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INTERVIEW/054: Antirep2010 - Michael Schiffmann kämpft um das Leben Mumia Abu-Jamals (SB)


Interview mit Michael Schiffmann am 9. Oktober 2010 in Hamburg


Der Sprachwissenschaftler und Anglizist, Publizist, Herausgeber und Übersetzer Dr. Michael Schiffmann ist seit vielen Jahren in der Mumia-Abu-Jamal-Solidaritätsbewegung aktiv. So hat er unter anderem 2006 das Buch "Wettlauf gegen den Tod - ein schwarzer Revolutionär im weißen Amerika" herausgebracht sowie an dem Film "In Prison my Whole Life" mitgewirkt. Seit 1996 hat er rund 20 Bücher übersetzt, unter anderem die Biographie Mumia Abu-Jamals "Ona Move".

Am Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg lehrt er Linguistik und Kulturwissenschaft und engagiert sich in der Heidelberger Gruppe "Freiheit für Mumia Abu-Jamal" ebenso wie im "Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg". Am Rande des Internationalen Antirepressionskongresses in Hamburg hatte der Schattenblick Gelegenheit, mit Michael Schiffmann ein Gespräch zu führen.

Michael Schiffmann - © 2010 by Schattenblick

Michael Schiffmann
© 2010 by Schattenblick

Schattenblick: Ein Antirepressionskongreß könnte keiner sein, wenn nicht auch Mumia Abu-Jamal zur Sprache käme. Sie haben auf der Veranstaltung "Repression gegen antikapitalistische Linke" von der aktuellen Situation berichtet. Können Sie noch einmal ausführlicher erläutern, warum die Lage jetzt, auch in Hinblick auf die im November bevorstehende Entscheidung, so brisant ist?

Michael Schiffmann: Ja, das kann ich machen. Ich selber beteilige mich an der Mumia-Solidaritätskampagne seit 1999. Gehört hatte ich von dem Fall schon lange vorher, das erste Mal 1989 oder 1990. Dann war 1997 Mumias damaliger Anwalt Leonard Weinglass in Heidelberg auf einer sehr beeindruckenden Veranstaltung. 1999 wurde der zweite Hinrichtungsbefehl gegen Mumia unterzeichnet, und das war für mich der Anlaß, da einzusteigen. Die einhellige Meinung aller an der Kampagne Beteiligten war, daß die Entscheidung im darauffolgenden Jahr oder innerhalb der nächsten zwei Jahre fallen würde. Es hatte damals einfach so ausgesehen. Wie es dann aber kam, haben die Gerichte die Sache einfach viel länger hinausgezögert - ich denke mit der Absicht, die Mumia-Kampagne sich totlaufen zu lassen. Es gibt ja auch das Phänomen, daß weltweit 20 Millionen Leute für Leonard Peltier, den Indianerführer, unterschrieben haben. Auch diese Kampagne gibt es praktisch nicht mehr.

SB: Es gibt aktuell die Einschätzung, daß es bei den ersten beiden angesetzten Hinrichtungsterminen so war, daß Mumia aufgrund der weltweiten Mobilisierung gerettet werden konnte. Da jetzt der juristische Instanzenweg so gut wie zu Ende ist, gibt es eher begrenzte Hoffnungen. Wie schätzen Sie das ein?

MS: Ich denke, daß die weltweite Solidaritätskampagne mit Sicherheit dafür gesorgt hat, daß Mumia nicht hingerichtet wurde. Darüber sind sich auch viele bürgerliche, also nicht besonders linke Experten einig. In gewisser Hinsicht waren diese Hinrichtungstermine mehr ein Terrorinstrument gegen Mumia und die Verteidigung. Denn wenn jemand einen Hinrichtungstermin hat, hat er im Gefängnis weniger Privilegien. Absurderweise kann er dann auch nicht mehr in die Knastbibliothek gehen, inklusive der Jurabibliothek. Es ging also mehr um so etwas bei diesen Hinrichtungsterminen.

SB: Insofern ist es wohl tatsächlich so, daß es jetzt gefährlicher ist als jemals zuvor. Das wird auch von vielen so gesehen.

MS: Es ist jetzt gefährlicher als damals, weil sich das rechtliche Prozedere wirklich dem absoluten Ende genähert hat. Das war damals noch nicht der Fall. Es war nicht absehbar, daß das so lange dauern würde. Es war dann so, daß 2001 ein Bundesrichter über Mumias Antrag, "Ich will einen neuen Prozeß für die Aufhebung des Todesurteils" entschieden hat. Er hat ihm einen neuen Prozeß verweigert - die Entscheidung ist 272 Seiten lang -, hat aber das Todesurteil aufgehoben. Das war ein Bundesgericht in Philadelphia. Die nächsthöhere Ebene ist ein Bundesberufungsgericht, auch in Philadelphia. Sowohl die Staatanwaltschaft als auch die Verteidigung sind in Berufung gegangen. Die Staatsanwaltschaft wollte das Todesurteil zurück, und Mumia wollte nach wie vor einen neuen Prozeß. Das Gericht, vor das das dann ging, hat sich volle vier Jahre Zeit gelassen, um überhaupt auf die Eingaben zu reagieren. Und das erste Hearing vor diesem Gericht, dem dritten Bundesberufungsgericht, fand dann erst im Mai 2007 statt. Da lagen dann plötzlich fünf, sechs, sieben Jahre dazwischen, deswegen hat sich dieser Fall so lange hinausgezögert. Bei dieser Anhörung kam am Ende im März 2008 heraus, daß sie eigentlich das bestätigt haben, was der Bundesrichter beschlossen hatte: Das Todesurteil wird aufgehoben, aber Mumia bekommt keinen neuen Prozeß.

SB: Wenn man das Rechtsempfinden zur Grundlage macht, ist das überhaupt nicht zu verstehen und ein Skandal, erst recht, wenn man die Einzelheiten etwas kennt. Ich erinnere jetzt nur an das Geständnis eines mutmaßlichen Täters, so könnte man vielleicht sagen, das ja vorliegt, aber von den Gerichten nicht anerkannt wird und mit dem unter anderem begründet wird, warum es eigentlich dringend ein Wiederaufnahmeverfahren geben müßte.

MS: Die bloße Tatsache, daß die Gerichte in den USA sich geweigert haben, diesen Mann überhaupt anzuhören, der gesagt hat, "nicht Mumia, sondern ich habe den Polizisten erschossen und korrupte Polizisten und die Unterwelt in Philadelphia haben mich damit beauftragt", also daß die Gerichte es abgelehnt haben, das anzuhören, ist natürlich ein Skandal. Ganz unabhängig davon, wie glaubwürdig oder unglaubwürdig dieser Mann ist.

SB: Der Skandal liegt schon darin, daß das nicht einmal untersucht wurde.

MS: Das muß man auf alle Fälle anprangern. Wenn man die Sache selbst substantiell untersucht - ich habe das gemacht und natürlich hat das auch Mumias Verteidiger seit 2003, Robert Bryan, gemacht, er und ich haben auch darüber gesprochen -, muß man allerdings zu dem Schluß kommen, daß dieses Geständnis tatsächlich nicht glaubwürdig ist. Niemand weiß etwas Genaues über die Motive dieses Mannes, aber er hätte vor Gericht gehört werden müssen. Zudem ist es so: Auch ohne dieses Geständnis von einem Mann, der sich selbst als einen Berufsverbrecher, sozusagen einen Berufskiller, bezeichnet hat, steht fest, daß Mumia auf keinen Fall wegen Mord verurteilt werden kann. Wenn man den Tatort und die ganzen Indizien genau untersucht, dann muß man zu dem Schluß kommen, daß bei dieser nächtlichen Schießerei, bei der ein Polizist getötet und Mumia lebensgefährlich verletzt wurde, der Polizist zuerst geschossen hat. Das kann gar nicht anders gewesen sein.

SB: Auch das könnte in einem Wiederaufnahmeverfahren alles noch einmal untersucht werden, aber eben das wird ja nicht stattfinden.

MS: Das ist vorläufig ungewiß. Wenn es nach den Regeln des rechtlichen Systems in den USA geht, dann ist der Ofen aus, dann gibt es kein neues Verfahren. Das hat der US-Supreme Court - und damit sind wir im April des Jahres 2009 - beschlossen. Die Verteidigung ist vor den Supreme Court gegangen mit der Forderung nach einem neuen Verfahren. Die Staatsanwaltschaft ist auch vor den Supreme Court gegangen mit der Forderung nach der Todesstrafe. Der Antrag der Verteidigung ist 2009 abgelehnt worden, auf rechtlicher Ebene ist damit eigentlich Schluß. Und im Jahr 2010 hat der Supreme Court dann noch etwas gemacht. Er hat nämlich auch die Aufhebung des Todesurteils, nochmal auf Antrag der Staatsanwaltschaft, in Frage gestellt und hat die Frage an das Bundesberufungsgericht zurückverwiesen.

SB: Das ist, was jetzt aktuell entschieden werden muß.

MS: Und das wird aktuell entschieden. Da gibt es am 9. November eine Anhörung, bei der beide Seiten, ich glaube jeweils eine Stunde bekommen, um ihre Argumente darzulegen. Dann ziehen sich die Richter in ihr Kämmerlein zurück - das ist ein dreiköpfiges Richtergremium - und beraten darüber. Nach Einschätzung des Anwalts wird es vermutlich diesmal nur ein paar Monate dauern, aber man weiß es nicht. Er betont dann immer, das sind 'Pi-mal-Daumen'-Werte, es kann genausogut auch anders sein. Aber es könnte sehr schnell gehen, daß innerhalb von ein paar Monaten einen Entscheidung da ist. Und wenn die zu der Schlußfolgerung kommen: "Unsere damalige Entscheidung, die Aufhebung des Todesurteils zu bestätigen, war falsch, und wir bestätigen jetzt das ursprüngliche Todesurteil", dann geht es eben erneut zum Supreme Court. Und wenn der Supreme Court das dann auch noch einmal bestätigt, dann ist Mumia so gut wie tot. Das ist die rechtliche Lage.

Michael Schiffmann mit SB-Redakteurin - © 2010 by Schattenblick

Michael Schiffmann mit SB-Redakteurin
© 2010 by Schattenblick

SB: Dann kommt wieder die Seite der politischen Mobilisierung ins Spiel, wenn man das einmal so sagen darf.

MS: Da kommt nicht nur Seite der politischen, sondern zur Zeit auch die Frage der juristischen Mobilisierung ins Spiel. Es gibt jetzt den sagen wir einmal x-ten neuen Spendenaufruf der Verteidigung. Aber es geht um etwas ganz Konkretes. Anton [1] und ich haben zusammen in Berlin eine Veranstaltung gemacht, auf der wir über unseren Besuch bei Mumia am 29. April dieses Jahres berichtet haben. Die Veranstaltung fand, glaube ich, im August statt. Da hatten wir auch Robert Bryan über Skype-Schaltung dabei, der hat aus San Francisco 40 Minuten lang mit uns geredet. Er hat gesagt, daß die Verteidigung jetzt ein neues Projekt laufen hat. Es gibt in Amerika Firmen, die, wie man das in Krimis sieht, 'Crime Scene Investigation' machen, um sowohl der Anklage als auch der Verteidigung - je nachdem, wer sie anheuert - mit objektiven, wissenschaftlichen Berichten zu helfen. Und das soll jetzt auch im Fall von Mumia gemacht werden.

SB: Aber es bliebe doch eigentlich eine politische Mobilisierung, denn kein Gericht der USA wäre gezwungen, die Ergebnisse, die diese Gutachter vorlegen würden, anzuhören?

MS: Ja, da kommt tatsächlich die politische und mediale Ebene ins Spiel. Wenn man solche Ergebnisse hat, nützt einem das zunächst einmal gar nichts, wenn es nicht gelingt, sie bekannt zu machen und damit einen Wirbel oder eine mediale Lawine auszulösen. Das gelingt natürlich besser mit neuen Argumenten und mit Leuten, die das mit den entsprechenden Mitteln machen.

SB: Gute Argumente gibt es eigentlich jetzt schon zu Hauf.

MS: Ja. Ich habe solche Untersuchungen für mein Buch auch gemacht. Und Linn Washington, der mit uns im Knast war und Mumia besucht hat, hat zusammen mit einem Journalisten auch Tests durchgeführt, bei denen es darum ging, ob die Versionen der drei wichtigsten Belastungszeugen überhaupt stimmen können. Die drei Zeugen hatten gesagt, Mumia hätte quasi wie ein Henker über dem Polizisten, der schon am Boden lag, gestanden und hätte mehrmals auf ihn gefeuert und ihn einmal in die Stirn getroffen. Die anderen Schüsse seien daneben gegangen. Wenn man sich aber die Fotos anguckt vom Tatort... Es gibt jetzt nicht nur die Polizei-Tatortfotos, sondern auch welche von einem Pressefotographen, der 25 Jahre später aus der Versenkung aufgetaucht ist. Ich habe die Negative persönlich gesehen, an ihrer Authentizität bestehen keine Zweifel. Ein NASA-Spezialist hat sich diese Fotos auch angeguckt und gesagt: "Da ist nichts, da sind keine Schußspuren."

Linn Washington und Dave Lindorff haben auch einen Test gemacht. Sie haben sich eine Smith & Wesson, vergleichbar mit dem Revolver, den Mumia damals hatte, besorgt. Und dann haben sie in so eine Zementplatte reingeschossen. Es ist absolut nicht zu übersehen, wenn man das macht. Aber natürlich haben solche Erkenntnisse, die zum Teil ja schon vorliegen, viel mehr Gewicht, wenn eine professionelle Firma die Tests gemacht hat. Dann kann man an die "New York Times" oder den "San Fransisco Chronicle" herantreten und sagen: "Seht mal Leute, das ist doch eine Story". Das ist der Punkt, an dem ich vorhin im Vortrag gesagt habe, daß dann die Karten neu gemischt werden, ob das Verfahren nun legal abgeschlossen ist oder nicht. Das ist dann genauso wie hier, dann müssen die Gerichte sich etwas einfallen lassen, denn mit einer solchen Blamage können sie nicht dastehen, der Glaubwürdigkeitsverlust wäre einfach zu groß ist. Das ist sozusagen der Joker, den die Verteidigung jetzt noch in der Hand hält.

SB: In der zurückliegenden langen Zeit hat sich oft abgezeichnet, daß sowohl auf Seiten der Verteidigung - es hat ja Verteidigerwechsel gegeben - als auch auf der der Unterstützer durchaus unterschiedliche Strategien verfolgt werden. Strittig ist wohl, kurz gesagt, wie konfrontativ man die Sache angehen sollte, ob man also versucht, für Mumia etwas herauszuholen, indem man sich etwas handzahmer gibt oder ob man quasi auch an dieser Stelle keinerlei Konfrontation scheut. Wie schätzen Sie das ein, was dies wirklich für Mumia gebracht hat und ob sich diese Kontroverse vielleicht sogar negativ ausgewirkt hat?

MS: Das bringt mich zurück auf diesen Zeugen, der gesagt hat: "Ich war's." Ungefähr zweieinhalb Jahre, ich glaube insgesamt 27 Monate lang, hatte Mumia ein Team, das wirklich extrem konfrontativ war. Sie haben versucht, jedes noch so zweifelhafte Indiz, das für Mumia zu sprechen schien, vor Gericht vorzutragen, also auch diesen Mann. Und gleichzeitig haben sie gegen alle gekeilt, die das nicht mitmachen wollten. Sozusagen die Nummer: "Ihr seid Verräter." Da denke ich, das muß man leider klar sagen, daß dies der Bewegung vor allem in der USA, aber auch weltweit sehr geschadet hat. Wenn sie wenigsten gesagt hätten: "Wir wollen das jetzt so machen, wir tolerieren aber auch Leute, die Mumia aus anderen Gründen unterstützen, auch wenn wir das nicht für glaubwürdig halten." Das haben sie aber nicht gemacht, und damit haben sie eigentlich - gut, ich will nicht sagen, das Geschäft des Gegners betrieben, das wäre jetzt meinerseits gemein -, aber sie haben der Sache sehr geschadet, denke ich.

SB: Wirkt sich das Ihrer Meinung nach heute noch negativ aus auf den Stand bzw. die Stärke der Unterstützerbewegung?

MS: Ich denke, daß das, was damals passiert ist, jetzt sozusagen den Bach runtergeschwommen ist, glücklicherweise, aber ich denke auch, daß der Schaden nachhaltig war. Denn eine der Sachen, die die große Stärke der Mumia-Bewegung ausgemacht hat, als sie Ende der 90er Jahre oder 2000 auf ihrem Höhepunkt war, bestand darin, das vom Stalinisten zum Anarchisten, vom bürgerlich Liberalen, der gegen die Todesstrafe ist, zum absoluten Systemgegner in allen möglichen Dimensionen alle Leute dabei waren.

Michael Schiffmann - © 2010 by Schattenblick

Mobilisiert für das Leben Mumia Abu-Jamals ...
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SB: Es gab eine mobilisierende Wirkung über Mumia hinaus.

MS: Ja. Wie mein Freund Anton gerne sagt, es war ein bunter Haufen und genau diese bunte Mischung ist seine Stärke gewesen. Das ist dann teilweise kaputt gegangen, aber ich sehe, daß das hier und an anderen Orten schon wieder neu am entstehen ist, auch wenn im Moment alles nicht so schnell geht, wie wir uns das wünschen. Wenn man eine Exekution abwenden muß, dann ist die Dringlichkeit natürlich riesengroß, nichts kann dann schnell genug gehen. Aber es passieren Dinge. Ich hätte vor drei Jahren nicht vorauszusagen gewagt, daß es in Deutschland oder auch in den USA so viel zu Mumia geben würde, wie es jetzt der Fall ist.

SB: Es ist ja paradox. Mumia selbst ist ein so politischer Mensch, doch sobald sich seine Unterstützer zu ihm verhalten, müssen sie sich notgedrungen auch mit juristischen Fragen auseinandersetzen, mit Wiederaufnahmeanträgen, die für Laien und Uneingeweihte kaum nachzuvollziehen sind und Mumia selbst am allerwenigsten entsprechen. Wie schätzt er das ein?

MS: Viele der Details sind natürlich wirklich bizarr und außerhalb der Welt jedes normalen Menschen. Was Mumia betrifft... ich glaube, er hat ein Buch geschrieben, "Jailhouse Lawyers", Knastanwälte. Er selber ist so ein Jailhouse Lawyer, ein Knastanwalt, der vielen anderen Gefangenen hilft. Er hat, glaube ich, ohne Robert Bryan zu nahe treten zu wollen, das beste juristische Verständnis von seinem eigenen Fall. Als wir dort waren, hat er viel mit Linn Washington, der auch eine Ausbildung als Jurist gemacht hat, über alle möglichen Fälle gefachsimpelt, wo auch Anton und ich, die wir uns einbilden, wir wären allmählich auch eingefuchst nach so vielen Jahren, einfach nicht mitreden konnten. Mumia kennt sich einfach sehr gut aus. Er selber setzt natürlich auch auf die Kraft der Bewegung. Er sagt dann, daß es eine Art Arbeitsteilung gibt. Rechtsanwälte können keine Bewegung anführen, das ist nicht ihre Aufgabe, und es ist auch nicht unbedingt die Aufgabe der Bewegung, jedenfalls nicht ihrer breiten Masse, jetzt jeden juristischen Furz in- und auswendig zu kennen. Darum geht es letzten Endes gar nicht. Es ist gut, wenn man die Entwicklung halbwegs versteht, aber das ist nicht wirklich das Thema.

Wir haben dann am Schluß darüber gesprochen, was für ihn die zentralen Themen seines eigenen Falls sind. Er hat gesagt: Erstens ist das natürlich die Frage der Todesstrafe, also die unbedingte und absolute Gegnerschaft, auch in bezug auf Staaten, die er schätzt, wie beispielsweise Kuba. Er hat auch schon Grußadressen nach Kuba geschickt mit der Widmung "without due respect" und gesagt: "Also ihr wißt ja, daß ich in der Frage der Todesstrafe anderer Meinung bin." Das wäre also das erste. Die zweite Sache, auf die er immer noch sehr, sehr großen Wert legt, ist, daß er kein faires Verfahren hatte. Er sagt: "Für einen Schwarzen und Unterprivilegierten in Amerika ist das letzten Endes der Normalfall." Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen müssen. Er legt großen Wert darauf, daß das ein Bestandteil seines Falles ist.

Das dritte sind die Argumente dafür, daß es so, wie die Anklage sagt, gar nicht gewesen sein kann und daß er im Sinn der Anklage - er formuliert das immer sehr vorsichtig - unschuldig ist. Warum er das so vorsichtig formuliert - in seiner Erklärung beim Prozeß sagte er: "I am innocent of these charges - ich bin im Sinne der Anklage unschuldig" -, weiß ich nicht genau. Ich habe ihn das gefragt, und er hat gesagt: "Es gibt die Forderung, daß ich jetzt 'mal auspacke und sage, wie alles gewesen ist, außerhalb des Schutzes eines Gerichtssaals, wo auch eine Öffentlichkeit ist, die dafür sorgt, daß es fair zugeht, im Unterschied zu meinem ersten Verfahren. Diejenigen, die das am lautesten fordern, wie die Polizeigewerkschaft 'Fraternal Order of Police' - da gibt es Polizisten, Maureen Falkner und alle möglichen Rechten -, sind die ersten, die behaupten, mein grotesk unfaires Verfahren wäre fair. Das sind diejenigen, die es gut finden, daß mir alle Rechte entzogen werden, und die sagen jetzt: Du hast hier dieses eine Recht, ohne den Schutz des Gerichtssaals und der Öffentlichkeit eine Aussage zu machen. Das mache ich nicht." Ich habe mit vielen Leuten speziell auch über diese Frage gesprochen. Manche haben dann gesagt, sie könnten sich schon vorstellen, daß Mumia auch einiges in Kauf nimmt, vielleicht sogar Nachteile, einfach um auf diesem Prinzip zu beharren.

SB: Das wäre dann seine Art, konsequent zu sein.

MS: Ja, das ist seine Konsequenz zu sagen: "Ich sage entweder nur dieses relativ Abstrakte 'ich bestreite kategorisch, daß ich des Mordes ersten Grades schuldig bin'" - das hat er öfter gesagt - "und darüberhinaus sage ich nur etwas, wenn ich das Verfahren bekomme, das ich immer gefordert habe."

Michael Schiffmann - © 2010 by Schattenblick

... und die Freiheit aller politischen Gefangenen
© 2010 by Schattenblick

SB: Gibt es noch etwas von deinem Besuch bei Mumia, woran du dich jetzt erinnern kannst und das du uns - sozusagen im übertragenen Sinne - als sein Schlußwort nennen könntest?

MS: Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an diesen Besuch und an ihn denke und daran, daß er jetzt da im Knast ist. Was für mich herausstach war, daß er in all diesem Horror, den wir in unserem Besuchsbericht ausführlich beschrieben haben, ein freundlicher, zugewandter Mensch und zuvorkommender Gesprächspartner, ein intelligenter Mann, eben ein lebendiges Wesen geblieben ist und daß es ihm gelungen ist, sich diesem Terror mit seiner geistigen und seelischen Stärke zu widersetzen. Ich wünsche ihm wirklich sehr, sehr, sehr, daß er das, was er als das kostbarste Gut bezeichnet, das Wort und die Tatsache der Freiheit, bald genießen kann.

SB: Dem können wir uns nur anschließen. Eine letzte Frage noch zu Ruchell Magee, meines Wissens nach der älteste politische Gefangene in den USA, der am längsten, ich glaube 47 Jahre, sitzt und nun wirklich zu den vergessenen Fällen gehört. Ich habe eine Frage zu seiner frühen Geschichte. Die ersten zehn Jahre hat er, soweit ich weiß, wegen einer ganz normalen Straftat im Gefängnis gesessen?

MS: Nicht wirklich. Ich habe darüber geschrieben in der Beilage vom März zur 'Jungen Welt', der 'Rote Hilfe Spezialausgabe'. Der Titel war sogar genau wie der des Buches über Ruchell Magee 'How many more Years?' Er und Hugo Pinell sind in den Knast gekommen wegen Vergewaltigung, und dann hat sich dort das Drama entfaltet in San Quentin, im Umfeld von George Jackson und Angela Davis. Ruchell Magee war wegen Vergewaltigung angeklagt worden und hatte sieben Jahre bekommen. Dann war er nur ein paar Monate draußen und ist wegen einer Nichtigkeit wieder eingefahren. Als der kleine Bruder von George Jackson diesen Befreiungsversuch gemacht hat per Geiselnahme, war er einer derjenigen, die involviert waren. Dann haben sie ihm nochmals lebenslänglich draufgepackt bei seinem Prozeß, der von dem von Angela Davis abgetrennt wurde.

Sie haben dann hinterher auch das Urteil der Geschworenenjury sozusagen gefälscht. Die Jury hatte gesagt, das war eine einfache Geiselnahme, und die Gerichte behaupteten dann, es sei eine erschwerte Geiselnahme gewesen. Nach dem Gesetz Kaliforniens macht es das für ihn unmöglich, rauszukommen. Aber zurück zu der Geschichte mit der Vergewaltigung. In Ruchell Magees Fall ist das, was damals gewesen sein mag, relativ gut recherchiert. Es war Mitte oder Ende der fünfziger Jahre. 1955 gab es einen anderen Fall, den Fall des 14jährigen Jungen Emmett Till. Er wurde von weißen Rassisten gelyncht. Sie hatten behauptet, er hätte einer weißen Frau hinterhergepfiffen. Wenn man hört, daß ein schwarzer Mann in einem Südstaat wie Louisiana der Vergewaltigung an einer weißen Frau angeklagt ist, dann heißt das nicht unbedingt, daß es auch so gewesen ist, sondern es steht in diesem rassistischen Kontext.

So ähnlich ist es auch bei Hugo Pinell und Ruchell Magee gewesen. Es spricht vieles dafür, daß Ruchell Magee gar nichts damit zu tun hatte, sondern daß die Frau ein Verhältnis, das bei der bigotten Moral dort als illegitim angesehen wurde, mit jemand ganz anderem hatte. Und als dann die Tatsache, daß sie ein Verhältnis gehabt haben mußte, ruchbar wurde, hat sie halt gesagt, dieser Typ hier war's und zwar mit Gewalt. Das war ungefähr der Kontext damals. Das geht aus dem Buch von Mark Thiel, meines Wissens die einzige ausführliche Darstellung, die im Atlantik-Verlag unter dem Titel 'How many more years?' erschienen ist, hervor. Ich muß leider sagen, daß Mark Thiel als Autor nicht besonders gut ist, denn es ist mühselig zu lesen. Aber ich habe es sehr sorgfältig gelesen, und das scheint ungefähr die Faktenlage zu sein.

Bei Hugo Pinell war es so: Er kam aus Nicaragua. 1964 wurde auch er angeklagt, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Er hat dann etwas gemacht, was oft passiert ist. Sein Anwalt hatte ihm geraten: Bekenne dich schuldig, du hast schlechte Karten, vor allem in diesem Kontext. Du bist einer, der aus der Karibik oder aus Mittelamerika kommt und du sollst einer weißen Frau das angetan haben. Das sieht nicht gut für dich aus. Bekenne dich schuldig, dann bist du in einem halben Jahr wieder draußen. 1971, als der angebliche Ausbruchsversuch von George Jackson war, saß er aber immer noch. Das ist der Kontext bei diesen beiden.

Es gibt noch andere Sachen, zum Beispiel bei den Angola Three. Ich habe Albert Woodfox und Herman Wallace erwähnt. Es gab noch einen Dritten, der dort drinnen saß. Robert Hillary King heißt der jetzt, früher hieß er Robert Wilkerson. Ich erinnere mich nicht genau, aber ich glaube, daß Wallace und Woodfox wegen Kleinkriminalität nach Angola eingefahren sind. Dann kam diese Geschichte mit dem Wärter, der getötet wurde, und das hat man ihnen angehängt, weil sie sich im Gefängnis politisiert und die Gefängniszelle der Black Panther Party gegründet hatten. Eine der Sachen, die die Black Panther Party so interessant machen, war ja, daß es ihnen teilweise tatsächlich gelungen war, solche Leute, die Marx fragwürdigerweise als Lumpenproletariat bezeichnet hatte, zu politisieren. Und es gibt andere Beispiele. Bunchy Carter in Los Angeles war der Führer einer Straßengang. Er hatte sich im Knast politisiert unter anderem unter dem Einfluß von Eldridge Cleaver. Er wurde dann ein wichtiger Führer in der Black Panther Party, für viele Leute sehr überzeugend gerade wegen seines Lebenslaufs.

SB: Da könnte ich noch viele Fragen stellen... Vielen Dank für dieses Gespräch.

[1] Gemeint ist Anton Reiner von der Berliner Gruppe "Freiheit für Mumia Abu-Jamal".

Blick aus dem Foyer auf das Hauptgebäude der Uni Hamburg - © 2010 by Schattenblick

Nicht jeder Blick nach draußen befreit ...
© 2010 by Schattenblick

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