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INTERVIEW/170: Quo vadis NATO? - Was keiner wissen will - Bernhard Docke im Gespräch (SB)


"Die Gefangenen sind quasi vogelfrei gemacht worden."

Gespräch mit Rechtsanwalt Bernhard Docke am Rande des Kongresses "Quo vadis NATO?" am 27. April 2013 in Bremen


Bernhard Docke im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Bernhard Docke
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Bremer Strafverteidiger Bernhard Docke ist der Anwalt von Murat Kurnaz, einem jungen, in der Hansestadt aufgewachsenen Deutsch-Türken, der 2001 nach 9/11 zur falschen Zeit am falschen Ort war. In Pakistan während einer Studienreise bei einer Routinekontrolle festgenommen und für ein Kopfgeld an die US-Streitkräfte überstellt, wurde er im Februar 2002 als "feindlicher Kämpfer" nach Guantánamo gebracht, wo er die nächsten fünf Jahre seines Lebens unter widrigsten Haftbedingungen verbringen mußte und schwersten Folterungen ausgesetzt war. Noch im selben Jahr waren US-amerikanische und bundesdeutsche Geheimdienste übereinstimmend zu dem Schluß gekommen, daß der junge Bremer weder mit den Taliban noch mit Al Kaida etwas zu tun gehabt hatte.

Der Skandal, den seine erst weitere vier Jahre später erfolgte Freilassung und die anschließenden Enthüllungen auch über die Beteiligung deutscher Stellen an seinem Schicksal auslöste, hatte sich nicht zuletzt auch daran entzündet, daß sich die damalige rot-grüne Bundesregierung gegen seine Rückkehr sogar noch gesperrt hatte. Im Jahre 2007 erschien das von Murat Kurnaz verfaßte Buch "Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo" [1], das den Regisseur Stefan Schaller dazu veranlaßte, dem Fall Kurnaz sein Spielfilmdebüt zu widmen. Sein 2012 in Deutschland produzierter Film "5 Jahre Leben" läuft zur Zeit in den Kinos an.

Auf dem Bremer Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht", der von der IALANA Deutschland und zahlreichen Mitveranstaltern organisiert worden ist und vom 26. bis 28. April 2013 stattgefunden hat, ergab sich für den Schattenblick die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Herrn Docke, in dem der Anwalt von Murat Kurnaz nicht nur Fragen zu seinem Mandanten beantwortete, sondern auch zu den auf dem Kongreß aufgeworfenen Thesen Stellung nahm.

Schattenblick: Der Fall Murat Kurnaz hat nach seiner Entlassung im Herbst 2006 aus dem Internierungslager auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba in der Bundesrepublik für großes Aufsehen gesorgt. Wie ist seine Lage heute?

Bernhard Docke: Bis heute ist der Fall eine offene Wunde. Die amerikanischen Folterer und ihre Drahtzieher bekamen bislang keine Strafverfahren. Von amerikanischer Seite wird er immer noch als sogenannter "Feindlicher Kämpfer" angesehen. Er hat also beispielsweise nicht das Recht, in die USA zu reisen. Die damals hier in Deutschland verantwortliche rot-grüne Bundesregierung, die ihm nicht geholfen hat, als die Hilfe konkret möglich war, hat sich bei ihm nicht entschuldigt, sondern das eigene humanitäre Versagen mit fadenscheinigen Argumenten gerechtfertigt.

Murat Kurnaz ist durch eine Hölle gegangen. Er ist fünf Jahre lang gefoltert worden. Ich finde es sehr beeindruckend und ausgesprochen ermutigend und schön, daß er trotz dieser furchtbaren Zeit, die er durchleben mußte, wieder auf beide Beine gekommen ist. Er kann jetzt hier in Bremen ein von familiärem Glück geprägtes Leben führen und hat zur Lebensfreude zurückgefunden. Die Folter hat ihn nicht gebrochen.

Die düstere Prophezeiung, die der Philosoph Jean Améry [2] einmal Folteropfern gemacht hat, nämlich daß, wer der Folter anheimgefallen ist, nicht mehr heimisch werden könne, trifft auf seine Person offenbar nicht zu. Kurnaz hat eine ungeheure mentale und physische Stärke bewiesen, sonst wäre er nicht ungebrochen aus dieser Situation herausgekommen. Ich glaube, viele andere Menschen hätte es zerstört. Er hat es geschafft, und das freut mich ungemein.

SB: Hier auf dem Kongreß wurde bereits viel über den humanitären Interventionismus gesprochen und diskutiert. Es ist ein zweischneidiges Schwert, wenn wegen Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Staaten interveniert wird und in anderen nicht. Murat Kurnaz zum Beispiel ist ein Opfer US-amerikanischer Folter geworden. Wie sehen Sie diesen Widerspruch?

BD: Es ist doch so, daß sich die amerikanische Regierung über viele Jahre als Leuchtturm der internationalen Menschenrechtspolitik begriffen hat. Das, was ich persönlich als Anwalt nach 9/11 erlebt habe, ist ein sehr düsteres Kapitel und das Gegenteil dessen, was vorher nach außen hin propagiert wurde. Die Gefangenen aus dem sogenannten Anti-Terrorkampf sind absolut rechtlos gestellt worden. Es ist ein rechtskultureller Rückschritt in Richtung Mittelalter gewesen, in die Zeit vor der Aufklärung. Die Gefangenen sind quasi vogelfrei gemacht worden. Sie hatten keinerlei Verfahrensrechte mehr und ihre Menschenwürde ist gebrochen worden, sie wurden systematisch gefoltert.

Insofern stellen die Reaktionen der Amerikaner auf 9/11 einen fundamentalen Bruch mit den allgemeinen Rechtstraditionen und -normen, den verbindlichen Vorschriften des Völkerrechts sowie des amerikanischen Rechts dar. Das ist ein sehr dunkles Kapitel, eine sehr bittere Reaktion auf diesen Terroranschlag und eine Geschichte, die eigentlich auch der amerikanischen Politik und dem amerikanischen Standing in der Welt auf viele Jahre schweren Schaden zufügen wird.

SB: Dieser Kongreß steht unter dem Motto bzw. der Frage "Quo vadis NATO". Manche vertreten die Auffassung, daß der durch das Völkerrecht versprochene Schutz vor Kriegen und Menschenrechtsverletzungen durch die Kriege in Jugoslawien und Afghanistan, die Folterungen in Abu Ghraib, Guantánamo und anderswo bereits diskreditiert wurde. Wie würden Sie Stellung beziehen zu der Frage, ob es sinnvoll ist, für den Schutz der Menschenrechte Kriege zu führen? Und sollte Ihrer Einschätzung nach ein auf diese Weise legitimiertes Eingreifen von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht und insofern relativiert werden?

BD: Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich jetzt aus dem Stand heraus nicht abschließend beantworten kann. Sie betrifft ein sehr komplexes politisches, rechtliches und ethisches Problem. Die letzten Praxisläufe in diesem Bereich sind alle so gewesen, daß sie keine gute Werbung für die Menschenrechte gemacht und gezeigt haben, daß es dabei um ganz andere Interessen geht und die Menschenrechte letztendlich unter den militärischen Exkursionen nur gelitten haben. Ob das Prinzip einer humanitären Schutzverantwortung, im Extremfall zur Vermeidung eines Genozids oder schwerer Menschenrechtsverbrechen militärisch einzugreifen, dadurch grundsätzlich in Frage gestellt ist, weiß ich nicht. Da ist auch meine eigene Position schwankend, ich würde das immer von Fall zu Fall beantworten wollen.

SB: Sie haben hier auf dem Kongreß Flyer über die Verfilmung des Schicksals von Murat Kurnaz verteilt. Worum geht es in dem Film "5 Jahre Leben" des Regisseurs Stefan Schaller?

BD: In dem Film wird das erste Jahr von Murat Kurnaz in Guantánamo gezeigt. Im Mittelpunkt steht nicht der politische und rechtliche Überbau dieses Falles, sondern die ganz persönliche Erlebniswelt von Kurnaz in diesem ersten Jahr und der unbedingte Versuch der amerikanischen Vernehmer, ihn zu brechen und zu einem falschen Geständnis zu zwingen. Diesem Versuch hat er widerstanden. Der Film zeigt - quasi wie in einem Kammerspiel - diese Auseinandersetzung, die verschiedenen Strategien und Taktiken, aber auch die Anwendung von Gewalt, um Kurnaz zu einem Geständnis zu bringen. Durch ein solches Geständnis sollte das, was ihm durch Folter widerfahren ist, sowie die Tatsache, daß er überhaupt dort illegal inhaftiert wurde, im nachhinein legitimiert werden. Doch dafür war Kurnaz nicht zu haben. Aus der besagten Kraft heraus, die ich anfangs genannt habe, ist es ihm gelungen, gegen diesen Vernehmungsdruck und gegen die Folter seine Würde zu bewahren und sich nicht zu einem falschen Geständnis zwingen zu lassen.

SB: Vielen Dank, Herr Docke, für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe dazu die Rezension des Buches "Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo", von Murat Kurnaz (mit Helmut Kuhn),
im Schattenblick unter INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH: REZENSION/395: Murat Kurnaz - Fünf Jahre meines Lebens (SB)
http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar395.html

[2] Der 1912 geborene österreichische Schriftsteller, Essayist und Erzähler Jean Améry emigrierte 1938 nach der Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland nach Belgien, wo er 1940 als "feindlicher Ausländer" interniert wurde. Nachdem ihm 1941 die Flucht gelang, schloß er sich in Belgien dem Widerstand an. 1943 wurde er beim Flugblätterverteilen gefaßt, ins Gestapo-Hauptquartier in Brüssel gebracht und nach Fort Breendonk/Derloven überstellt, wo er von der SS schwer gefoltert wurde. Jean Améry überlebte Krieg, Folter und Gefangenschaft in den Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. Aus Angst, unter der Folter Adressen preiszugeben, hatte er nach der ersten Tortur den ersten Suizidversuch begangen. Am 17. Oktober 1978 nahm er sich in einem Salzburger Hotel das Leben. Von ihm stammt das Zitat: "In der Tortur wird die Verfleischlichung des Menschen vollständig. ... Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt. ... Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt."
Quelle des Zitats: Jean Améry - "Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert". Eine Erinnerung von Fritz J. Raddatz, Die Welt, 31.10.2012
http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article110448981/Wer-gefoltert-wurde-bleibt-gefoltert.html


Bisherige Beiträge zum Kongreß "Quo vadis NATO?" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
BERICHT/149: Quo vadis NATO? - gedehntes Recht und Kriege (SB)
INTERVIEW/166: Quo vadis NATO? - Handgemacht und kompliziert (SB)
INTERVIEW/167: Quo vadis NATO? - Zügel für den Kriegseinsatz - Gespräch mit Otto Jäckel (SB)
INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? - Interventionsgefahren (SB)
INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? - Desaster der Mittel - Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)

24. Mai 2013