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INTERVIEW/143: Todesnacht in Stammheim - Achtung! (SB)


Laßt euch nichts erzählen

Telefoninterview mit Helge Lehmann am 25.10.2012



Helge Lehmann, Jahrgang 1964, ist IT-Spezialist und Betriebsratsvorsitzender. Auf das Thema RAF und die Todesnacht von Stammheim ist er vor einigen Jahren eher durch Zufall gestoßen. Seitdem läßt ihn das Thema nicht mehr los. Seine jahrelange akribische Recherche um zahllose Fragen und Ungereimheiten im Zusammenhang mit dem Tod der Stammheim-Häftlinge Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader sowie den schweren Verletzungen von Irmgard Möller in jener Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 hat er in einem Buch zusammengetragen. [1] Jetzt, 35 Jahre danach, haben er und der Ensslin-Bruder Gottfried einen Antrag auf Neuaufnahme des Todesermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart eingereicht und gleichen Tags am 18. Oktober in Berlin der nationalen und internationalen Medienöffentlichkeit vorgestellt. [2] Der Schattenblick hatte die Gelegenheit, Helge Lehmann zu seiner Geschichte mit dem Thema und zu seinen ganz persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen eine Woche später in einem Telefoninterview zu befragen.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Helge Lehmann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sie sind von Hause aus kein Historiker und auch kein Journalist und haben mit Ihrem Buch dennoch eine akribisch recherchierte Untersuchung vorgelegt. Wie sind Sie dazu gekommen?

Helge Lehmann: Der Anlaß war relativ banal. Ich hatte ein Buch für den Urlaub gesucht und bin dabei auf "Der Baader-Meinhof-Komplex" von Stefan Aust gestoßen. Vorher hatte ich mit dem Thema wenig zu tun, außer durch die Nachrichten, so wie jeder andere Normalbürger auch. Ich habe dann dieses Buch tatsächlich angefangen zu lesen und mir dabei die ersten Fragen gestellt: Wie kann so etwas in einem so sicheren Gefängnis passieren? Wie können dort Waffen hineingelangen, mit denen sich die Gefangenen selber umbringen? Es gab viele Fragen, die mich seit dieser Zeit nicht mehr losgelassen haben.

SB: Trotzdem ist das ja recht ungewöhnlich. Sie haben selber gesagt, daß Sie ein relativ unpolitischer Mensch waren. Viele Leute haben das Buch von Stefan Aust gelesen und sind nicht auf solche Fragen gekommen. War da vielleicht auch eine beruflich bedingte Schnüfflernase am Werk, denn Sie sind diesen Fragen ja dann über Jahre nachgegangen?

HL: Es hat natürlich damit zu tun, daß man, gerade im IT-Bereich, bei technischen Problemen eine Lösung haben will und erst Ruhe gibt, wenn das passiert ist. Ich war tatsächlich unpolitisch. Es muß, glaube ich, aber auch kein politisches Verständnis da sein, wenn man diese Unglaublichkeiten liest, die da passiert sein sollen. Wenn man ab einem Zeitpunkt erst einmal so tief eingestiegen ist wie ich, dann möchte man auch ein Ergebnis haben, zumindest in dem Sinn, daß man die Fragen soweit formulieren kann, daß sie sich in so einem Antrag zusammenzufassen lassen.

SB: Wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen, woher haben Sie Ihre Informationen bekommen?

HL: Nachdem ich das Buch gelesen und schon eine ganze Menge darin angestrichen hatte, habe ich mir zuerst andere Bücher zu dem Thema gesucht. Da gab es eine ganze Menge, die ich mir zum Teil gekauft, durchgelesen und bestimmte Textpassagen verglichen habe. Ich hatte den Eindruck, einige schreiben von anderen ab, aber manches war auch neu. Schließlich hat mir jemand den Hinweis gegeben, bei den Akten selber nachzusehen. Ich habe beim Bundesarchiv nachgefragt. Ich habe mir erklären lassen, wie die Archivrichtlinien sind und bin schließlich in verschiedenen Archiven gelandet, was mir natürlich sehr viel neues Material zum Auswerten der ganzen Geschichte an die Hand gegeben hat.

SB: Sind Sie bei Ihren Recherchen auch an Grenzen gestoßen, wo Sie nicht weitergekommen sind, weil Informationen blockiert wurden?

HL: Ja, diese Blockade gab es vor allem da, wo Akten noch immer nicht freigegeben sind. Das ist bei einer ganzen Menge Akten der Fall, u.a. bei den Akten aus dem Krisenstab oder denen der GSG 9, wo ich auf meine schriftliche Nachfrage die Antwort erhielt, daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bei einer Veröffentlichung gefährdet sei.

SB: Nun haben Sie am 18. Oktober den Antrag auf Neuaufnahme des Todesermittlungsverfahren eingereicht. Haben Sie Kenntnis oder Anhaltspunkte dafür, wie die Staatsanwaltschaft vorgehen wird? Muß zum Beispiel jeder Punkt, den Sie genannt haben, für sich beurteilt werden oder könnte der Antrag auch pauschal zurückgewiesen werden?

HL: Gottfried Ensslin und ich - wir haben das ja zu zweit gemacht und auch zusammen ausgearbeitet und formuliert - gehen davon aus, daß jeder dieser einzelnen Punkte beantwortet werden muß.

SB: Welche weiteren rechtlichen Schritte wären im Falle einer Ablehnung des Antrags möglich oder denkbar?

HL: Wir werden jetzt abwarten, wie die Staatsanwaltschaft Stuttgart reagiert und danach überlegen, wie wir weiter vorgehen werden.

SB: Sowohl die Pressekonferenz in Berlin als auch die Antragsstellung selbst hat in den Medien eine ziemlich starke Resonanz gefunden. Wie bewerten Sie diese Reaktion?

HL: Ich fand das durchaus positiv, auch die Berichte hinterher, sehr objektiv und einfach der Sache geschuldet. Und ich freue mich, wenn weiterhin eine gewisse Unterstützung in den Medien stattfindet.

SB: Hat Sie das Ausmaß des öffentlichen Interesses überrascht, denn es hätte ja auch sein können, daß das Thema völlig totgeschwiegen wird?

HL: Durchaus, ich hätte eher damit gerechnet, daß vielleicht nur vier, fünf Pressevertreter kommen, in der Hinsicht hat es mich positiv überrascht.

SB: Sie haben sich nun mehrere Jahre lang mit der Todesnacht in Stammheim befasst. Inwieweit hat diese Forschungsarbeit Ihr Leben verändert?

HL: Im Großen und Ganzen hat es sich nicht wesentlich verändert, aber es ist zwangsläufig eine erhöhte Aufmerksamkeit bei mir entstanden, was Nachrichten und Meldungen betrifft, die durch Zeitungen, vor allem aber durch das Fernsehen verbreitet werden, wie man versucht, die Bürger der Bundesrepublik mit Informationen zu beeinflussen, welche Informationen gewollt sind, welche Ziele damit verfolgt werden. Im täglichen Ablauf hat sich weniger verändert, außer, daß ich natürlich - in der Vergangenheit zumindest - mit dem Thema eingeschlafen und wieder aufgewacht bin.

SB: Sie haben im Vorwort Ihres Buches unter anderem Ihrer Familie für die Geduld und Unterstützung während der mehrjährigen Recherchearbeit gedankt. War es schwierig, Ihrem persönlichen Umfeld zu vermitteln, warum die Beschäftigung mit diesem Thema für Sie so wichtig war?

HL: Ja, natürlich, das Verständnis hat irgendwo Grenzen, das kann ich auch nachvollziehen. Ich glaube allerdings, ohne ein intensives Eintauchen in die Materie geht es nicht.

SB: Gab es Momente, wo Ihre Familie gesagt hat, nun laß doch mal gut sein?

HL: Ja klar, aber das war in meinem gesamten Umfeld so: Das ist doch schon so lange her, warum machst du das? - Verstehen konnte es kaum einer. Vielleicht ist das Verständnis jetzt ein bißchen größer geworden.

SB: Nun ist der Komplex Stammheim ja politisch nach wie vor hoch aufgeladen. Hat die ausgiebige Beschäftigung mit diesem Thema auch Ihre eigene politische Einstellung verändert?

HL: Eine politische Einstellung - wie ich schon am Anfang sagte - gab es vorher nicht. Was die Politisierung angeht, habe ich erst in den letzten Jahren das durchlebt, was andere bereits mit 17, 18 oder während des Studiums erleben. Mir ist wichtig, die Menschen aufmerksam zu machen: Paßt auf, daß man mit euch nicht einfach macht, was man will. Laßt euch nichts erzählen, schaut hin, hinterfragt, prüft die Sachen.

SB: Sie haben Ihre Forschungsarbeit und Ihr Buch auch in einer ganzen Reihe von Veranstaltungen vorgestellt. Aus welchen Kreisen wurden Sie eingeladen und wie sind die Reaktionen ausgefallen?

HL: Die Einladungen kamen eher aus dem linken politischen Bereich, es gab aber auch Veranstaltungen, wo nicht die Politik im Vordergrund stand, sondern das Thema selbst. Und es gab hinterher immer eine interessante Diskussion, weil viele Menschen sich an diese Zeit kaum erinnern.

SB: Sind Sie auch in Schulen gewesen?

HL: Eine Schule in Kronberg hat mich zur Diskussion eingeladen, das war sehr spannend. Ich finde es toll, wenn junge Menschen sich dafür interessieren, weil es aus meiner Sicht wenig Sinn macht, die RAF nur als Kinofilm zu sehen, ohne sich auch ganz objektiv damit zu beschäftigen. Nicht als Sympathisant oder sonst etwas, sondern einfach, um die Geschichte als solche zu begreifen. Ich glaube, in manchen Bundesländern gehört das Thema inzwischen zum Unterrichtsstoff in der Oberstufe, aber das ist mir ein bißchen zu wenig.

SB: Wissen Sie, wen Sie mit diesem Thema erreichen?

HL: Das ist schwer zu sagen. Aber wem immer ich das Buch gebe, wenn er nicht selbst darauf aufmerksam wurde, findet das Thema hochinteressant und ist begeistert davon, wie intensiv da recherchiert wurde. Viele fanden es auch interessant, an das Thema herangeführt zu werden, sich mit diesen Fragen etwas weiter zu befassen. Das ist mir auch persönlich wichtig, daß sich Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen. Auch um die Ereignisse vor 35 Jahren zu klären, aber ebenso um zu beobachten, wie es heute läuft: Was hat es mit den Terrormeldungen auf sich, wie passiert das, was im Fernsehen läuft, was sollen wir wissen, warum dürfen wir den Rest nicht wissen? Es in die heutige Zeit zu übertragen, das scheint mir wichtig.

SB: Herr Lehmann, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.



Anmerkungen

[1] Helge Lehmann, Olaf Zander: Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung, Bonn 2011

[2] Siehe dazu:
BERICHT/126: Todesnacht in Stammheim - Nachgeforscht (SB)
www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0126.html
INTERVIEW/139: Todesnacht in Stammheim - Eine Revolution läßt nichts aus (SB)
Interview mit Gottfried Ensslin am 18.10.2012 in Berlin
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0139.html
INTERVIEW/141: Todesnacht in Stammheim - Aufbruch & Bambule (SB)
Interview mit Ulla Jelpke am 18.10.2012 in Berlin
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0141.html

31. Oktober 2012