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INTERVIEW/089: Petersberg II - Jeremy Corbyn, britischer Labour-Abgeordneter (SB)


Interview mit Jeremy Corbyn am 4. Dezember in Bonn


Innerhalb der britischen Labour-Partei gilt Jeremy Corbyn als der entschiedenste Kriegsgegner. Der langjährige Abgeordnete des Londoner Wahlbezirks Islington North hat 2002, 2003 in Großbritannien die inner- und außerparlamentarische Opposition gegen den drohenden Irakkrieg George W. Bushs und Tony Blairs angeführt. Anläßlich der jüngsten Afghanistan-Konferenz in Bonn nahm Corbyn unter anderem am Gegenkongreß der internationalen Friedensbewegung im Rheinischen Landesmuseum in der ehemaligen Bundeshauptstadt teil. Bei diesem Anlaß konnte der Schattenblick ein ausführliches Interview mit dem Stellvertretenden Vorsitzenden der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) führen.

Porträt von Jeremy Corbyn - Foto: © 2011 by Schattenblick

Jeremy Corbyn
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Herr Corbyn, Sie sind als Abgeordneter des britischen Unterhauses, der sich mehr als jeder andere als Friedensaktivist und Kriegsgegner hervorgetan hat, bekannt. Woher kommt Ihr Interesse an der Außen- und Sicherheitspolitik und inwieweit kollidiert es mit Ihrer Rolle als Volksvertreter des Londoner Wahlbezirks Islington North?

Jeremy Corbyn: Ich habe mich bereits als Jugendlicher für außenpolitische Belange interessiert. Bereits mit vierzehn Jahren trat ich dem Campaign for Nuclear Disarmament (CND) bei. Meine Eltern waren politisch sehr aktiv. Sie lernten sich in den dreißiger Jahren sogar bei einer Veranstaltung zugunsten der Republik im Spanischen Bürgerkrieg kennen. Als ich zum ersten Mal um den Sitz in Islington North bei der Parlamentswahl 1983 kandidierte - da war ich schon Kommunalpolitiker im Nachbarbezirk Harringay -, habe ich auf Flyern unter anderem meine Ablehnung gegenüber Atomwaffen und der NATO hervorgehoben und mich sowohl für einen Nahost-Friedensprozeß als auch für die Wiedervereinigung Irlands als langfristige Lösung des Konfliktes im Norden der grünen Insel stark gemacht. Ich habe niemals einen Widerspruch zwischen meiner Aufgabe als Volksvertreter einer Londoner Gemeinde und meinem Einsatz als Friedensaktivist gesehen. Schließlich ist die Bewahrung des Friedens die wichtigste Aufgabe überhaupt. Wenn wir gute Schulen, gute Krankenhäuser, preiswerte Wohnungen und ähnliches haben wollen, müssen wir die britischen Atomwaffen, die Unsummen verschlingen, abschaffen. Nun, es mag Leute in meinem Wahlbezirk geben, die anderer Meinung sind, aber gleichwohl haben sich die Menschen von Islington North inzwischen siebenmal mehrheitlich für mich entschieden. Bei der Wahl 2010, welche die Labour Party verlor und eine Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten zur Folge hatte, habe ich meinen Stimmenanteil sogar erhöhen können.

SB: Ihr Erfolg straft also der Behauptung, die Menschen wären nicht an Dingen interessiert, die in anderen Teilen der Welt passieren, Lüge?

JC: Durchaus. Ich schätze, daß allein aus meinem Wahlbezirk zehntausend Menschen an der großen Demonstration am 15. Februar 2003 in London gegen den drohenden Irakkrieg teilnahmen. Wenn ich, häufig als Mitglied einer Delegation, in andere Länder reise, halte ich nach der Rückkehr im meinem Wahlbezirk meistens einen öffentlichen Vortrag ab und berichte über das, was ich gesehen habe. Solche Abende sind meistens sehr gut besucht. Nachdem ich zum ersten Mal Abgeordneter für Islington North wurde, habe ich mit einer Delegation der Labour-Partei das sandinistische Nicaragua besucht.

SB: Das hat Sie bestimmt bei der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher nicht sonderlich beliebt gemacht. (lacht)

JC: Die Bürde habe ich gerne auf mich genommen. (lacht)

SB: Der vorhin erwähnte Protestmarsch gegen den Irakkrieg war eine gewaltige Aktion und avancierte mit mehr als einer Million Teilnehmern zur größten politischen Demonstration in der Geschichte Großbritanniens. Wie ist damals die Stop the War Coalition zustande gekommen? Heute auf der Konferenz haben Sie daran erinnert, daß diese Initiative nicht wegen des Irakkrieges, sondern kurz nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 als Reaktion auf den damals bevorstehenden Überfall auf Afghanistan ins Leben gerufen wurde.

JC: Rückblickend bin ich der Meinung, daß wir nicht soviel Menschen gegen den Irakkrieg auf die Straße bekommen hätten, wenn wir innerhalb der bereits vorhandenen Organisationen mobilisiert und nicht eine neue, eigenständige Initiative gestartet hätten. Damals waren ich und der Labour-Veteran Tony Benn uns einig, daß wir eine Anti-Kriegskoalition schmieden müßten, welche die unterschiedlichsten Friedensgruppen zusammenbrachte, aber gleichzeitig mit CND in Verbindung stand. Die CND genießt in Großbritannien zwar hohes moralisches Ansehen, ist aber nur für eine kleine Minderheit als Mobilisierungsfaktor relevant. Daher mußten wir alle anderen Gruppen sozusagen mit ins Boot holen. Die Anti-Kriegskoalition seitdem zusammenzuhalten ist nicht einfach gewesen, da ihr Aktivisten aus diversen Gruppen wie den Gewerkschaften, christlichen, jüdischen und muslimischen Verbänden sowie der Socialist Workers Party, der Grünen und der Labour-Partei angehören, aber wir haben es trotzdem geschafft. Und weil wir bereits gegen den Einmarsch in Afghanistan mobilisiert hatten, waren wir 2002, 2003 in der Lage, eine breite Öffentlichkeit gegen den Irakkrieg zu organisieren. Allein in den zwölf Monaten vor der Irakinvasion im März 2003 bin ich auf mehr als 200 öffentlichen Veranstaltungen im ganzen Land aufgetreten.

SB: Die Ernte Ihrer Arbeit haben Sie an jenem Samstag doch eingefahren, als rund zwei Millionen Briten in verschiedenen Städten auf die Straße gingen, oder?

JC: Das war zweifelsohne der größte Tag meines Lebens.

Schattenblick-Redakteur & Jeremy Corbyn im Gespräch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick-Redakteur & Jeremy Corbyn
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Im Vorfeld der Invasion und der Teilnahme der britischen Streitkräfte an der Militäroperation im Zweistromland kam es zu einer sehr umstrittenen Abstimmung im Londoner Parlament. Später wurde der Vorwurf laut, Tony Blair hätte das Parlament, die Abgeordneten seiner Partei und sogar die eigenen Kabinettsmitglieder über die wahren Gründe für den Krieg in Unkenntnis gelassen. Wie kam es damals zu dem Votum des Unterhauses für den Schulterschluß Großbritanniens mit der Irak-Politik der Regierung von US-Präsident George W. Bush? Haben die meisten Abgeordneten tatsächlich den Unsinn von Saddam Husseins "Massenvernichtungswaffen" geglaubt oder hat sich die Parteiräson einfach durchgesetzt?

JC: Blair hat es eventuell geglaubt.

SB: Aus religiösen Gründen...

JC: Aus welchen Gründen auch immer. Einmal haben ich und die anderen Labour-Abgeordneten, die einen Krieg ablehnten, ein Treffen mit ihm zu diesem Thema vereinbart. Ich saß ihm direkt gegenüber und sagte ihm ins Gesicht: "Tony, wir haben all Ihre Argument gehört und sind immer noch nicht überzeugt. Bitte sagen Sie uns, warum wir in Wirklichkeit in den Irak einmarschieren sollten?" Er wurde zornig, schlug mit der Faust auf den Tisch und erklärte: "Weil es das Richtige ist". Darauf sagte ich: "Ich habe Sie nach den wahren Gründen für die Invasion gefragt und sie erklären mir einfach, daß es das Richtige ist. Das ist doch keine Antwort auf meine Frage." Seine Erwiderung? "Das ist die einzige Antwort, die Sie von mir bekommen werden."

Auf die Mitglieder der Labour-Fraktion im Unterhaus wurde im Vorfeld der Abstimmung enormer Druck ausgeübt. Damals gab es eine satte Mehrheit von mehr als 400 Labour-Abgeordneten im rund 650köpfigen Unterhaus. Zwar bestand keine Gefahr, daß Blair nicht die einfache Mehrheit für einen Kreuzzug gegen das "Regime" Saddam Husseins bekommen würde, denn die meisten oppositionellen Konservativen waren dafür. Dennoch ließ sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß eine Mehrheit der eigenen Parteikollegen Blair bei der Abstimmung die Gefolgschaft aufkündigte. Für diesen Fall drohte er mit dem Rücktritt. Ich glaube nicht, daß er es ernst meinte, sondern gehe davon aus, daß er die Drohung als Mittel der Fraktionsdisziplin einsetzte. Gleichwohl gab es Signale seitens der Militärführung, die von der Notwendigkeit und völkerrechtlichen Legalität der drohenden Militäroperation nicht ganz überzeugt war, so daß sie sich, sollten mehr als 200 Abgeordnete - eine Mehrheit - der regierenden Labour Party gegen das Vorhaben Blairs votieren, dem Premierminister in den Weg stellen würde. Also stand das Ganze auf des Messers Schneide.

Innerhalb des Kabinetts gab es zwei Mitglieder, Außenminister Robin Cook und Entwicklungsministerin Clare Short, die als Wackelkandidaten galten und dem Schulterschluß Blairs mit Bush jun. in der Irak-Frage skeptisch gegenüberstanden. Da sie an allen Kabinettssitzungen teilnahmen und Zugang zu den geheimen Lageberichten von Militär und Geheimdienst hatten, maßen viele Labour-Hinterbänkler ihrem Verhalten große Bedeutung bei. Und so kam es in den entscheidenden Stunden zu einer Inszenierung, die Blair meines Erachtens letztlich die Premierminister-Mehrheit der eigenen Parteikollegen gesichert hat. Am Abend vor der Abstimmung trat Cook als Außenminister zurück und gab dabei eine flammende Rede im Unterhaus. Damit war dem sozialdemokratischen Labour-Gewissen gewissermaßen Genüge getan. Gleichzeitig setzte Short für den nächsten Vormittag, unmittelbar vor der Abstimmung über den Krieg, eine persönliche Erklärung auf die Tagesordnung im Unterhaus, was Vorrang vor allen anderen parlamentarischen Angelegenheiten hat. Alle dachten, sie würde ebenfalls zurücktreten, was ein zweiter und vielleicht entscheidender Schlag gegen Blairs Kriegspläne gewesen wäre.

Es kam dann jedoch ganz anders. Am Vormittag wurde bekannt gegeben, daß Short auf ihre Erklärung verzichtete, was bedeutete, daß sie als Ministerin nicht zurücktrat. Es kursierte das Gerücht, Blair hätte ihr in der Nacht wichtige Versprechungen bezüglich des Wiederaufbaus des Iraks - nach seiner bevorstehenden Zerstörung, versteht sich - gemacht und sie damit zum Verbleib im Kabinett bewogen. Auf diese Weise entstand der Eindruck, Short hätte sich vergewissert, daß sich der angloamerikaniche Einmarsch in den Irak am Ende für die Menschen dort positiv auswirken würde. Dieser Anschein hat meiner Meinung nach nicht wenige Labour-Abgeordnete, die ansonsten gegen die Regierung gestimmt hätten, dazu veranlaßt, deren Kurs zuzustimmen und eine Mehrheit der eigenen Partei hinter Blair zu bringen.

Am Vormittag vor der Abstimmung hat Blair die potentiellen Abweichler in den eigenen Reihen einzeln in sein Büro zitiert und ihnen die entscheidende Frage gestellt: "Halten Sie zu mir oder kann ich nicht mehr auf Sie zählen?" Derart auf die Probe gestellt sind genügend Kriegsskeptiker eingeknickt. Am Ende stimmten lediglich 139 Labour-Abgeordnete gegen die Irakinvasion und keine 200 plus, wie wir es gehofft hatten. Nachher haben mir einige der Umfaller gesagt, sie hätten Blairs Begründung für den Krieg niemals geglaubt und lediglich aus Parteiräson dafür votiert. Jedesmal, wenn mir jemand das sagte, habe ich erwidert: "Hätten Sie wirklich das Interesse der Partei im Sinn gehabt, hätten sie gegen den Krieg gestimmt". Denn das verdammte Votum zur Teilnahme Großbritanniens am Irakkrieg hat der Labour-Partei mehr als jedes andere Thema der letzten Jahre geschadet.

SB: Verdientermaßen, wenn ich das sagen darf.

JC: Klar dürfen Sie das sagen. Schließlich ist es wahr.

Porträt von Jeremy Corbyn - Foto: © 2011 by Schattenblick

Jeremy Corbyn
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Angesichts der internationalen Finanzkrise und den erschwerten Haushaltsbedingungen in Großbritannien werden schmerzhafte Kürzungen des britischen Wehretats vorgenommen. Inwieweit ist vor diesem Hintergrund die Rolle Großbritanniens als wichtigster und treuester Verbündeter der USA in Gefahr? In den letzten Jahren ist es zudem zu einer verstärkten militärischen Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und Frankreich - bestes Beispiel der Sturz des "Regimes" Muammar Gaddhafis in Libyen - gekommen. Verliert Großbritannien seine außen- und sicherheitspolitische Eigenständigkeit in einer erstarkten EU und deren Einbettung in die NATO-Strukturen?

JC: Die politische und militärische Elite Großbritanniens gibt sich seit Jahrzehnten einer großen Illusion hin, was die geopolitische Bedeutung des Landes betrifft. Das nahm seinen Anfang, als die USA Großbritannien aus dem Schlamassel des Ersten Weltkrieges helfen mußten. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen haben die Briten ein Imperium aufrechterhalten, das sie sich eigentlich nicht mehr leisten konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat London einen Haufen Geld zur Bekämpfung von Anti-Kolonialbewegungen in Ländern wie Malaysia und Kenia ausgegeben, obwohl doch absehbar war, daß man sie über kurz oder lang in die Unabhängigkeit würde entlassen müssen. Nach der Suezkrise 1956 zogen sich die britischen Streitkräfte bis zum Mittelmeer zurück. Politisch nahm man vom British Empire Abschied und wandte sich der Europäischen Union zu, wenngleich der Beitritt aus Gründen der Opposition Frankreichs einige Jahre auf sich warten ließ. Man hielt den Kontakt zu den ehemaligen Kolonien über den British Commonwealth aufrecht und redete sich ein, durch eine "special relationship" zu den USA gesegnet zu sein.

Der Höhepunkt der "special relationship", sollte sie jemals wirklich existiert haben, kam in den sechziger Jahren, als die Labour-Regierung Harold Wilsons riesige Summen von den USA borgte, um den Kurs des britischen Pfundes gegenüber dem Dollar zu verteidigen - was sich als überaus kostspielig und letztlich zum Scheitern verurteiltes Unternehmen erweisen sollte. Das war noch die Ära der festen Währungskurse. Zur gleichen Zeit haben die Amerikaner die Insel Diego Garcia im Indischen Ozean pachten und zum Luftwaffen- und Marinestützpunkt ausbauen können. Im Gegenzug bekam Großbritannien von den USA das U-Boot-gestützte Atomwaffensystem Polaris.

Auffallenderweise benutzen die Amerikaner den Begriff der "special relationship" für das Verhältnis zwischen Washington und London nie. Für sie ist Großbritannien nur ein Verbündeter unter vielen. Tatsächlich wenden sich die USA derzeit von Europa und dem Atlantik ab und dem pazifischen Raum zu, wie man den jüngsten Stellungnahmen Barack Obamas und Hillary Clintons entnehmen kann, was angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung Chinas und der anderen asiatischen Länder kaum verwunderlich ist.

Die Entwicklung hin zu einer verstärkten militärischen Zusammenarbeit innerhalb der EU lief mehrere Jahre ohne besondere Beteiligung Großbritanniens. Das Abkommen von Lissabon, das erstmals die Verbindung zwischen EU und NATO auf eine vertragliche Basis stellte, hat auch für London vieles verändert. Seitdem bemüht sich Großbritannien um größeren Einfluß auf militärische Angelegenheiten innerhalb der EU. Das erklärt die Anstrengungen Londons um eine bilaterale Sonderallianz mit Paris und die Überlegungen, Teile der britischen und französischen Streitkräfte zu fusionieren. Ich befürchte, daß wir künftig noch mehr gemeinsame Militäroperationen der EU in Übersee bei weniger demokratischer Kontrolle durch die einzelnen Nationalparlamente erleben werden.

Was die Frage der Finanzierung der britischen Streitkräfte betrifft, so glaube ich, daß das Militär und seine Freunde in den Medien das Ausmaß der Kürzungen übertrieben dargestellt haben. Es wurden zwar einige Rüstungsprogramme gestrichen, aber am Bau neuer Flugzeugträger und der Erneuerung des strategischen Atomwaffensystems Trident, das Milliarden Pfund verschlingt und noch mehr verschlingen wird, wurde eisern festgehalten. Seitens der Befürworter im Ministry of Defence wird die Trident-Erneuerung damit begründet, daß die mit nuklearen Interkontinentalraketen ausgestatteten U-Boote Großbritanniens Position als Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sichern, seinen Einfluß auf internationaler Ebene garantierten und in jeder Hinsicht kostengünstiger sind als konventionelle Waffensysteme. Im Verteidigungsministerium gibt es aber auch Kritiker, die behaupten, daß die britischen Atomwaffen letztlich nutzlose Prestigeobjekte sind, die Unsummen kosten, die in der Bewaffnung der konventionellen Streitkräfte eine bessere Verwendung fänden. Leider ist es so, daß bei den Spitzen von Regierung und Opposition Einigkeit darüber herrscht, daß Großbritannien auf seine Atomwaffen nicht verzichten darf und in der Lage sein muß, praktisch überall auf der Welt militärisch aktiv zu werden. Nach meiner Einschätzung steht ein Großteil der britischen Bevölkerung solchen Überlegungen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Ich könnte mir gut vorstellen, daß die Finanzkrise Großbritannien zu einer bescheideneren, weniger militaristischen, seiner Bevölkerungsgröße und geographischen Position am nordwestlichen Rand des eurasischen Kontinents angemesseneren Außen- und Sicherheitspolitik zwingen wird. Ich hoffe es jedenfalls.

SB: Wie steht es um die stolze britische Militärtradition? Verliert sie an gesellschaftlichem Ansehen oder bekommt sie angesichts der Misere am Arbeitsmarkt vielleicht doch noch einen neuen Schub?

Porträt von Jeremy Corbyn - Foto: © 2011 by Schattenblick

Jeremy Corbyn
Foto: © 2011 by Schattenblick

JC: Leider ist es so, daß die derzeit hohe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen für einen regelrechten Ansturm auf die Rekrutierungsbüros sorgt. Trotz der vielen Toten und Verletzten im Irak und in Afghanistan kann sich das britische Militär über keinen Nachwuchsmangel beklagen. In den letzten Jahren habe ich zahlreiche ehemalige Irak- und Afghanistan-Veteranen getroffen, die überraschenderweise meine Kritik an den Kriegen dort teilten. Sie halten die Interventionen für sinnlos und verfehlt. Sie glauben nicht, daß wir den Krieg in Afghanistan gewinnen können, weil wir es mit einer nationalistischen Erhebung zu tun haben, auch wenn wir den Gegner in den Taliban zu verteufeln versuchen.

Im britischen Parlament herrscht meines Erachtens ein zu großer Respekt gegenüber dem Militär vor. In den beiden großen Parteien, Labour und die Konservativen, vermeidet es die Führung tunlichst, öffentlich in einen Streit mit oder eine Gegenposition zu den Generälen zu geraten. Derzeit sitzen im Parlament soviele Ex-Militärs wie seit langem nicht mehr. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß die meisten Parlamentarier der Meinung sind, den Wünschen der obersten Generalität entsprechen zu müssen. Früher, als die Mitarbeiter des Parlaments alle Ex-Marineinfanteristen waren, war es noch schlimmer. Damals hatte man als Abgeordneter beinah das Gefühl, Teil der Streitkräfte zu sein.

SB: Ein Thema im heutigen Workshop über die Militarisierung der Gesellschaft war die Heroisierung gefallener und verwundeter Soldaten und die Art, wie deren Opfer von Politik und Medien schamlos benutzt wird, um eine öffentliche Zustimmung für Interventionen und Kriege im Ausland zu erzeugen bzw. um die Gegner dieser Pläne als herzlose Vaterlandsverräter hinzustellen. Beim jüngsten Volkstrauertag in Großbritannien wurde eine Protestaktion radikaler Moslems gegen den westlichen "Antiterrorkrieg" in den Ländern der islamischen Welt als potentielle Volksverhetzung verboten und die Organisatoren quasi als Anhänger Osama Bin Ladens abgestempelt. Wäre es nicht eine Idee, wenn die britische Friedensbewegung gemeinsam mit diesen Leuten gegen die Heroisierung der Opfer unter den westlichen Soldaten, was zwangsläufig noch mehr Tote und Verletzte nach sich zieht, protestierte?

JC: Tatsächlich ist es so, daß der enorme Druck, den die Medien in Großbritannien inzwischen jedes Jahr erzeugen, um vor allem Personen des öffentlichen Lebens am 11. November - dem Gedenktag zum Ende des Ersten Weltkrieges - dazu zu zwingen, sich demonstrativ mit einer roten Mohnblume zu schmücken, eine Gegenreaktion ausgelöst hat. Wir von der Friedensbewegung planen bereits für das kommende Jahr eine eigene Trauerfeier an dem Freitag vor den offiziellen Veranstaltungen am betreffenden Sonntag in November. Auch wir wollen unsere gefallenen Soldaten ehren, jedoch das Argument, deren Opfer hätte die Welt sicherer gemacht, in Abrede stellen. Das Gegenteil ist doch der Fall. Der Krieg macht die Welt noch unsicherer und produziert Leid und Schmerz in unerträglichem Ausmaß.

Ich werde im Parlament von den Hurrapatrioten unter den Tories wegen meiner friedenspolitischen Haltung dauernd angegriffen. Sie sehen aber nicht die vielen Ex-Soldaten aus meinem Wahlbezirk, die zu mir in die Sprechstunde kommen, um Hilfe zu suchen. Diese armen Männer haben häufig psychische Probleme, sind alkohol- oder drogensüchtig geworden, finden keine Arbeit, keine Wohnung und leben auf der Straße. Vom Staat, für den sie ihr Leben riskiert und ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben, bekommen sie nach der Ausmusterung keine Unterstützung. Nicht wenige Kriegsveteranen landen irgendwann im Gefängnis. Bei den Offizieren gibt es solche Probleme nicht. Wenn sie ihren Dienst quittieren, bekommen sie meistens gutdotierte Posten in der Privatwirtschaft. Viele der einfachen Soldaten sind dagegen nach dem Militärdienst für ihr Leben gezeichnet - negativ natürlich.

SB: Innerhalb der NATO scheinen die britischen Medien, allen voran der staatliche Rundfunksender BBC, eine besondere Rolle auf der Propaganda-Ebene zu spielen. Will der Westen irgendein Regime destabilisieren oder stürzen, sind Reporter von der BBC oder den Zeitungen Guardian, Times, Independent und Telegraph sofort zur Stelle und berichten von Menschenrechtsverletzungen, Greueltaten, geheimen Waffenprojekten, terroristischen Umtrieben et cetera. Wegen des hohen Ansehens dieser Medien in der ganzen Welt werden ihre Berichte für bare Münze genommen, wodurch in der Öffentlichkeit schnell eine Kriegsstimmung erzeugt wird, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Handlungsnotlage aufgreift. Und das ungeachtet der Tatsache, daß mit Blick auf Jugoslawien, den Irak und jüngst Libyen die Gründe, warum der Westen angeblich militärisch eingreifen müßte, häufig vollkommen übertrieben dargestellt wurden. Obliegt es nicht der Friedensbewegung in Großbritannien, die kriegshetzerische Funktion der eigenen Vorzeigemedien zu entlarven, damit derselbe Trick, der im Augenblick in Syrien versucht wird, nicht immer wieder funktioniert?

JC: Gute Frage. Nun, wir tun unser Bestes. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, wie die Medien bei uns funktionieren. In den rund zwölf Monaten vor Beginn der angloamerikanischen Bodenoffensive im Irak Mitte März 2003 hatten wir von der Stop the War Coalition keinerlei Probleme, einen Vertreter oder eine Vertreterin bei Sendungen und Diskussionen der BBC zum bevorstehenden Krieg, ob nun im Radio oder im Fernsehen, zu platzieren. Als dann aber die Schießerei am Persischen Golf am 19. März begann, dauerte es drei bis vier Monate, bis man bei der BBC auch nur eine einzige Meinung eines Mitgliedes der Friedensbewegung zu hören bekam. Im Grunde genommen wurde uns der Zugang zum Äther verwehrt, solange der Krieg gegen die Streitkräfte Saddam Husseins nicht endgültig entschieden war. Man hat uns einfach gesagt, Großbritannien befinde sich im Krieg, in der Öffentlichkeit wolle niemand kritische Gegenstimmen hören.

Dennoch gibt es Kräfte innerhalb der BBC, die um eine ausgewogenere Berichterstattung bemüht sind. Diese Kräfte haben durch die Affäre um den Wissenschaftler und Ex-UN-Waffeninspekteur Dr. David Kelly, der wenige Wochen nach Beginn des Irakkrieges dem damaligen BBC-Reporter Andrew Gilligan gesteckt hat, daß die Begründung der Downing Street für den Einmarsch erstunken und erlogen war, Auftrieb bekommen. Als Kelly im Juli 2003 nach seiner Entlarvung als Quelle Gilligans tot im Wald gefunden wurde, führte das zu einer Regierungskrise, bei der die BBC aus Gründen der Staatsräson den kürzeren ziehen mußte. Die Alternative - Blair hätte als Premierminister zurücktreten und als Kriegsverbrecher angeklagt werden müssen - stand niemals zur Diskussion. Statt dessen mußten der BBC-Vorstandsvorsitzende Gavyn Davies und der BBC-Generaldirektor Greg Dyke ihren Hut nehmen. Von dieser katastrophalen Niederlage hat sich die BBC bis heute nicht erholt.

SB: Herr Corbyn, wir bedanken uns für das Gespräch.

Von der Friedensbewegung am Rheinufer aufgestellte Riesenbuchstaben mit der Botschaft 'Troops out of Afghanistan' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Deutliche Botschaft der Friedensbewegung am 5. Dezember am Bonner Rheinufer
Foto: © 2011 by Schattenblick

15. Dezember 2011