Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/087: Petersberg II - Sohaila Alekozai, Frauenrat Afghanistan (SB)


Interview mit Sohaila Alekozai am 3. Dezember in Bonn


Seit ihrer Flucht vor dem Krieg in Afghanistan vor 27 Jahren kämpft Sohaila Alekozai unermüdlich um eine Verbesserung der Lage für die Menschen in ihrem Heimatland. Die Juristin und Kriegswitwe hat in Aachen den Frauenrat Afghanistan e. V. gegründet und während der Ära der Taliban-Herrschaft geholfen, Untergrundschulen für Mädchen in Kabul zu organisieren. Aus dieser Initiative hat sich später die Organisation Patta Khazana ("Verborgener Schatz") entwickelt, die sich als Center for Education & Empowerment of Afghan Women für die Belange der Frauen im heutigen Afghanistan einsetzt. Ohne Erfolg bewarb sich Alekozai 2005 bei den ersten freien Wahlen zum afghanischen Parlament als unabhängige Kandidatin in einem Kabuler Bezirk. Beim Zivilgesellschaftlichen Forum in der Bonner Beethovenhalle am 3. Dezember fiel Alekozai durch ihre mutige Kritik an den Verstrickungen westlicher Geberländer und Nicht-Regierungsorganisationen in die Korruption in Afghanistan auf, weshalb der Schattenblick sie um ein Interview zur Lage am Hindukusch gebeten hat.

Sohaila Alekozai - © 2011 by Schattenblick

Sohaila Alekozai
© 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Alekozai, wie kam es zu Ihrer Teilnahme am Zivilgesellschaftlichen Forum Afghanistan? Sind Sie als Vertreterin einer bestimmten Gruppe oder Organisation hier?

Sohaila Alekozai: Als Gründungsmitglied vom Frauenrat Afghanistan e. V. in Aachen wurde ich per Brief eingeladen. Also bin ich zum Afghanistan-Forum angereist und habe gestern und heute an verschiedenen Workshops teilgenommen.

SB: Sie stammen selbst aus Afghanistan, leben aber im Exil. Könnten Sie uns erzählen, wie Sie nach Deutschland gekommen sind?

SA: Das ist eine lange Geschichte. Ich bin zwar 51 Jahre alt, habe aber in dieser Zeit genug für mehrere Jahrhunderte erlebt. Ich bin in Kabul als Kind einer Intellektuellenfamilie geboren worden. Mein Vater war Paschtune aus Kandahar und meine Mutter Tadschikin aus Parwan. In Kabul bin ich zur Schule gegangen und habe anschließend an der Universität Jura und Politik studiert. Mein Vater, der selbst Schriftsteller und Journalist war, hat mich in dieser Hinsicht ungemein unterstützt. Mein erstes Kind, einen Sohn, habe ich noch während meiner Schulzeit, kurz nach der Aufnahmeprüfung zur Uni, bekommen. Trotzdem habe ich mein Studium aufnehmen können. Sowohl meine eigene Familie als auch die meines Mannes haben mir dabei sehr geholfen. Ich hatte Glück, denn der Mann, mit dem ich als 17jährige verheiratet wurde, war großartig und etwas besonderes. Er war Bauingenieur, sprach fließend Englisch und war sehr gut zu mir. Das Versprechen, das man mir vor der Hochzeit gegeben hatte, trotz Ehemann und Familie studieren zu können, wurde eingehalten. Noch während des Studiums habe ich mein zweites Kind, eine Tochter, zur Welt gebracht.

SB: Das waren damals unruhige Zeiten an der Universität in Kabul.

SA: Stimmt, sehr unruhige sogar. Sowohl meine Familie als auch die meines Manns waren politisch interessiert und engagiert. Wir standen dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1979 ablehnend gegenüber. In den ersten Jahren der Besatzung habe ich meinen Ehemann verloren. Schon mit 21 Jahren war ich Witwe. Ich mußte die Kinder allein großziehen und uns irgendwie durchbringen. Wegen meines Mannes wurden wir verfolgt und mußten im Untergrund leben. Nach einer Weile habe ich mich entschieden, mit den Kindern aus dem Land zu fliehen. Es dauerte einige Monate, bis wir den Iran endlich erreichten. Danach vergingen weitere Monate, bis wir nach Pakistan gelangten, und ein paar Wochen später waren wir in Deutschland.

SB: War das Mitte der achtziger Jahre?

SA: 1984, um genau zu sein. Nach der Ankunft in Deutschland habe ich für mich und meine Kinder Asyl beantragt und auch erhalten. Als dann fünf Jahre später die letzten sowjetischen Truppen Afghanistan verließen, bin ich mit meinen Kindern freiwillig zurückgegangen. Das Land war nach den Kriegsjahren schwer gezeichnet und ich wollte beim Wiederaufbau helfen.

SB: Was hatten sie bis dahin in Deutschland gemacht?

SA: Ich war im Sozialbereich tätig und habe mich für die Sache der afghanischen Asylanten engagiert. Mein Jurastudium konnte ich in Deutschland nicht fortsetzen. Also habe ich zunächst Deutsch gelernt und danach geholfen, afghanische Kinder hier auf die Schule vorzubereiten. Das Engagement kam unter anderem daher, daß ich in einer aufgeklärten Familie aufgewachsen bin. Mein Vater, obwohl er selbst aus Adelskreisen stammte, hatte zur Königszeit den aristokratischen Strukturen ablehnend gegenüber gestanden. Deswegen wurde er damals ins Gefängnis gesteckt.

SB: Haben sich ihre Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren nach der Rückkehr in Afghanistan erfüllt?

SA: Ganz und gar nicht. Die Lebensverhältnisse verschlechterten sich sogar. Die Mudschaheddin setzten den Kampf gegen die Regierung Mohammed Nadschibullahs in Kabul fort und nach deren Sturz 1992 lieferten sich die einzelnen Fraktionen in den darauffolgenden vier Jahren einen blutigen Bürgerkrieg. Ich denke, daß die ausländische Hilfe Jahre lange Zeit in die falsche Richtung gegangen ist. Während der sowjetischen Besatzung wurden die konservativ-religiösen Kräfte unterstützt, die eher säkularen Intellektuellen dagegen vernachlässigt. Traditionell wird der Islam in Afghanistan nicht so streng ausgelegt und hat mehr den Charakter einer Volksreligion. Der Krieg hat jedoch zu einer Stärkung der religiösen Fundamentalisten und zu einer Schwächung der gebildeten, religiös eher moderaten Schichten in den Städten geführt. Meiner Meinung nach ist der Sieg damals über die Sowjets das Verdienst des einfachen afghanischen Volkes gewesen. Die religiösen Anführer haben sich ihn aber auf die eigene Fahne geschrieben.

Sohaila Alekozai mit Schattenblick-Redakteur - © 2011 by Schattenblick

Sohaila Alekozai mit Schattenblick-Redakteur
© 2011 by Schattenblick
SB: War Nadschibullah noch an der Macht, als Sie nach Afghanistan zurückkehrten?

SA: Ja, aber nach nicht einmal einem Jahr mußte ich wieder fliehen. Ursprünglich hatte ich vor, als Lehrerin zu arbeiten, denn ein gut Teil der Bevölkerung und die allermeisten Frauen in Afghanistan sind Analphabeten. Nachdem ich die gesellschaftliche Situation im Iran, in Pakistan und dann schließlich in Deutschland gesehen und dabei die immensen Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung zu Afghanistan feststellen mußte, habe ich um mein Land geweint. Um dies unter anderem positiv zu verändern, war ich zurückgekommen, mußte dann aber, diesmal über Indien, wieder nach Deutschland zurückkehren.

SB: Sie leben seitdem hier?

SA: Ja. Wir mußten alles hinter uns lassen. Ich habe überlegt, nach Kanada oder in die USA zu gehen, denn als Witwe des Afghanistan-Krieges hätte ich großzügige Staatshilfe erhalten. Doch meine beiden Kinder waren zum Teil in Deutschland aufgewachsen und sprachen Deutsch. Eigentlich war Deutschland für uns zu einer zweiten Heimat geworden. Darum sind wir hierher zurückgekehrt, und ich habe einen erneuten Asylantrag gestellt. Ich mußte wieder bei Null anfangen. Das erlebt man auch nicht jeden Tag.

SB: Von Deutschland aus versuchen Sie seit Jahren Ihren Landsleuten zu helfen.

SA: Stimmt. In meiner Familie und der meines Mannes waren alle politisch engagiert. Er war Mitglied einer Partei, und vermutlich deshalb hat man ihn verschleppt und ermordet. Nach allem, was ich selbst in Afghanistan erlebt hatte und das mich gezeichnet hat, wollte ich unbedingt irgend etwas für meine Landsleute tun, zum Beispiel für die Kriegswitwen in den Flüchtlingslagern, die unter schrecklichen Bedingungen zu überleben und ihre Kinder durchzubringen versuchten. Ich habe mich bei verschiedenen Organisationen engagiert und einige neue sogar gegründet. Dazu zählt der Frauenrat Afghanistan in Aachen. Ich habe bundesweit und in den europäischen Nachbarländern zahlreiche Vorträge gehalten und Spendenaktionen mitorganisiert.

Unter dem Bürgerkrieg, als nach dem sowjetischen Abzug die verschiedenen Ethnien und religiösen Gruppen Afghanistans aufeinander losgingen, haben besonders die Frauen gelitten. Man könnte dies auch als Stammeskrieg bezeichnen. Jedesmal, wenn die eine Seite eine Bluttat beging, hat die andere sich dafür gerächt - vornehmlich an den Frauen der Gegner. Die Frauen wurden vergewaltigt, verstümmelt und/oder ermordet. Ihre Kinder hat man verschleppt, manchmal auch vor ihren Augen getötet. Irgendwann müssen die Menschen in Afghanistan zur Besinnung kommen und über all diese schrecklichen Ereignisse reden.

Wir vom Frauenrat Afghanistan haben damals Erhebungen in den Flüchtlingslagern durchgeführt und anschließend auf die Mißstände dort aufmerksam gemacht. Zwischendurch habe ich in Deutschland Sozialwissenschaften studiert. Thema meiner Diplomarbeit war die Situation der afghanischen Flüchtlingsfrauen in der Euregio Maas-Rhein um Aachen, Lüttich und Maastricht. Mit unseren Veranstaltungen wollten wir den Frauen in Afghanistan, denen es wirklich schlecht ging, eine Stimme geben. Viele junge Frauen wurden in den Bürgerkriegsjahren von den Mudschaheddin und Warlords verschleppt. Niemand war sich seines Lebens oder seines Besitzes sicher. Es herrschte totale Gesetzlosigkeit. Deswegen haben es nicht wenige Menschen begrüßt, als die Taliban, die bis dahin nur eine kleine Gruppe Religionsschüler waren, 1996 aus Pakistan einmarschierten, die Mudschaheddin bis in die nördliche Grenzregion vertrieben und für Ordnung sorgten. Doch die Machtübernahme durch die Taliban war in mehrfacher Hinsicht nicht unproblematisch. Aufgrund der starken finanziellen und militärischen Unterstützung, die sie von Pakistan erhielten, standen sie Islamabad loyal gegenüber, besaßen keine eigenständige Außenpolitik und waren nicht in der Lage, Afghanistan innenpolitisch zu vereinigen. Die Ordnung, die sie herstellten, nützte weniger den einfachen Afghanen als vielmehr den ausländischen wirtschaftlichen Interessen, darunter dem US-Energieunternehmen Unocal, die eine Öl- und Gaspipeline von Zentralasien über Afghanistan und Pakistan bis ans Arabische Meer bauen wollten.

Die Sicherheit, die die Taliban nach Afghanistan brachten, war auf Dauer nicht zu ertragen, denn sie glich der Ruhe eines Friedhofs. Das staatliche Gewaltmonopol ist wichtig, aber es kann kein Selbstzweck sein. Niemand wußte, wie es mit Afghanistan weitergehen sollte. Für die Zukunft des Landes hatten die Taliban kein ernstzunehmendes Konzept. Und dafür mußten die Menschen büßen. Mir ist es egal, ob jemand Krawatte, Turban oder Pakul-Mütze trägt. Ich messe ihn daran, was er tut, und nicht daran, was er sagt. Was die Taliban mit dem eigenen Volk machten, wie sie ihre Regeln durchsetzten und Verstöße bestraften, war unerträglich und unverzeihlich. Ihr Regierungssystem war menschenfeindlich und damit von vornherein zum Scheitern verurteilt.

In der Sowjetunion war vorher das gleiche geschehen. Sie nannte sich kommunistisch, verhielt sich aber sozialimperialistisch. Angeblich wollten die Sowjets den Menschen in Afghanistan helfen, hatten aber in erster Linie die eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen im Blick. All diese Regierungen oder Regime in Afghanistan, sei es unter der Sowjetbesatzung, den Mudschaheddin, den Warlords oder den Taliban, haben nichts für das einfache Volk getan und waren vor allem ausländischen Mächten verpflichtet. Dieser Umstand sollte der internationalen Gemeinschaft und den heutigen Verbündeten Afghanistans zu denken geben.

Jedenfalls haben die Taliban nach der Machtübernahme die ganzen Mädchenschulen geschlossen. Was glauben Sie, wie mich die Nachricht darüber getroffen hat? Ich bin fast zusammengebrochen. Meine erste Reaktion war, daß man etwas dagegen unternehmen müsse, damit die Mädchen wieder zur Schule gehen können. Daher habe ich Kontakt mit einigen früheren Lehrerinnen von mir sowie den Angehörigen meiner Familie als auch der meines Mannes in Kabul aufgenommen und mich nach der Lage in der Hauptstadt erkundigt. Sie sagten mir, daß sie alle zu Hause bleiben mußten und ihren Beruf nicht mehr ausüben durften. Also habe ich elf Lehrerinnen und eine Schuldirektorin dazu überredet, in Kabul eine Art Untergrundschule zu betreiben, an der 700 Mädchen Unterricht bekamen.

SB: Während der Taliban-Herrschaft?

SA: Ja.

SB: Aber damit setzten sowohl die Lehrerinnen als auch die Schülerinnen ihr Leben aufs Spiel.

SA: So ist es. Wir nannten die Initiative deshalb Patta Khazana ("Verborgenen Schatz"). Während der Zeit der Warlords und noch mehr während der Taliban-Herrschaft sind nur wenige Menschen nach Afghanistan gereist. Ich bin aber jedes Jahr - natürlich ohne meine Kinder - nach Kabul und anderswohin gefahren, um Freunde zu besuchen und mich über die Lage in Afghanistan zu informieren. Und das, obwohl ich als anerkannter politischer Flüchtling nicht die Erlaubnis hatte, in meine alte Heimat zu fahren, und aus Sicht der herrschenden Machthaber illegal einreisen mußte. Ich flog entweder nach Pakistan oder in den Iran und bin dann über den Landweg nach Afghanistan gefahren. Nach der Machtergreifung der Taliban habe ich bei der Einreise eine Burkha übergezogen und bin so verkleidet nach Kabul gelangt, um unsere Untergrundschule zu gründen.

Als ich nach Deutschland zurückkam, habe ich mit afghanischen und deutschen Freunden eine große Abendveranstaltung mit Musik und Köstlichkeiten aus Afghanistan organisiert. So konnten wir 2000 Mark an Spenden eintreiben, was ein wichtiger erster Schritt zur Finanzierung unserer Schule war. Den Lehrerinnen haben wir damals 30 bis 40 Mark im Monat gezahlt. Aber selbst mit diesem kleinen Betrag haben sie Schuhe für die Kinder, die keine hatten, gekauft und ähnliche Sachen gemacht. An zehn Orten in Kabul - in Garagen, Kellern, Küchen oder Hinterhöfen - wurde vormittags und nachmittags Unterricht für 700 Mädchen angeboten. Die Kinder haben ihre Bücher und ihr Schreibmaterial in Töpfen, in denen man traditionell Brot vom Bäcker holt, transportiert und und sie damit vor den Taliban versteckt.

Zur gleichen Zeit habe ich in Deutschland alles getan, was ich tun konnte, um den Blick der Öffentlichkeit auf die Lage der Mädchen und Frauen in Afghanistan zu lenken. Ungeachtet der Schwierigkeit, daß ich nebenbei studieren und arbeiten mußte und eine alleinerziehende Mutter war, habe ich zahlreiche Artikel für afghanische Zeitungen verfaßt, Vorträge gehalten und Interviews in deutschen Medien gegeben. Manchmal mache ich mir Vorwürfe, daß ich meine eigene Kinder darüber vielleicht vernachlässigt habe, aber ich konnte nicht anders. Afghanistan war und ist bis heute mein Herzanliegen. Meine Kinder, die heute erwachsen sind, haben dafür immer Verständnis gehabt - Gott sei dank.

SB: Als die Amerikaner und ihre NATO-Verbündeten Ende 2001 einmarschierten und die Taliban stürzten, haben Sie da eine Verbesserung der Lage in Afghanistan erwartet? Falls ja, sind Ihre Erwartungen in Erfüllung gegangen?

Sohaila Alekozai - © 2011 by Schattenblick

Sohaila Alekozai
© 2011 by Schattenblick
SA: Für mich steht außer Zweifel, daß die Taliban weg mußten, aber nicht auf die Art und Weise, wie man es getan hat und noch heute fortsetzt. Man hat sie gegen Politiker ausgetauscht, die sich zwar als Pragmatiker ausgeben, aber in allererster Linie Opportunisten sind. Die Verhältnisse, die sie Ende 2001, Anfang 2002 in Afghanistan eingeführt haben, tragen die Handschrift von George W. Bush. Dessen Politik war eine Schande nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt. Das wissen alle, aber die wenigsten nennen es beim Namen. Schon damals habe ich mich ganz klar dagegen ausgesprochen. Als die Bilder der massiven US-Luftbombardements auf mutmaßliche Taliban-Stellungen hier im Fernsehen ausgestrahlt wurden, habe ich die Einschläge in jeder Körperzelle gespürt. Ich habe die Bombardierungen der Sowjets erlebt. Ich weiß, was das in dem Moment bedeutet. Es spielt keine Rolle, ob man im Namen des Kommunismus oder des Kapitalismus zu solchen grausamen Mitteln greift, die Wirkung bleibt stets dieselbe. Wie immer sind viele Zivilisten getötet und verletzt worden. Angesichts dessen habe ich einen Zusammenbruch erlitten. Zu wissen, was da passiert, war mehr als ich ertragen konnte. Daraufhin habe ich schwarze Trauerkleidung angelegt und vierzig Tage lang - wie es bei uns Brauch ist - getragen, auch bei der Arbeit. Freunde und Kollegen fragten mich, ob jemand in meiner Familie gestorben sei, worauf ich antwortete: "Nein, Afghanistan trauert. Afghanistan wird bombardiert. Afghanische Kinder werden bombardiert."

Ich weiß noch, wie ich Donald Rumsfeld im Fernsehen sah, wie er selbstzufrieden lächelte, als er die Fragen der Journalisten über den Zweck der Bombardements beantwortete. Ich mußte in dem Moment an die zahlreichen Kinder denken, die infolge der Luftangriffe ums Leben kamen, und habe mir selbst den Tod gewünscht. Die ganze Welt hat diese Bilder damals gesehen. Warum haben sie nur bei mir und einigen anderen solches Entsetzen ausgelöst? Möglicherweise haben viele Menschen das gleiche wie ich empfunden und dennoch nicht gegen diese Grausamkeit protestiert. Warum ist das so? Ich denke, die Menschen werden immer bequemer, und das verheißt unserer Zukunft auf diesem Planeten nichts Gutes.

Damals war ich sogar im deutschen Fernsehen. Die Moderatoren wollten wissen, warum ich Trauerkleidung trug. Als ich auf die zivilen Opfer der NATO-Luftangriffe in Afghanistan hinwies, wurden mir die 3000 Ermordeten der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington vorgehalten. Darauf habe ich geantwortet, daß die Anschläge gegen das World Trade Center für mich ganz klar Terrorismus sind, wer auch immer dahintersteckte. Ich erklärte, daß die Luftangriffe in Afghanistan für mich im gleichen Maße Terrorismus - in diesem Fall "legaler" Terrorismus - sind.

SB: Wie können Sie diese beiden Positionen - auf der einen Seite die NATO des Terrorismus in Afghanistan bezichtigen und auf der anderen an diesem von der Bundesregierung mitorganisierten zivilgesellschaftlichen Forum teilnehmen - miteinander vereinbaren?

SA: Nun ja, Afghanistan ist dringend auf Unterstützung, auch militärischer Art, angewiesen - aber nicht auf Luftbombardements. Wissen Sie, wie es momentan in Afghanistan aussieht? Das Land ist nach dreißig Jahren Krieg in jeder Hinsicht am Ende. Die Menschen sind am Boden zerstört. Es sind fast nur noch die Nachbarländer und ausländischen Mächte, die bestimmen, was in Afghanistan passiert.

SB: Sie selbst haben heute auf dem Forum mit Ihrer Bemerkung bezüglich der "mafiosen Strukturen" die ausländischen Hilfsorganisationen, die in Afghanistan aktiv sind, dafür kritisiert, daß sie vor allem die eigenen Interessen und weniger die der einfachen Afghanen verfolgen.

SA: Darum müssen wir offen über all diese Dinge - auch über die Ziele der Geberländer und der von ihnen finanzierten Projekte - reden. Natürlich sind wir Afghanen für die geleistete Hilfe dankbar. Aber vieles davon verschwindet in dunklen Kanälen und treibt die Korruption an. Hätten wir diese korrupten Strukturen nicht, so wären mit den bisher gespendeten Geldern hundertfach bessere Ergebnisse zu erzielen gewesen. Speziell zu diesem Thema habe ich bei den verschiedenen Workshops an beiden Tagen des Forums wichtige Fragen gestellt. Sie wurden aber nicht angemessen beantwortet.

SB: Auch Ihre Kritik an den "mafiosen Strukturen" bei den Hilfsorganisationen in Afghanistan ist nicht so richtig aufgegriffen worden.

SA: Stimmt. Die Podiumsteilnehmer fühlten sich persönlich angegriffen und wollten nichts mit mir zu tun haben. Daher habe ich eine Antwort auf Kindergartenniveau erhalten. Es ist wahr, ich bin unbequem und scheue mich nicht, bestimmte Sachen anzusprechen. Aus diesem Grund würde man mich am liebsten ignorieren.

Es sind in den letzten zehn Jahren schwere Fehler gemacht worden. Die Taliban mußten weg, soviel ist klar. Aber wenn man die eine Gruppe Kriegsverbrecher einfach gegen eine andere austauscht, ist das Ergebnis vorprogrammiert. Gestern habe ich die Korruption in der Regierung und den Behörden, heute die in den NGOs kritisiert. In Afghanistan ist die Korruption das größte Problem überhaupt. Sie ist wie eine Seuche, die sich über das ganze Land bewegt und es lahmlegt. Ich hätte mir seitens der ausländischen Geldgeber, darunter auch von Deutschland, mehr Druck in dieser Frage gewünscht. Der ist trotz aller hehren Worte bis heute leider ausgeblieben.

Nach dem Sturz der Taliban kamen Leute an die Macht, die zwar bewaffnet und mächtig waren, aber keinerlei Ahnung hatten, wie man ein Land wiederaufbaut oder eine funktionierende Staatsverwaltung auf die Beine stellt. Diese Leute haben sich alles unter den Nagel gerissen - Verwaltungsposten, Grundstücke, Geschäftsmonopole, Aufträge von der Regierung, Minen, Schurfrechte et cetera. Die internationalen Geldgeber und die NATO wissen von diesen Umtrieben, aber weil diese Leute zugleich die Verbündeten im Kampf gegen die Taliban sind, kann gegen sie nichts unternommen werden. Das ist das Dilemma, in dem Afghanistan steckt und aus dem kein baldiges Herauskommen in Sicht ist.

SB: Frau Alekozai, danke sehr für das Gespräch.

12. Dezember 2011

Zwei Friedensaktivisten plus Transparent mit der Botschaft 'Den Krieg in Afghanistan beenden - Zivil helfen!' - © 2011 by Schattenblick

Teilnehmer der Mahnwache vor der großen Afghanistan-Konferenz am
3. Dezember im ehemaligen Bundestag in Bonn
© 2011 by Schattenblick