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INTERVIEW/067: Hartmut Ring, Partei Die Linke Hamburg, zum Begriff des Kommunismus (SB)


Interview am 8. Januar 2011 in der Louise-Schröder-Schule Hamburg-Altona

Auf dem Wahlparteitag der Partei Die Linke in Hamburg bezog die Parteivorsitzende Gesine Lötzsch Stellung zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen, die sich an ihrem in der jungen Welt veröffentlichten Artikel "Wege zum Kommunismus" und ihrer Teilnahme an der gleichen Tags stattfindenden Rosa Luxemburg Konferenz entzündet hatten. In den nach ihrer Rede gehaltenen Einlassungen stellte Hartmut Ring von der Hamburger Linkspartei den Begriff des Kommunismus in eine menschheitsgeschichtliche Perspektive, die seine pauschale Diffamierung um so mehr als Mittel interessengebundener Demagogie erkennen ließ. In einem Gespräch mit dem Schattenblick erläuterte er die historischen Hintergründe, wissenschaftlichen Implikationen und gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Sicht auf diesen aus leicht ersichtlichen Gründen stigmatisierten Begriff.

Hartmut Ring - © 2011 by Schattenblick

Hartmut Ring
© 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Ring, könnten Sie bitte unseren Lesern berichten, welche Position Sie innerhalb der Linkspartei bekleiden?

Hartmut Ring: Ich gehöre dem Landesvorstand der Linken an. In der AG Frieden und Abrüstung und in der AG Internationale Politik sowie in der Programmkommission als auch im Bundesausschuß bin ich ebenfalls Mitglied.

SB: Die derzeitige Debatte um den Begriff Kommunismus wird ausschließlich negativ apostrophiert. Der Kommunismus wird mit dem Niedergang der realsozialistischen Staaten gleichgesetzt und darüber vollständig diskreditiert. Was halten Sie dem entgegen?

HR: Es ist natürlich klar, daß man auf diesen Teil der jüngeren Geschichte blickt, aber ich denke, der Blick ist getrübt beziehungsweise verengt durch die politischen Vorgaben, die die Pressevertreter von oben bekommen. Vorgabe heißt, daß sie diesen Begriff diskreditieren müssen, weil er gerade jungen Menschen interessant erscheint, die nicht von dieser Kalter-Krieg-Erfahrung geprägt sind. Als Lehrer begegnet mir das häufiger. Ich unterrichte sowohl in der Sekundarstufe 1 als auch in der Sekundarstufe 2 und treffe damit auf ein breites Altersspektrum von Jugendlichen - die einen sind gerade elf geworden und die anderen sind schon 18 oder 19. So bekomme ich einen guten Überblick darüber, was zur Zeit in den Köpfen los ist. Viele finden diese Idee faszinierend, weil sie eine Alternative zu ihrer jetzigen Umwelt und Lebensweise darstellt. Im Vergleich zu dem, was sie kennen, ist es neu und anders und verspricht besser zu sein, weil die Reichtümer dieser Welt auch anders verteilt werden könnten. Das finden sie zunächst einmal spannend, unabhängig davon, ob sie jetzt theoretisch vorgebildet sind oder nicht, vor allem wenn man sie dann mit diesen Ideen näher konfrontiert und das auch noch durch wissenschaftliche Argumente stützt.

Ich betrachte den Begriff des Kommunismus nicht als polemischen Kampfruf, sondern als wissenschaftlich gestützten ideologischen Begriff. Deswegen habe ich mich in meiner Einlassung auch darauf bezogen. Die Paläontologen und Anthropologen sind sich in der Frage, was die Entstehung kommunistischer Lebensweise in der Menschheitsgeschichte betrifft, völlig einig. Es findet sich kein Widerspruch in allem, was wir bisher an Forschungsergebnissen besitzen. Die Entstehung dieser Lebensweise ist auch verfilmt worden, sehr schön sogar, wie ich finde. Der Film ist auf Arte gesendet worden und heißt "Eiswelt". Da wird die Lebensweise der Urgesellschaft, die sich zu 90 Prozent der Menschheitsgeschichte in einer Gesellschaftsformation vollzog, die wir Kommunismus nennen, mit der Gegenwart verglichen. Zur Frage, warum sich das geändert hat, gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen. Das hängt damit zusammen, unter welchen Bedingungen, wie etwa das Wachstum der Population, sich die Gesellschaft veränderte.

SB: Verstehen Sie unter der historischen Betrachtung des Kommunismus eine egalitäre Organisation der sozialen Beziehungen oder der Verteilungsverhältnisse?

HR: Viele denken, daß es so eine Art Gleichmacherei wäre, aber das ist nicht meine Meinung. Auch in der Urgesellschaft gab es beispielsweise eine Arbeitsteilung, die jedoch nicht zu einer Hierarchisierung führte. Es war z.B. nicht so, daß nur die Männer jagten und die Frauen das Erlegte dann verteilten. Heute weiß man, daß die Frauen mitgejagt haben und wahrscheinlich sogar geschickter als ihre männlichen Genossen waren. Ungeachtet der unterschiedlichen Arbeitsteilung gab es jedoch keine Hierarchisierung oder Ungleichheit. Kinder wurden in der Regel von den Großeltern erzogen und nicht von den Eltern. Das findet sich noch heute in einzelnen gesellschaftlichen Formationen in Afrika. Das lief darauf hinaus, daß jeder in der Gesellschaft seinen Platz hatte, der sich je nach Fähigkeitsentwicklung, je nach Talent oder Notwendigkeit verändern konnte, und es wurde demokratisch im Sinne eines Mehrheitsentschlusses entschieden.

Ich habe neulich einen interessanten Filmbeitrag über ein Volk von ungefähr 30 Mitgliedern einer kleinen Sippe in Zentralafrika gesehen, die noch heute in einer Jäger-und-Sammler-Formation leben. Man hat sie eine Zeitlang filmisch begleitet. Obwohl ihre Lebensweise ausgesprochen arbeitsteilig ist - die Männer jagen zum Beispiel und die Frauen graben die Wurzeln aus -, werden Entscheidungen über die Dinge, die es zu regeln gibt, ohne den Mann-Frau-Gegensatz gemeinsam getroffen. Mit der Entstehung des Patriarchats hat sich die menschliche Gesellschaft stark verändert. Das ist mein Ansatzpunkt. Das Patriarchat ist eine Verheerung der kommunistischen Idee gewesen. Ich habe den Aufschwung des Feminismus in den 70er und 80er Jahren, der das Patriarchat zum alleinigen Angelpunkt genommen hat, mitbekommen. Aber ich denke, daß ist zu kurz gegriffen. Das Patriarchat ist schon bedeutsam, aber man muß dann untersuchen, welche Bedingungen es hervorgebracht hat. Wenn man das genauer prüft, kommt man auch zu differenzierten Erkenntnissen. Angesichts des technischen und intellektuellen Standards, den wir heute erreicht haben, und der Erkenntnisse über Welt, Umwelt, Kosmos und so weiter, wäre meiner Meinung nach die Idee des Kommunismus eher auf der Tagesordnung, als daß man sagen könnte "vielleicht in hundert Jahren". Daß dem nicht so ist, hängt damit zusammen, daß diese Idee sehr lange Zeit diffamiert und natürlich auch mißbraucht wurde. Das geht aber dem Christentum nicht anders, nur daß da die Dimensionen etwas größer sind.

SB: Allgemein wird die Ansicht vertreten, daß die zivilisatorische Entwicklung auch eine optimierte Form der Gewaltregulation mit sich gebracht hat. Wie würden Sie das für frühgeschichtliche Gesellschaften beurteilen?

HR: Vor allen Dingen in Europa - in Afrika ist es nicht so gewesen - hat es mit dem Ausbruch der letzten Eiszeit vor etwa 24.000 Jahren zwei gesellschaftliche Modelle gegeben. Das eine Modell war das einer kleinen Sippe mit maximal zwölf bis fünfzehn Leuten. Viele haben die Herausforderungen durch die Eiszeit dadurch gelöst, daß sie das Jagdterritorium verteidigten, in dem die Jagdbeute aufgrund der Kälte geringer wurde. Es mußten sich weniger Menschen die Jagdbeute teilen. Man muß sich das so vorstellen, daß zwar ein Mensch auf 100 Quadratkilometer kam, aber die Beute wurde trotzdem dramatisch geringer. Das ist heute gar nicht mehr vorstellbar. Es muß schon ziemlich einsam gewesen sein. Trotzdem waren die Sippen gezwungen, nach Süden zu wandern, unterzugehen oder eine neue Gesellschaftsformation auszuprobieren. Im Norden wurde es unwirtlich, und im Süden kam es dann zu häufigeren Begegnungen von Clans, die sich gegenseitig ihre Jagdgebiete streitig machten. Da ist das Thema Gewalt angelegt.

Die Alternative dazu bestand in einem seßhaften Stamm mit ungefähr zwei- bis dreihundert Mitgliedern. Der erste, von dem wir in Europa wissen, wurde im heutigen Tschechien durch Funde bestätigt. Sie hatten eine andere gesellschaftliche Lösung für das Problem der Eiszeit gefunden. Auch für diese Menschen war die Eiszeit kalt und unwirtlich, aber sie haben das dadurch gelöst, daß sie Fremde, die zu ihnen stießen, nicht als Bedrohung betrachteten, wie es die meisten der damals existierenden Clans getan haben, sondern als eine Möglichkeit der Bereicherung und des Überlebens. Dieses Thema ist ja sehr aktuell. Dieses Modell bietet meiner Meinung nach die Antwort auf die Frage, ob heute noch ein Kommunismus möglich wäre. Das war eine sehr differenzierte Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit ausgefeilter Arbeitsteilung, inklusive Erziehung, Vorratshaltung und Zukunftsplanung. Was sie an Erkenntnissen besaßen, wurde ständig ausgeweitet. Aufgrund dessen entwickelten sie eine sehr produktive Form des Zusammenlebens. Bei uns wird diese produktive Form allerdings im wesentlichen negativ geleitet. Wenn man Ideenreichtum und Gedanken, die das Zusammenleben vielleicht verbessern könnten, dem Profitdenken unterwirft, dann nimmt die Entwicklung eine negative Kurve an und wird zur Zerstörung benutzt. Das ist in der kommunistischen Idee ausgeschlossen.

SB: Die moderne Idee des Kommunismus wird mit dem Beginn des Kapitalismus, der Arbeitsteilung und der Ausbildung des Klassenantagonismus assoziiert. Wie würden Sie die Verwirklichung des Kommunismus heute im Verhältnis zur marxistischen Sicht beurteilen?

HR: Die Sicht von Marx und Engels kann in Hinsicht auf diese Frage nur darauf basieren, was sie damals an historischen Erkenntnissen hatten. Die sind bemerkenswert zutreffend. Das eine oder andere hat man heute korrigiert, aber die allgemeine Datierung des Beginns der Geschichte der Klassenverhältnisse hat ja im wesentlichen bis heute Bestand. Die Vorstellung, die sie davon hatten, trifft, unterstützt durch heutige historische Erkenntnisse, nach wie vor zu. Insofern ist das, was sie damals an Ideen entwickelt haben, erstaunlich aktuell. Sicherlich nicht in den einzelnen Perspektiven, aber sie haben ja auch betont, das sei nur eine Idee, wie man es in Zukunft machen könnte. Sie haben ja nicht gesagt, so wird es sein. Es wird immer unterstellt, sie hätten eine konkrete Voraussage getroffen, wie es laufen müßte. Das ist ja Unsinn. Wenn man die Texte genau liest, was die meisten nicht machen und daher zu falschen Schlußfolgerungen gelangen, ist das leicht zu erkennen.

Die Frage ist, was hat sich heute verändert? Ich glaube, heute ist der Kapitalismus viel gefährlicher geworden als zu Zeiten von Marx und Engels, weil alles viel vernetzter ist. Alle Entscheidungen gehen nahezu in Echtzeit um den Globus. Ganz schnelle Entscheidungen werden mit verheerenden Folgen getroffen, so daß wir inzwischen Getriebene dieser Entscheidungen sind. Insofern müßten wir versuchen, eine Entschleunigung der Entscheidungsprozesse durchzusetzen. Das gilt für die Gentechnik über die Nanotechnik und was weiß ich. Viele Entscheidungen werden aus dem Bauch heraus getroffen und keiner kann die Folgen abschätzen. Der erste Schritt wäre also die Entschleunigung solcher Prozesse und die Öffnung einer gesellschaftlichen Debatte in Verbindung mit Aufklärung über die Zusammenhänge. Als Lehrer versuche ich meinen Schülern immer zu vermitteln, neugierig zu sein und Zusammenhänge zu ergründen, immer zu fragen, wem nützt das im Sinne der alten römischen Frage "cui bono". Diese Fragestellung ist ein erster Hinweis darauf, ob etwas schief läuft oder nicht. Hat man das herausgefunden, dann eröffnet sich eine gesellschaftliche Debatte, wie sie jetzt zum Beispiel in Lateinamerika geführt wird, die zu ganz anderen Konsequenzen führt. Auch innerhalb des kapitalistischen Systems gibt es bereits erste Ansätze dazu - ich nenne nur das Stichwort der solidarischen Ökonomie für Europa -, die in diese Richtung weisen.

Wie das dann ausgehen wird, kann keiner vorhersagen. Niemand weiß, wie jene, die den Verlust ihrer Herrschaft fürchten, reagieren werden, falls so etwas kommen sollte. Wenn man den Blick auf die Vergangenheit richtet, dann sieht das alles andere als gut aus. Welche Repressionsmittel sie dann einsetzen werden, hängt wahrscheinlich davon ab, wie sehr sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis bereits zu ihren Ungunsten verändert hat. Ich bin Pazifist und denke, daß es friedlich geschehen muß, aber leider wird uns diese Frage nicht zur Entscheidung vorgelegt, sondern wir werden sozusagen gezwungen, auf Gewalt zu reagieren. Ich habe trotzdem keine andere Perspektive als eine pazifistische und friedliche, auch wenn ich weiß, daß es ganz viele Menschenleben kosten wird und heute ja schon kostet.

SB: Erhalten Sie negative Reaktionen von den Eltern der Schüler oder können Sie derartige Fragen im Unterricht ungehindert verfolgen?

HR: Das ist kein Problem. Die Kinder sind offen und neugierig. Ich vermittle ihnen ja nicht meine Vorstellungen, sondern geschichtliche und historische Fakten, so wie sie heute aufbereitet werden. Die filmischen Materialien dazu kommen in den öffentlichen Medien zwar zur späten Stunde, aber ich schneide sie dann mit oder benutze auch eigene Quellen. Natürlich kann ich in der fünften Klasse nicht das Kommunistische Manifest durchnehmen. Inhaltlich ginge das schon, aber nicht vom Text her. Aber die Idee des Kommunismus ist bei jungen Leuten durchaus virulent. Da würden sich manche Presseleute wundern, wie die von selbst auf diese Idee kommen. Im Prinzip ist soziales Lernen ein Nukleus von vielen Elementen des Kommunismus, also daß wir uns gegenseitig helfen, daß wir nicht auf Kosten anderer etwas machen, daß wir Entscheidungen demokratisch fällen, daß fachliches Wissen dazugehört, daß Anstrengung dazugehört, daß nicht alles umsonst ist usw. Ganz viele dieser Ideen, die im Kommunismus der Urgesellschaft wie auch bei den Urchristen selbstverständlich waren, haben junge Leute im Kopf, aber sie sind zum Teil verbogen durch ihre häuslichen oder Umwelterfahrungen.

So berührt dieser Dioxinskandal Fünftklässler enorm. Die kommen zu mir und fragen, wie das sein kann, oder sagen von sich aus "ich bin jetzt Vegetarier geworden", weil sie wissen, daß ich einer bin. Als ich ihnen das früher erzählt hatte, sagten sie "nein, wir finden Fleisch gut". Darauf habe ich gesagt "Das kannst du ja auch gut finden". Dann habe ich ihnen einmal einen Film über Lebensmittelherstellung gezeigt, in dem es auch um Massentierhaltung ging. Der Film "Unser täglich Brot" von Nikolaus Geyrhalter ist völlig ohne Kommentar. Die Kinder werden durch diesen Film zu Fragen veranlaßt. Wir haben drei Stunden lang über den Film diskutiert, obwohl ich das gar nicht vorgehabt hatte. Nach drei, vier Wochen, während der Dioxinskandal ans Licht kam, traten gestern fünf Schüler auf mich zu und sagten "wir essen jetzt auch kein Fleisch mehr".

Es dauert manchmal etwas, bis Ideen im Kopf verarbeitet werden. Hin und wieder fördern auch Umwelt und Realität diese Ideen zutage. Das meine ich mit der Wirkung von Bedingungen. Darauf bezog ich mich auch in meiner Einlassung auf dem heutigen Parteitag. Im Augenblick sind die Bedingungen wieder so wie vor einem, anderthalb Jahren in der Krise. Das kommt immer wieder hoch, und ich glaube, die Abstände werden kürzer. Darin steckt eine große Chance, diese Idee nicht nur zu propagieren, sondern sich einfach einmal damit auseinanderzusetzen. Ich will ja nicht, daß die Leute das glauben. Ich bin Theologe, aber eben nicht mehr Christ. Ich habe das ganze Studium absolviert, aber ich weiß, daß es immer einen Anstoß braucht, der nicht durch Missionierung erfolgen kann. Das ist eine falsche Form, die vielleicht auch in der sozialistischen Bewegung völlig falsch verstanden wurde. Die haben die gleichen Überzeugungsformen benutzt wie das Christentum vor ihnen und z.T. auch heute noch. Diese Form der Missionierung lehne ich entschieden ab. Die Leute müssen schon selbst zu Erkenntnissen kommen. Man kann ihnen die Dinge darbieten, man kann vielleicht das eine oder andere auch einmal so zusammenstellen, daß man mehr erkennen kann und nicht nur ganz kleine Ausschnitte aus der Realität sieht. Alles andere kommt dann fast von ganz alleine, denke ich, und dann kommen sie auch in die Diskussion. Das ist schließlich der Sinn der Sache.

SB: Was kritisieren Sie am Christentum, wenn Sie kein Christ mehr sind, auch in Bezug auf diese Frage?

HR: Einerseits bin ich natürlich ein Anhänger von Karlheinz Deschner. Ich habe alle seine Bücher gelesen. Das Schwierige an seinen Büchern ist, daß man sie schlecht im Unterricht verarbeiten kann, weil sie so narrativ sind. Er erzählt viel, aber die Fakten werden immer nur eingestreut. Seine Kritik teile ich natürlich, weil sie wissenschaftlich fundiert ist. Als das Urchristentum zur Konfession mutierte und später als römische Herrschafts- und Staatsideologie übernommen wurde, war es mit dem Urchristentum vorbei. Dann beginnt das Ganze im negativen Sinne als Ideologie zu wirken. Ideologie ist für mich eigentlich ein wertneutraler Begriff. Aber als Herrschaftsideologie wurde sie auf brutalste Weise durchgesetzt. Es ging dann immer so weiter. Die Aufspaltung in die einzelnen katholischen Kirchen, in die byzantinische und so weiter, kam relativ schnell. Dann waren es Konfessionen, so daß man eigentlich nicht mehr von Christentum sprechen konnte. Man kann im Grunde nur noch sagen, ich bekenne mich zur Kirche in dieser oder jener Konfession.

Ich kenne alle Veröffentlichungen von Ernesto Cardenal und habe ihn in auf unserem Parteitag in Rostock persönlich erlebt. Von seinen Gedanken bin ich sehr angetan. Er hat die sandinistische Partei Nicaraguas verlassen. Warum hat er das gemacht? Weil sie sich von ihren ursprünglichen Zielen entfernt hat. Er war Kulturminister und hat als Priester Redeverbot vom Papst bekommen. Cardenal ist ein Anhänger der Kommunistischen Idee. Als Begründung für seinen Ausstieg hat er angegeben, daß diese Idee, also auch die sandinistische, verraten wurde. Das ist mit dem Christentum ganz ähnlich passiert. Diese Idee ist verraten worden, weil sie als Herrschaftsinstrument benutzt werden sollte. Ideen kann man natürlich als Herrschaftsinstrumente mißbrauchen. Das ist ja auch in der sozialistischen Geschichte deutlich geworden. Man kann ihnen das zum Vorwurf machen, aber wenn man sich in die Zeit zurückversetzt, muß man auch begreifen, daß sie viele Dinge aus ihrer Umwelt einfach übernommen haben wie die Form der Missionierung, wie daß man Menschen zu überzeugen habe und so weiter. Da waren sicherlich ein paar andere dazwischen wie Marx und Engels und auch der Dichter Heinrich Heine, der sich am Ende seines Lebens differenziert zur Idee des Kommunismus geäußert hat, die auf andere Art und Weise probiert haben, diese Idee unter die Menschen zu bringen. Das hinderte die Leute aber nicht daran, es trotzdem eng zu führen. Das ist eben das Traurige. Darüber kann man zetern, aber das ist so passiert.

Hartmut Ring - © 2011 by Schattenblick

Engagierte Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen
© 2011 by Schattenblick

SB: Meinen Sie nicht, daß der Mißbrauch als Herrschaftsinstrument ein spezifischer Wesenszug der monotheistischen Religionen ist?

HR: Wir wissen inzwischen schon sehr viel über die religiösen Vorstellungen in der Urgesellschaft am Ende der Eiszeit. Durch die Höhlenmalereien kann man viel herausfinden. Das ist eine ganzheitliche Sicht gewesen, in der es keinen Monotheismus in diesem Sinne gegeben hat. Es gab schon den Glauben an eine Urkraft, aber das war nicht personifiziert, sondern eher mit Naturerscheinungen und -ereignissen verbunden. Daß sich das personifiziert hat, ist natürlich eine Folge der Entstehung der jüdischen Religion, die diesen Monotheismus praktiziert hat, aus dem das Christentum hervorgegangen ist. Nomadische Religionen, wie sie sich letztlich im Judentum durchgesetzt hat, hatten aus pragmatischen Gründen nur eine geringe Götterzahl. Mit einem kommt man am besten zurecht, wenn man unterwegs ist. Dadurch ist das entstanden. Das ist, glaube ich, noch nicht einmal die Frage, ob man damit Herrschaft ausüben will, sondern eine rein pragmatische Geschichte. Wenn man zwanzig Götter mit sich herumschleppt, ist es eben umständlich.

Die Stämme, die später die Israeliten gebildet haben, sind eben nicht die, die im Alten Testament stehen. Das ist eine nachträglich veränderte Tradition. Wenn man weiter forscht, dann erkennt man, daß die nomadischen Stämme, die Palästina nicht unbedingt eroberten, sondern vor allen Dingen dominierten, spätestens mit König David und der Zentralisation eines Heiligtums in Jerusalem den Monotheismus durchgesetzt haben. Bis dahin existierten noch verschiedene Tempel, die zwar einen höchsten Gott hatten, aber die anderen Göttern, die mehr oder weniger gleichberechtigt waren, vielleicht eine gewisse Hierarchie aufwiesen, standen noch daneben. Jedenfalls konnte man sich an alle Götter wenden. Es gibt ein schönes Beispiel dafür, an dem man das deutlich erkennen kann. Im Psalm 82 wird das wunderbar geschildert. Der muß in einer Zeit entstanden sein, als der Monotheismus sich gerade durchzusetzen begann. In dem Psalm wird deutlich, daß es noch andere Götter gibt, die auch als Götter betrachtet werden. Aber da gibt es einen, der hält Gericht, und das ist der Gott der Juden. Darüber gibt es noch einen anderen, der nicht genannt ist. In diesem Psalm spiegelt sich ein gesellschaftlicher Wandel wider, der nicht plötzlich, sondern Stück für Stück geschehen ist. Die Umstände haben sich verändert. Wenn man diesen Wandel in allen Einzelheiten nachvollziehen wollte, wird es natürlich kompliziert, weil wir nur noch den Widerschein alter Quellen haben.

Wenn man verfolgt, wie das gekommen ist, hängt es nicht nur am Monotheismus, sondern an der Chance, die man mit dem Monotheismus verbunden hat, nämlich Herrschaft auszuüben. Das ist, glaube ich, der eigentliche Punkt. Wenn man so eine Chance wittert und andere Menschen beherrschen möchte, dann greift man zu der Möglichkeit, die einem am nächsten steht. Der Monotheismus war eine solche Möglichkeit. Ich glaube unterdessen nicht, daß der Monotheismus das aus sich selbst hervorgebracht hat, sondern das es bereits das Ergebnis gesellschaftlichen Wandels war, so wie Religion überhaupt ein Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse ist und nicht umgekehrt.

SB: Wie beurteilen Sie auch in Hinblick auf die Idee des Kommunismus den Krieg der Kulturen, der derzeit das bestimmende Paradigma der Weltpolitik zu sein scheint, daß also Menschen mit religiösen Ideen plötzlich gegeneinander aufgebracht werden?

HR: Das ist so ähnlich wie die Situation, als es mit dem Urchristentum zu Ende ging. Es gibt schon genügend politische Kräfte, die sich danach umschauen, welche ideologischen Vorstellungen oder Gedanken sich für die eigenen Zwecke mißbrauchen lassen. Da fällt der Blick natürlich auf jene gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Menschen nicht aufgeklärt sind. Nun hat es in der Gedankenwelt des Nahen und Mittleren Ostens so etwas wie die Aufklärung nicht gegeben. Bis dahin waren das mit die fortgeschrittensten Gesellschaftsformationen, die hier in Europa und rundherum existierten. Die Aufklärung, die dort nicht stattgefunden hat, hat bei uns einen ganz wichtigen Impuls freigesetzt, die Ideen des Kommunismus noch einmal genauer zu überdenken. In der Aufklärung wurden sie ja noch einmal aufgegriffen.

Wenn man dann feststellt, daß ein großer Teil der Menschen, nicht zuletzt aufgrund eines verfallenden Bildungssystems, nicht aufgeklärt ist und religiösen Ideen anhängt, und zwar deshalb anhängt, weil sie mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zufrieden sind und sich über die religiösen Formen der Solidarisierung mit anderen Menschen Hilfe erhoffen, dann kann man das natürlich auch manipulieren. Religion als Form der Selbstvergewisserung und Solidarisierung einer Menschengruppe untereinander, die sich von allen möglichen Dingen bedroht fühlt, kann und wird auch mißbraucht. Hinter dem Gegeneinanderausspielen von religiösen Vorstellungen, die zum Teil völlig hanebüchen interpretiert werden, steckt eine Absicht. Daß man den Islam gegen das Christentum in Stellung bringt, birgt eine echte Gefahr, weil die Menschen in ihrer Manipulierung nicht erkennen, was mit ihnen gemacht wird. Sie sind in festem Glauben daran, daß sie aus religiösen Gründen gegen die anderen sind. Das hat mit Religion überhaupt nichts zu tun. Das ist Religionsmißbrauch.

SB: Sie sind auch im Bereich Internationale Politik tätig. Wo siedeln Sie aus Ihrer Sicht die Triebkräfte für diesen sogenannten clash of civilizations an?

HR: Es gibt natürlich, um es einmal etwas vereinfacht darzustellen, Gruppen mit ökonomischen Interessen. Menschen beherrscht man nicht nur durch ökonomische Verhältnisse, sondern vor allen Dingen mit Gedanken. Aus ökonomischen Verhältnissen resultieren immer ideologische Vorstellungen - das Basis-Überbau-Phänomen. Ich bin beileibe kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber solche Lobbygruppen besitzen Verständigungsnetze untereinander. Je weiter man nach oben kommt, desto kleiner werden diese Netze. Ich denke schon, daß die Triebkräfte im ökonomischen System liegen. Darin sind sie verankert. Wenn man den Kapitalismus von vorne bis hinten durchdenkt, unabhängig davon, in welcher Variation er in der Weltgeschichte auch immer auftaucht, dann gelangt man zu dem Schluß, daß er zerstörerische Elemente hat. Diese Elemente, die heute verschärft auftauchen, waren schon immer Bestandteil des Kapitalismus.

Wenn eine Zeitlang kein Krieg gewütet hat, ist das kein Beweis dafür, daß der Kapitalismus friedlich ist. Es beweist nur, daß die Verhältnisse es gerade nicht ratsam erscheinen lassen, Krieg zu führen. Warum wird hier in Europa zur Zeit kein Krieg geführt? Weil jeder Krieg diese Gesellschaften, die überaus anfällig geworden sind, wenn man nur an die Folgen des Ausfalls eines Wasserwerks, eines Umspannwerks oder eines AKWs denkt, empfindlich treffen würde. Dann funktioniert gar nichts mehr. Das wissen die natürlich ganz genau. Deswegen lassen sich in Europa keine Kriege mehr führen. Das ist seit längerer Zeit bekannt, nur wird es nicht kolportiert, um Terroristen keine Munition in die Hand zu geben. Alle, die ein bißchen Ahnung haben, wissen, daß wir hier keine Kriege mehr führen können, selbst wenn wir wollten. Also muß das auf andere Weise geschehen. Dafür bietet sich Ideologie an. Sie ist wirkungsvoll, hält länger an und bindet die Menschen, damit sie nicht auf andere Gedanken kommen. Das Christentum hat häufig genug vorexerziert, wie man das macht. Diese Kräfte können das nicht so gut wie die katholische Kirche, die 2000 Jahre mehr an Erfahrung auf dem Buckel hat. Also müssen sie noch ein bißchen üben. Aber die Triebkräfte sind im Kapitalismus selbst angelegt, als zerstörerische, als hirnverheerende, wie Marx sagte oder es auch Heinrich Heine aufgegriffen hat.

SB: Fühlen Sie sich in Ihren Ansichten in der Partei Die Linke repräsentiert? Wie ist Ihr Verhältnis zur Politik der Partei Die Linke?

HR: Die Linke ist aus meiner Sicht ein sehr, sehr bunter Haufen. Das ist auch gut so, und ich bin dafür, daß das so bleibt, weil das in gewisser Weise das Modell abbildet, das ich mir vom Kommunismus vorstelle, daß es keine vereinheitlichte Meinung oder nur eine Sichtweise gibt, sondern eine Multiperspektive. Wenn man das richtig nutzt, was leider in der Partei bei all dem Gegeneinander nicht immer geschieht, dann kann sich durchaus das Modell abbilden, das man sich von einer Demokratie vorstellt, wo verschiedene Sichtweisen durchdiskutiert werden und man sich schließlich zu einer bekennt, ohne daß man, weil man in einer Minderheit ist, das Ganze dann bekämpft. Diese Haltung wird natürlich torpediert. Da gibt es den sogenannten menschlichen Faktor. Viele Menschen sind furchtbar eitel und auf Grund dieser Eitelkeit offensichtlich getrieben, ständig vor Mikrofonen ihre Meinungen und Gegenmeinungen äußern zu müssen. Die Medien nutzen das natürlich aus und spielen sie gegeneinander aus.

Dieses Spiel würde ich nie mitmachen. Vom Prinzip her finde ich es gut, daß diese Partei so bunt ist, wie sie ist, daß sie von ganz unterschiedlichen Traditionen herkommt, und ich möchte das gerne erhalten. Es soll auf keinen Fall wieder so werden, wie es vielleicht einmal bei der DKP, aus der ich herkomme, oder bei der PDS, deren Mitglied ich ebenfalls war, gelaufen ist. Ich war immer in Wohngebiets- oder Stadtteilgruppen, die Opposition machten innerhalb der DKP. Zum Beispiel haben wir schon gegen AKWs demonstriert, als die DKP Hamburg noch behauptet hatte, die seien im Sozialismus alle sicher. Dahin kann kein Weg mehr zurückführen. Wenn das die Tendenz bei der der Linkspartei wäre, würde ich sofort austreten.

SB: Sie haben Gesine Lötzsch eben in Ihrer Einlassung den Rücken gestärkt. Hätten Sie es besser gefunden, wenn Frau Lötzsch an der Podiumsdiskussion auf der Rosa Luxemburg Konferenz teilgenommen hätte, oder finden Sie ihren heute angekündigten Schritt, eine separate Stellungnahme abzugeben, sinnvoll?

HR: Ich kann nicht für Frau Lötzsch reden, ich weiß nicht, was ich in dieser Situation gemacht hätte. Aber der Angriff auf sie ist natürlich lächerlich, wie sie ja auch ausgeführt hat. Es ist einfach absurd, daß man mit anderen Menschen, die andere Überzeugungen haben oder deren Überzeugungen vielleicht etwas schärfer formuliert sind, in einen Topf geworfen wird. Wenn sich Westerwelle im Bundestag mit Gregor Gysi in der Lobby trifft und sie miteinander reden, dann wird man auch nicht sagen, Westerwelle mutiert zum Kommunisten. Ich kann die internen Zusammenhänge dieser Konferenz nicht beurteilen. Ich kenne Frau Lötzsch sowohl vom Bundesausschuß, wo sie mehrmals aufgetreten ist und wir miteinander diskutierten, als auch vom letzten Landesparteitag her und halte sie für eine unglaublich qualifizierte und souveräne Politikerin. Also nicht eine, die nur aus Eitelkeit ins Mikrofon spricht. Das finde ich sehr angenehm. Sie ist eine der wenigen, finde ich, in der Bundespolitik wie auch in unserer Partei, die nicht von diesem Virus befallen ist.

SB: Herr Ring, ich bedanke mich für das interessante Gespräch.

Kunstinstallation vor dem Schulgebäude - © 2011 by Schattenblick

Vor der Louise-Schröder-Schule Rudimente animistischer Kultur?
© 2011 by Schattenblick


22. Januar 2011