrieges Washingtons in Lateinamerika sowie der Ressourcenkriege in Afrika ein und kämpfen zugleich für die Abschaffung des USA-PATRIOT-Act sowie für die Durchsetzung einer kostengünstigen Gesundheitsversorgung und preiswerten Wohnraums für alle. Uns ist klar, daß wir uns mit einem solchen Programm gegen die politische Ordnung in diesem Land stellen.

SB: Das Phänomen der Masseninhaftierung junger Schwarzer dauert nun schon mehr als vierzig Jahre an und ist eine Folge des Antidrogenkrieges im allgemeinen und der ungleichen Bestrafung des Besitzes von Crack-Kokain im Vergleich zum Kokain in Puderform im besonderen. In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen nicht nur in den USA gegen den Antidrogenkrieg. Die Staaten in Lateinamerika kehren dem Ganzen allmählich den Rücken zu. Einige Politiker und Polizeichefs in Europa und in den USA machen geltend, daß die gesellschaftlichen Kosten zur Bekämpfung des Konsums von illegalen Rauschmitteln weit höher liegen als bei einer eventuellen Legalisierung. Man könnte also den Eindruck bekommen, der Antidrogenkrieg sei ein Auslaufmodell. Glauben Sie, daß man ihn bald für gescheitert erklären und beenden wird?

MK: Nein, leider nicht. Viele Schwarze sehen im Antidrogenkrieg eine Reaktion auf die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre. Nicht zufällig wurde er in dem Moment losgetreten, als sich die Schwarzen erstmals die vollen Bürgerrechte erkämpft hatten. Mit der Ausrufung des Antidrogenkrieges 1971 durch Präsident Richard Nixon ging ein dramatischer Anstieg der Zahl der Verhafteten in den USA einher. Heute sind die USA das Land mit der absolut höchsten Anzahl und dem höchsten Prozentsatz seiner Bürger hinter Gittern. Obwohl die Schwarzen nur zehn Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, stellen sie die Hälfte der Gefängnisbevölkerung. Inzwischen haben wir in den USA eine private Gefängnisindustrie, die von dieser Fehlentwicklung profitiert. Hinzu kommt, daß viele Gefangene in den Privatgefängnissen gegen Taschengeld für irgendwelche Großkonzerne arbeiten müssen. Das sind moderne Sklaven auf den Sklavenplantagen des 21. Jahrhunderts. Wenn man in den USA bei seiner Bank anruft, um seinen Kontostand zu erfahren, oder bei einer Fluggesellschaft, um eine Reise zu buchen, dann besteht durchaus die Möglichkeit, daß die Person, die am anderen Ende der Leitung den Anruf entgegennimmt und den Fall bearbeitet, im Gefängnis sitzt. Soweit sind wir inzwischen.

Interessanterweise hat die Wirtschaftskrise in einigen Teilen der USA zu einem Rückgang der Gefängnisinsassen geführt. Aufgrund leerer Haushaltskassen können einige Bundesstaaten die Ausgaben für den Strafvollzug nicht mehr wie bisher leisten. Sie haben die Richter angewiesen, weniger drakonische Haftstrafen zu verhängen, um die Gefängnisse und damit den Staatshaushalt zu entlasten. Doch trotz dieses Rückgangs der Gefangenenzahlen bleibt das Problem der Masseninhaftierung nach wie vor bestehen. Das Phänomen fügt der schwarzen Gemeinde seit mehr als vierzig Jahren fürchterliche Schäden zu, reißt Familien auseinander und beraubt viele schwarze Männer für immer der Chance, ein normales Leben zu führen. Die Kriminalisierung weiter Teile der schwarzen Bevölkerung hat zudem zu einem Anstieg der HIV-Infizierungen und der Obdachlosigkeit geführt und ist auch die Hauptursache dafür, daß viele schwarze Kinder ohne Väter bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen. Leider erwarte ich kein Ende des Antidrogenkrieges, weil zu viele Menschen an seiner Fortsetzung interessiert sind.

Luxuswohnanlagen im alten Industriegebiet des New Yorker Stadtteils Queens am Rande des neuen Gantry Plaza State Parks - Foto: © 2013 by Schattenblick

Gentrifizierung am Ostufer des East River - Neue Wohnungstürme des Projekts Queens West am Hunter's Point
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SB: Viele New Yorker beklagen sich über die zunehmende Privatisierung öffentlicher Dienste, horrende Mieten, den Mangel an preiswertem Wohnraum und die Gentrifizierung einstiger Arbeiterviertel. Sehen Sie in irgendeinem der Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters die Gewähr für eine Umkehr vom neoliberalen Kurs, den die Stadt spätestens seit Rudolph Giuliani und Michael Bloomberg verfolgt?

MK: Nein. Bei der Bewerbung um das Amt des New Yorker Bürgermeisters stößt man auf das gleiche Problem wie bei der Präsidentenwahl. Um ernsthafte Siegeschancen zu haben, muß man Wahlkampfspenden im großen Stil eintreiben, und die bekommt man hauptsächlich von den Leuten aus dem Finanzsektor, der Bauindustrie sowie der Immobilienbranche. Doch gegen diese Interessengruppen müßte ein Bürgermeister zu Felde ziehen, wenn er das Leben in der Stadt für die einfachen Menschen erträglicher machen wollte. Brooklyn ist mit 2,5 Millionen Bewohnern der bevölkerungsreichste Stadtteil von New York und auch die Region in den USA, die am meisten von der Gentrifizierung betroffen ist. Immer mehr wohlhabende Weiße ziehen dorthin, während ebenso viele arme Schwarze von dort verdrängt werden. Viele Viertel, die jahrzehntelang nur eine schwarze Bevölkerung hatten, sind nun gemischt. Der gleiche Verdrängungsmechanismus ist auch in Harlem, wo ich wohne, zu beobachten. Gentrifizierung scheint das einzige Modell der Stadtentwicklung zu sein, welches die bestimmenden Kräfte in der Stadt verfolgen. Die einzige Chance, dies aufzuhalten, sehe ich in einer politischen Mobilisierung auf lokaler Ebene, und dafür macht sich die Black is Back Coalition stark.

Wegen der Stärke der Demokraten in New York hat die Person, die deren Vorwahlen gewinnt, die besten Chancen, Bürgermeister zu werden. Derzeit sind die aussichtsreichsten demokratischen Kandidaten Christine Quinn, die amtierende Sprecherin des New Yorker Stadtrats, Bill de Blasio, der amtierende Ombudsmann New Yorks, und Bill Thompson, der ehemalige Leiter des Rechnungshofes der Stadt, der sich bereits 2009 zur Wahl gestellt hatte. Quinn genießt die Unterstützung des unparteiischen Milliardärs Bloomberg, während Thompson vom ehemaligen republikanischen Senator für den Bundesstaat New York, Al D'Amato, gefördert wird. Obwohl er selbst schwarz ist, erklärte Thompson vor kurzem, die Kritik an der Stop-and-Frisk-Politik der New Yorker Polizei sei überzogen. Die Kampagne von Bill de Blasio, der als der liberalste Kandidat gilt, wird vom schwerreichen Finanzjongleur und Vorzeige-Philanthropen George Soros finanziert.

SB: Sie alle stehen demnach irgendwelchen Gönnern gegenüber in der Pflicht.

MK: Genau. Es stellt sich lediglich die Frage, welcher von den Gönnern am wenigsten übel ist.

SB: Das Trinkwasser der Bevölkerung im Großraum New York ist aktuell durch die geplante hydraulische Fraktionierung, auch Fracking genannt, in der Marcellus-Formation, um Erdgas zu gewinnen, bedroht. Verschiedene Umweltgruppen und Bürgerinitiativen laufen dagegen Sturm, während Gouverneur Andrew Cuomo unter enormem Druck seitens der Energieindustrie steht, das 2008 vom Kongreß in Albany verhängte Moratorium aufzuheben und den Bundesstaat New York für das Fracking freizugeben. Wie wird der Disput Ihrer Ansicht nach ausgehen? Wird das Moratorium Bestand haben?

MK: Vor dem Hintergrund des Klimawandels erscheint es geradezu verrückt, noch mehr fossile Brennstoffe in die Atmosphäre zu pusten. In der Stadt New York ist das Thema leider nicht so präsent wie auf dem Land, wo sich die Initiativen gegen das Fracking in der Hauptsache organisiert haben. Ob das Moratorium Bestand haben wird, hängt davon ab, wie stark sich die Gegner des Frackings mobilisieren und ob es ihnen gelingt, die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf die mit dieser Form der Energiegewinnung verbundenen Kosten wie auch die Verschmutzung des Grundwassers und der Flüsse mit toxischen Chemikalien zu richten. Die amerikanische Linke insgesamt muß sich wieder auf Mittel wie die Sit-ins und Teach-ins besinnen, welche die Bürgerrechtsbewegung damals eingesetzt hat und die sie stark gemacht haben. Seit den siebziger Jahren hat der politische Aktivismus in den USA stark nachgelassen. Viele Menschen zogen sich ins Private zurück und überließen die Politik den beiden großen Parteien. Zwar hat die Präsidentschaftskandidatur Obamas 2008 die Schwarzen stark mobilisiert, doch seine erfolgreiche Wahl hat viele von ihnen in die alte Passivität zurückfallen lassen. Daraus müssen wir sie wieder befreien.

SB: Edward Snowden hat durch die Enthüllung des gigantischen Ausmaßes der Telefon- und Internetüberwachung durch die National Security Agency (NSA) für eine weltweite Debatte gesorgt. Inwieweit haben linke Aktivisten und Journalisten in den USA den sogenannten Schnüffelstaat zu spüren bekommen?

MK: Seit dem Amtsantritt von Barack Obama im Januar 2009 sind nach dem Spionagegesetz von 1917 doppelt so viele Whistleblower gerichtlich verfolgt worden wie in den 92 Jahren davor. Zu den Angeklagten gehören nicht nur ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, sondern auch Journalisten, die Mißstände bei den staatlichen Behörden publik gemacht haben. In der durch die Snowden-Affäre entstandenen Diskussion um eine NSA-Reform hat Dianne Feinstein, die demokratische Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Senats, vorgeschlagen, daß nur anerkannte Berufsjournalisten den Schutz vor NSA-Abhöraktionen genießen sollten. Blogger, Teilzeitjournalisten oder auch Menschen, die als Publizisten wenig bis kein Geld verdienen und sich auf anderen Wegen über Wasser halten, wären von dieser Regelung natürlich ausgenommen. Sollte der Vorstoß Feinsteins Gesetzeskraft erlangen, wäre das ein ungeheurer Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit in diesem Land. Bisher haben wir beim Black Agenda Report keine Repressalien erleben müssen. Doch hätten wir eine Quelle im Geheimdienstbereich und würden über die Machenschaften dort berichten, bekämen wir es schnell mit dem Sicherheitsapparat zu tun.

SB: Wir bedanken uns bei Ihnen, Margaret Kimberley, für das Gespräch.

Die Außenfassade des Comfort Diner samt stiltypischer Leuchtreklame - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Comfort Diner an der East 45th Street in Manhattan
Foto: © 2013 by Schattenblick

9. Oktober 2013