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BERICHT/028: Oligarchen zittert! Hamburger Veranstaltung zur Volksmacht in Venezuela (SB)


Vortrag und Diskussion mit Yoel Capriles, einem Basisaktivisten aus Caracas, am 18. Juni 2010 in der Werkstatt 3 in Hamburg

Venezuela ist heute wenn nicht im Munde aller, so doch vieler Menschen, wobei hierzulande namentlich in den Medien der Mehrheitspresse ein tendenziell abfälliger, nicht selten diffamierender oder offen vorwurfsvoller Tonfall vorherrscht. Wer genau wissen möchte, warum und wieso Präsident Chávez ein "Populist" sei, der dem eigenen Volk schaden und die Sicherheit in der gesamten Region Lateinamerika gefährden würde, sieht sich mit dem seltsamen Phänomen konfrontiert, in diesem Zusammenhang weder auf fundierte Informationen noch auf stringente Argumentationen zu stoßen. Der Gegenvorwurf, daß es sich dabei um eine politisch zu begründende Medienkampagne zum Nachteil eines Landes handelt, in dem seit nun schon über zehn Jahren mit bemerkenswerten und nachweisbaren Resultaten der Versuch unternommen wird, die Gesellschaftsutopie "Sozialismus", die von der sich nach dem Systemuntergang der Sowjetunion bereits als Siegerin wähnenden kapitalistischen Welt längst für tot erklärt wurde, zu (neuem) Leben zu erwecken, ist somit nicht von der Hand zu weisen.

Wer sich für Land und Leute zu interessieren beginnt, gerade weil die Regierung Chávez und die von ihr wie auch von sehr vielen Menschen in Venezuela vorangetriebene "Bolivarianische Revolution" in der westlichen Welt ignoriert und totgeschwiegen oder, so dies nicht möglich ist, diffamiert und verteufelt wird, stößt schnell auf eine Entwicklung, deren tatsächliche Qualität weit über die sozialen Erfolge hinausgeht bzw. eng mit diesen verknüpft ist. Die Regierung der "Bolivarischen Republik Venezuela", so der Name der nach dem Amtsantritt von Hugo Chávez im Februar 1999 umbenannten V. Republik, macht dermaßen ernst mit ihrem demokratischen Anspruch, daß andere Staaten, die seit Jahrzehnten unter den Begriff "Demokratie" firmieren, ohne auch nur ansatzweise partizipative Ideen verwirklicht zu haben, allein durch das damit gegebene Beispiel die Bloßstellung ihrer tatsächlichen Absichten fürchten müssen.

In das ohnehin bestehende und immer mehr anwachsende Interesse an Venezuela sowie den übrigen linken Staaten Lateinamerikas, die in der gesamten Region inzwischen eine Entwicklung vollzogen haben, die eine Rückkehr zum Nullpunkt des einstigen "Hinterhofs der USA" ausgeschlossen zu machen scheint, mischen sich auch Fragen nach "Poder Popular", also der Volksmacht, wie die Beteiligung der Bevölkerung bzw. die direkte Machtausübung durch das Volk in Venezuela genannt wird. Dies ist kein abgeschlossener Prozeß, sondern eine Entwicklung, die ihre Zeit gebraucht hat und weiterhin brauchen wird und mit oberster Priorität auch durch die Regierung Chávez unterstützt und vorangetrieben wird, was keineswegs so widersprüchlich ist, wie es sich für Menschen in westlichen Staaten vielleicht anhören mag. Sowohl der Präsident als auch die Bolivarianische Bewegung, die mit ihm durch den ersten Wahlsieg von 1998 die Regierungsgewalt übernommen hat, haben ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen und Basisorganisationen im ganzen Land und sind nicht im traditionellen Parteienspektrum verankert.

Um dem Mangel an fundierten Informationen sowie der mehrheitlich eher diffamierenden Medienberichterstattung auch in Deutschland entgegenzutreten, haben hiesige Solidaritätsgruppen in vereinten Bemühungen mit Yoel Capriles einen Basisaktivisten aus dem Stadtteil "23. Januar" der venezolanischen Hauptstadt Caracas für eine Vortragsreise durch Deutschland gewinnen können, damit dieser über seine konkreten Erfahrungen beim Aufbau der "Consejos Comunales", wie die kommunalen Räte genannt werden, ebenso berichtet wie über die aktuelle Lage in seinem Land. Vom 8. bis zum 18. Juni 2010 reiste Herr Capriles kreuz und quer durch Deutschland, um, beginnend in Frankfurt, wo er vom Generalkonsul Venezuelas in Deutschland, Jimmy Chediak, herzlich begrüßt wurde, in einer Vortragsreihe unter dem Titel "Oligarcas Temblad!" (auf deutsch: Oligarchen zittert) über die im Zuge der Machtübernahme durch das Volk bislang gemachten Erfahrungen, Probleme und Erfolge zu berichten und diese Entwicklung mit den an diesen Fragen interessierten Menschen hierzulande zu diskutieren.

Yoel Capriles

Yoel Capriles

In Hamburg fand in der Werkstatt 3 am vergangenen Freitag, dem 18. Juni, der letzte dieser Vorträge statt und stieß auf ein großes Interesse unter den rund einhundert Anwesenden. Diese Veranstaltung war genaugenommen kein Vortrag, sondern, so die Ankündigung einer Vertreterin der Solidaritätsgruppe "Juana Ramirez La Avanzadora", ein Forum zum Thema "Volksmacht in Venezuela", an dem neben vielen Interessierten aus Hamburg auch Gäste aus Köln und Berlin teilnahmen und das von vielen Gruppen aus der hiesigen Lateinamerika-Bewegung unterstützt wurde. Die Hamburger Gruppe "Juana Ramirez La Avanzadora" hat diese Veranstaltung im Zusammenwirken mit dem Generalkonsulat der Bolivarischen Republik Venezuela in Hamburg organisiert.

Generalkonsulin Venezuelas in Hamburg, Jaidys Briceño

Stellvertretende Generalkonsulin Venezuelas in Hamburg, Jaidys Briceño

Zur besonderen Freude von Yoel Capriles nahm die Stellvertretende Generalkonsulin Venezuelas, Jaidys Briceño, mit ihrem Mitarbeiterteam an dem Forum teil. Die besondere Bewandtnis dessen erläuterte der offizielle Übersetzer den Anwesenden damit, daß dies im Gegensatz zu allen vorherigen Veranstaltungen in Deutschland die erste war, an der mit der Konsulin eine Repräsentantin der venezolanischen Regierung persönlich teilgenommen hat. Über die Frage, warum dies in all den anderen Städten zuvor nicht der Fall gewesen ist, können kaum fundierte Spekulationen angestellt werden. Daß es gegenüber dem zutiefst demokratischen, weil von der Bevölkerung direkt getragenen und ausgeübten Prozeß der Selbstverwaltung oder -regierung Widerstände auch innerhalb der offiziellen Staatsorgane Venezuela gibt, ist hingegen eine sattsam bekannte Tatsache, die sich anläßlich dieser Veranstaltung einmal mehr bewahrheitete.

Chilenische Unterstützerin

Chilenische Unterstützerin

Von Hamburg aus war nämlich die venezolanische Musikgruppe "Pueblo" eingeladen worden, bei dieser Veranstaltung aufzutreten. Die Gruppe "Juana Ramirez La Avanzadora" hatte von hier aus die logistische Vorbereitung durchgeführt, die Gruppe "Pueblo" ihrerseits von Venezuela aus alle Vorbereitungen in die Wege geleitet. Daß sie am Ende nicht kommen konnte, war einem Gouverneur zu "verdanken", der ihr Steine in den Weg legte und ihre Reise verhinderte. Ein Gouverneur, der, so die Erklärung des Podiums, zur Opposition übergelaufen ist und den Auftritt boykottiert hat. Um nicht zum Komplizen "solcher Personen" zu werden, wollten die Veranstalter dies öffentlich machen und kamen dabei unweigerlich auch gleich zum Thema des Vortragsabends. Nicht alle am sozialistischen Aufbau und der sozialistischen Revolution Beteiligte seien, so ihre Erläuterung, auch wirklich Sozialisten. Viele gäben sich zwar als "Chavistas" aus, also als Anhänger des Präsidenten, nähmen Positionen in Partei und Regierungsapparat ein und handelten dann doch im Interesse der Opposition. Die Basisorganisationen verwehren sich dagegen, von ihnen instrumentalisiert und als Vorwand benutzt zu werden, wo immer dies ihnen nützlich erschiene.

Die Stellvertretende Generalkonsulin Venezuelas, Jaidys Briceño, wandte sich in einem eigenen Grußwort an das Forum und stellte klar, daß dies eine wichtige Gelegenheit sei, um den großen politischen Erfolg der Bolivarianischen Revolution, die Volksbeteiligung, vorzustellen auf einer Veranstaltung, die ihrerseits bereits auf der Zusammenarbeit zwischen dem Volk und der Regierung Venezuelas beruht. Aus ihren Worten, daß die bisherigen Erfolge beschützt werden müssen angesichts einer internationalen Medienkampagne, die nur wirtschaftlichen Interessen diene, und daß deshalb über die echten Erfolge in Venezuela berichtet werden müsse, war unschwer die Sorge herauszuhören, daß es der Opposition im In- und Ausland ungeachtet der Verankerung des Bolivarianischen Prozesses in großen Teilen der Bevölkerung doch gelingen könnte, die Bemühungen und bisherigen Resultate, sollte ihr dies durch einen Sieg bei den bevorstehenden Parlamentswahlen möglich werden, zunichte zu machen. Die Konsulin übergab das Wort an Yoel Capriles, damit zum Thema Volksmacht und Volksbeteiligung in Venezuela aus Sicht eines Basisaktivisten und damit eines "lebenden Beispiels" aus dessen Sicht berichtet werde.

Der heute 50jährige Yoel Capriles ist seit jungen Jahren politisch aktiv und kämpft in seiner Gemeinde seit den 1970er Jahren, also lange vor dem Beginn der Bolivarianischen Revolution, in seinem Stadtteil, wo Jugend-, Bildungs- und Gemeindearbeit geleistet, Proteste gegen die Politik der Internationalen Währungsfonds (IWF) organisiert sowie Nachbarschafts- und Kulturgruppen aufgebaut wurden. In dem heutigen revolutionären Prozeß nimmt Capriles durch seine Arbeit am Aufbau und der Entwicklung der Kommunalen Räte teil. Er ist somit ein direkter Vertreter der Volksmacht ("Poder Popular"), der aus erster Hand und eigenem Erleben vermitteln kann, was nicht unbedingt leicht verständlich zu machen ist, zumal es, wie hier in Deutschland, an dem politischen Pendant, sprich vergleichbaren Entwicklungen oder basisdemokratischen Initiativen, vollständig mangelt.

Nachdem Capriles einen herzlichen revolutionären und solidarischen Gruß des venezolanischen Volkes überbracht hatte, begann er seine Ausführungen zu der Frage, wie es um die Volksmacht in den Gemeinden bestellt ist, mit der Erklärung, daß der gegenwärtige Aufbau der Volksmacht nicht verstanden werden kann ohne Kenntnisse dessen, was zuvor geschehen ist. Zu diesem Zweck verlas auf seine Bitte hin einer der anwesenden Schattenblick-Redakteure einen von den Veranstaltern auf Deutsch zuvor verfaßten Text über die historische Entwicklung Venezuelas in den letzten 40 Jahren. Dies stellte sich in der Tat als sehr nützlich, um nicht zu sagen unverzichtbar heraus, weil die politische Konfrontation zwischen einer Oligarchie, die sich unter Nutzanwendung eines mit ihr kooperierenden und über lange, lange Zeit regierenden Parteienbündnisses zu Lasten der verarmten Bevölkerungsmehrheit scheinbar unangreifbar im Staat festgesetzt hatte, und einer Gegenbewegung, die zwar heute mit dem Namen "Chávez" identifiziert wird, aber einer Erhebung direkt vom Volk her gleichkommt, noch immer nicht beendet ist und deshalb auch die Arbeit der kommunalen Räte betrifft.

Die Vorstellung einer Pyramide mit Präsident Chávez an der einsamen Spitze und in größtmöglichem Abstand dazu einem Heer Namenloser an der sogenannten Basis ist fehlangewandt im Zusammenhang mit der heutigen Bolivarischen Republik Venezuela, weil es die Basis, also die zuvor gesellschaftlich marginalisierten und vom politischen Entscheidungs- und Gestaltungsprozeß ausgeschlossenen und in oft bitterster Armut lebenden Menschen sind, die 1998 diesen Präsidentschaftskandidaten als einen der Ihren erkannt und gewählt haben im Vertrauen darauf, daß er das Versprechen, durch eine neue Verfassung ihre Partizipation zu ermöglichen und dauerhaft zu gewährleisten, wahrmachen würde. Und dies geschah. Am 15. Dezember 1999 nahm die Nationalversammlung eine neue Verfassung an, die in einer aus gewählten Delegierten gebildeten Verfassungsgebenden Versammlung unter Beteiligung vieler sozialer Gruppen und Basisorganisationen erarbeitet worden war. Mit anderen Worten: Schon der Entstehungsprozeß dieser Verfassung stellte ein absolutes Novum dar, da in ihm bereits Elemente einer partizipativen Demokratie verwirklicht worden waren, die mit ihr erst aus der Taufe gehoben werden sollte.

Yoel Capriles beschrieb im Anschluß an den kurzen historischen Abriß über die Entwicklung Venezuelas bis zum gescheiterten Putschversuch gegen Chávez im April 2002 sowie die anschließenden Versuche der Opposition, durch Wirtschaftssabotage und ein Abwahlreferendum die Entwicklung zu stoppen, die ersten Jahre des bolivarianischen Aufbaus. In Hinsicht auf die Volksmacht, die er als direkter Repräsentant der Basis sozusagen leibhaftig verkörpert, sprach er von der Verfassung als einer, "die wir uns gegeben haben". In den ersten Jahren hat es viele Angriffe seitens der Opposition gegen die Volksbeteiligung gegeben. Erste Gruppen, Bolivarianische Zirkel, entstanden überall in Venezuela, aber auch im Ausland, und widmeten sich in erster Linie dem sozialen Aufbau. Zu diesem Zweck wurden, unterstützt durch die Regierung, Missionen ins Leben gerufen, um zunächst einmal die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung sicherzustellen.

Forum mit Übersetzer und Aktivistin Xiomara

Forum mit Übersetzer und Aktivistin Xiomara

Die erste von ihnen, genannt "Barrio Adentro", beruhte, wie Capriles schilderte, auf einem mit Kuba geschlossenen Abkommen, durch das kubanische Ärzte in die Barrios, die Armenviertel der großen Städte kamen, dort lebten und dabei halfen, eine medizinische Versorgung der Bevölkerung sowie Vorbeugungsprogramme im Gesundheitsbereich aufzubauen. Diese Arbeit wurde von Gesundheitskomitees, zu denen sich Menschen aus den Vierteln zusammengetan hatten, unterstützt, die nicht zuletzt auch für den Schutz der kubanischen Ärzte sorgten in einem Prozeß, so Capriles, "der Konspiration seitens der Bourgeoisie gegen diesen revolutionären Prozeß".

Die zweite Mission bzw. ihre Erfolge sind inzwischen auch hier in Deutschland, zumindest unter Interessierten, nicht minder gut bekannt. Durch die Mission "Robinson" wurde eine Alphabetisierung in Venezuela durchgeführt, die unter Verwendung eines aus Kuba stammenden Ansatzes binnen weniger Jahre zu beeindruckenden Ergebnissen führte und international anerkannt wurde, da die UNESCO das Land im Jahre 2007 für analphabetenfrei erklärte. Eine Delegation der UNESCO, so erzählte Yoel Capriles, war im Zuge dessen auch in seinen Stadtteil gekommen. Sie hatte sich vor Ort ein Bild davon machen können, wie Bildungsarbeit in großem Umfang - rund eineinhalb Millionen Venezolaner haben durch die Mission "Robinson" lesen und schreiben gelernt - in den Stadtteilen und Gemeinden von den dortigen Basisgruppen direkt organisiert und geleistet werden kann.

Yoel Capriles ging in seinen Ausführungen auch noch einmal auf die Putschtage zwischen dem 11. und 13. April 2002 ein. Der Putschversuch hatte damit begonnen, daß die Opposition einen Demonstrationsmarsch im Osten der Stadt umgelenkt hatte zum Präsidentenpalast Miraflores, "wo wir uns befanden". Was weiter geschah, ist weitgehend auch hierzulande bekannt. Gleichwohl wies der Basisaktivist aus Caracas darauf hin, daß 19 Venezolaner, und zwar Angehörige sowohl der Chávez-Gegner als auch der Chávez-Unterstützer, von Scharfschützen erschossen wurden, die die Opposition auf den Dächern postiert hatte. Daß diese Morde vorab geplant worden waren, belegte er desweiteren damit, daß in Fernsehsendungen bei Berichten über den Staatsstreich schon zu einem Zeitpunkt von Toten die Rede gewesen war, als die tödlichen Schüsse noch gar nicht gefallen waren. Die Opposition hat sich, so Capriles, selbst verraten.

Yoel Capriles präsentiert die Verfassung Venezuelas

Yoel Capriles präsentiert die Verfassung Venezuelas

Der Präsident wurde entführt, die Putschisten vereidigten sich selbst, doch nach nur zwei Tagen konnte der Staatsstreich rückgängig gemacht werden durch "das revolutionäre Volk", das sich selbst organisiert und auf den Straßen mobilisiert hatte. Niemand hat uns gerufen, berichtete der Venezolaner: "Wir als revolutionäres Volk haben uns rund um den Präsidentenpalast und wichtige Militärstützpunkte versammelt." Den Putschisten blieb angesichts der ihr entgegenstehenden Volksmacht letzten Ende nur noch die Aufgabe und Flucht. Präsident Chávez konnte von den "revolutionären Streitkräften" gerettet werden und in den Präsidentenpalast zurückkehren. Als erste Amtshandlung, und an dieser Stelle schien bei Yoel Capriles so etwas wie verhaltene Kritik an Chávez anzuklingen, habe dieser dann der Opposition verziehen und "uns wieder nach Hause geschickt". Die Chávez-Gegner haben ungeachtet ihrer Niederlage mit ihrer Konspiration weitergemacht und, wenn auch letzten Endes vergeblich, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet.

"Wir als Volk sind ja die Regierung" - mit diesem Satz brachte Yoel Capriles, mit Sicherheit stellvertretend für viele andere, die wie er in den Basisorganisationen und kommunalen Räten politisch aktiv sind, sein Selbst-, Politik- und Staatsverständnis auf den Punkt. Doch was heißt das konkret und wie kann ein solcher Satz, der hierzulande leicht als floskelhafte Parole herrschaftskonformer Propagandamanöver aufgefaßt werden könnte, mit Leben gefüllt werden? Capriles machte in seinen Ausführungen deutlich, daß er davon ausgeht, daß es nicht unbedingt leicht zu verstehen sei, wie es in Venezuela und speziell in der Gemeinde, aus der er kommt und über die er berichten will, mit der Machtausübung durch das Volk (und nicht über das Volk) aussieht. Um sich diesem schwierigen Thema anzunähern, erläuterte er zunächst die eigens für diesen Prozeß und dessen Absicherung geschaffenen gesetzlichen Grundlagen, indem er ein Exemplar des "Ley Orgánica" (Organgesetz) für die kommunalen Räte ("Consejos Comunales") hochhielt.

Dies sei, so der Übersetzer, das "Grundgesetz für die Gemeinderäte", was im deutschen Sprachgebrauch nicht mißverstanden werden darf, da das hiesige Grundgesetz mit der Verfassung identisch ist, während das angesprochene Organgesetz Venezuelas nicht die Verfassung selbst, wohl aber ein "Gesetz mit Verfassungsrang" darstellt. Die Frage, wie die Machtausübung durch das Volk in den kommunalen Räten aufgebaut ist und praktisch funktioniert, stellte das zentrale Thema des Vortragsabends oder vielmehr Forums zum Thema Volksmacht in Venezuela dar. Unterstützt durch ein DIN-A4-Papier, aus dem die in den jeweiligen Artikeln dieses Gesetzes dezidiert ausformulierten einzelnen Schritte dieser Arbeit aufgelistet waren und das unter den Forumsteilnehmern verteilt wurde, ging Yoel Capriles nun ins Detail.

Ein kommunaler Rat entsteht durch die Eigeninitiative mehrerer Bewohner. Drei oder vier Nachbarn beispielsweise haben die Idee und bilden eine Gründungskommission. Alsbald wird eine Versammlung aller über 15jährigen Bürger und Bürgerinnen in dem betreffenden geographischen Gebiet einberufen. Auf dieser Versammlung wird über die Bedeutung des zu gründenden kommunalen Rates gesprochen. Es wird darüber debattiert, welche Ausschüsse und Komitees geschaffen werden sollten. All dies, die gesamten Vorbereitungen wie auch die Arbeiten in den Räten, wird von den Menschen aus den jeweiligen Stadtvierteln oder auch ländlichen Gemeinden geleistet. Um einen kommunalen Rat ins Leben zu rufen, wird in den Städten ein Gebiet bestimmt, das zwischen 150 und 400 Familien umfaßt. Auf dem Land genügen zehn bis zwanzig Familien, in Gebieten mit indigener Bevölkerung reichen stets zehn. Zu der Versammlung müssen, damit sie entscheidungsfähig ist, mindestens zehn Prozent der Bevölkerung kommen. Zur weiteren Gründungsvorbereitung gehört eine sozio-ökonomische Bestandsaufnahme, was ganz einfach heißt, daß genau erfaßt wird, wieviele Menschen in wievielen Häusern wohnen, wieviele Kinder es in dem Stadtteil gibt usw. Die Geschichte des Barrios wird ebenfalls recherchiert.

Am Wahlprozeß müssen sich mindestens 30 Prozent der Bevölkerung beteiligen. Gewählt werden die Mitglieder der Wahlkommission und ihre Vertreter, die Sprecher des Rates sowie die Angehörigen weiterer Ratsgremien inklusive ihrer Stellvertreter. Dabei ist allerdings entscheidend, daß die Entscheidungen des Rates ausschließlich in den Vollversammlungen gefällt werden, daß also die auf diesen gewählten "Funktionäre" nicht anstelle der Basis entscheidungsbefugt sind, sondern ihren jeweiligen Aufgaben nachzukommen haben. Diese Aufgaben ergeben sich aus den auf den Vollversammlungen vorgeschlagenen und beschlossenen Projekten bzw. ihrer Durchführung sowie der Kontrolle dieser Durchführung. Anders ausgedrückt: Es gibt in den Kommunalen Räten ausführende, administrative und "soziale" Kontroll-Gremien, deren Aufgabe es ist sicherzustellen, daß die Projekte wie beschlossen durchgeführt, die Finanzen zu dem besagten Zweck verwendet und die Arbeiten wie geplant ausgeführt werden. Sobald die vorbereitenden Schritte abgeschlossen sind, kann der Kommunale Rat beim Ministerium der Volksmacht für die Kommunen registriert werden, er wird dadurch zu einer "juristischen Person".

Wie die Arbeit des Kommunalen Rates in der Praxis aussieht, schilderte Capriles anhand verschiedener, in seiner Gemeinde durchgeführter Projekte. Da dieser Stadtteil auf einem Berg liegt und, wie viele Barrios in der Hauptstadt Caracas, über Straßen schlecht zu erreichen ist, bestand das erste, vom frisch gegründeten Rat in Angriff genommene Projekt in der Ausbesserung einer Treppe und weiterer Wege. Die Bürgerversammlung stimmte dem zu, die nationale Regierung bewilligte und übergab die finanziellen Mittel. Da das Projekt in Eigenarbeit durchgeführt wurde, blieb Geld übrig, über dessen Verwendung abermals die Bürgerversammlung entschied. Es wurde für soziale Projekte in der Gemeinde eingesetzt. Das nächste Projekt, wiederum auf der Versammlung beschlossen, betraf den Bau eines Gemeindehauses, was zunächst daran scheiterte, daß das vorgesehene Grundstück sich als nicht geeignet erwies. Auf der nächsten Versammlung wurde diskutiert, was nun zu tun sei, beschlossen wurde der Kauf eines Hauses. Auch dieses Projekt wurde vom Staat bestätigt und finanziert. Abermals blieben noch Mittel übrig, die, wie von der Bürgerversammlung beschlossen, wiederum in soziale Projekte der Gemeinde flossen.

Yoel Capriles wies darauf hin, daß die Unterstützung durch den Staat sich nicht nur auf die finanziellen Fragen bezieht, sondern auch, wie er es formulierte, die "soziale Schuld" betrifft. Damit sind Versäumnisse der Vergangenheit gemeint wie zum Beispiel nicht ausgestellte Papiere für die Barriobewohner. Zum Verständnis wäre wohl wichtig hinzuzufügen, daß die Barrios rund um die Hauptstadt im Zuge der Landflucht einst als illegalisierte Ansiedlungen entstanden sind, deren Bewohner oftmals ohne eine reguläre Infrastruktur auskommen mußten und sich einer Staatsgewalt gegenübersahen, die die Armensiedlung viel eher auflösen als die Armut in ihnen bekämpfen wollte. Heute sieht das alles anders aus, und so berichtete Yoel Capriles aus einem der größten Barrios von Caracas, dem Stadtteil "23. Januar" und über die vielen Gesundheits-, Kultur- und Sportveranstaltungen, die es jetzt auch in seiner Gemeinde gibt.

Zusammenfassend stellte er noch einmal klar, was vielleicht schwer zu glauben sei, nämlich daß die Bevölkerung in der Gemeinde tatsächlich die Macht ausübt. Wenn sie sich, in dem gesetzlichen Rahmen der Kommunalen Räte, für ein bestimmtes Projekt entscheidet, kann und darf keine staatliche Institution ihr dies verwehren und beispielsweise, wie dies in Ländern ohne partizipative Demokratie üblich ist, ein Bauprojekt beschließen, das die Menschen in dem Viertel gar nicht wollen. In seinem Stadtteil war es im übrigen das erste Mal, daß die Bewohner mit dem Bau der Treppe ein Projekt so durchführen konnten, wie sie es wollten. Capriles sprach dann noch von der Weiterentwicklung dieser kommunalen Arbeit, die bereits in größeren geographischen, aber auch inhaltlichen Zusammenhängen vorangetrieben wird. So können sich, was bereits geschieht, mehrere kommunale Räte zu einer Kommune zusammenschließen, in der dann größere Projekte durchgeführt werden können. An der Finanzierung ist nicht nur die nationale Regierung beteiligt, auch Landesregierungen und Stadtverwaltungen, so Capriles, unterstützen die Arbeit der kommunalen Räte.

All dies möchte Capriles als einen Entwicklungsprozeß verstanden wissen hin zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", der auf der Partizipation sowie dem eigenständigen Handeln der Bevölkerung beruht. Das bereits angesprochene Organgesetz für die Kommunalen Räte soll die Gewähr dafür bieten, daß dieser von der Selbstregierung des Volkes in Gang gesetzte Prozeß auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, wenn es der Opposition gelingen sollte, die Mehrheit in der Nationalversammlung, dem Parlament Venezuelas, zu erlangen. Eine solche Gefahr und durchaus reale Bedrohung des Bolivarianischen Prozesses besteht sehr wohl, da im September Parlamentswahlen bevorstehen, bei denen im aus Sicht der "Volksmacht" denkbar schlechtesten Fall die Regierungspartei PSUV ihre Mehrheit und Präsident Chávez damit die parlamentarische Basis in der Gesetzgebung verlieren könnte.

Hierzulande mag es befremdlich klingen, wenn Capriles am Schluß seiner Ausführungen erklärte, daß es der revolutionären Regierung darum ginge, der Bevölkerung zum größtmöglichen Glück zu verhelfen. Es versteht sich von selbst, daß die vielen Basisorganisationen und Aktivisten der Kommunalen Räte - an diesem Abend, an dem in einem Hamburger Veranstaltungsraum "ein kleiner Hauch Venezuela" wehte, durch einen der Ihren repräsentiert - bei den bevorstehenden Parlamentswahlen ihre Interessen durch eine Unterstützung der Regierung Chávez verteidigen werden, und wer wollte Yoel Capriles widersprechen, wenn er zum Abschluß des ersten Teils dieses Forums, bevor dessen Teilnehmer durch eigene Fragen, Überlegungen und Stellungnahmen in einen aktiven Dialog mit ihm traten, erklärte: "Die Beteiligung des Volkes, das kann ich heute hier sagen, ist auch auf internationaler Ebene sehr wichtig"?

So lebendig und intensiv kann ein Forum sein

Als die Veranstaltung zum zweiten Abschnitt überging, der als Forum eines beiderseitigen Lernprozesses konzipiert war, welcher Fragen, Anregungen, Einwänden und Stellungnahmen Raum gab, wurde noch einmal deutlich, welches Schattendasein der Internationalismus in der deutschen Restlinken inzwischen führt. Sah man sich interessiert um, wer nun mit Handzeichen seinen Beitrag ankündigte und die Stimme erhob, machte man die wenigen vertrauten Gesichter jenes versprengten Häufleins Standhafter aus, die ihre Fahne weder in den Wind mehrheitsfähiger Meinungen hängen, noch sich in die Resignation verabschiedet haben. Bedenkt man, daß internationale Solidarität vormals ein geradezu selbstverständliches Anliegen des linken Spektrums war, mutete die kaum noch spürbare Resonanz auf den Besuch eines bekannten Basisaktivisten aus Venezuela in einer Metropole wie Hamburg nachgerade deprimierend an. Dies gilt um so mehr, als allenthalben die Klage das Feld beherrscht, es fehle schlichtweg an Beispielen und Vorbildern, den herrschenden Kräften etwas entgegenzusetzen. Wenngleich gerade die Entwicklung in Venezuela in der theoretischen Debatte durchaus präsent ist, scheint dies kaum noch nennenswerten Niederschlag an der hiesigen Basis zu finden.

Was immer Yoel Capriles und seine Mitstreiterinnen dabei empfunden haben mögen, so ließen sie sich von diesen mißlichen Umständen jedenfalls nicht ins Bockshorn jagen. Sie waren in diesem Saal so zahlreich und präsent, daß sie auch im Forum die Initiative ergriffen und die Diskussion in wesentlichen Teilen gestalteten. Aus deutscher Sicht war es freilich ungewohnt, daß die Wortbeiträge aus dem Plenum überwiegend in spanischer Sprache gehalten wurden und man sich in einer klaren Minderheit wiederfand, derentwegen eine Übersetzung erforderlich war. Wirklich befremdlich wirkte das jedoch nie, zumal der Funke lebhafter Debatten, scherzender Anspielungen oder herzhaften Gelächters auch dann übersprang, wenn man zunächst gar nicht verstand, was inhaltlich gesagt worden war. Ja man ertappte sich sogar dabei, sich plötzlich mitzufreuen oder mitzulachen, ohne sich Rechenschaft über die Gründe geben zu können.

Wollte man diese erfrischende Atmosphäre auf die südamerikanische Mentalität zurückführen, wäre das sicher nicht von der Hand zu weisen, doch keineswegs eine hinreichende Erklärung. Fröhlichkeit kann bekanntlich unversehens zu einem Ausschlußkriterium werden, wenn man diese Stimmung gerade nicht teilt. In diesem Falle verhielt es sich jedoch so, daß man ohne Umstände einbezogen wurde, ohne auf irgendeine Weise gedrängt oder animiert zu werden. Am besten ließe sich die Situation wohl so beschreiben, daß man bei Venezolanern und ihren chilenischen und bolivianischen Freunden zu Gast war und als solcher wie selbstverständlich aufgenommen wurde. Vor allem aber war zu spüren, daß man auf Menschen traf, die auf Grund ihrer Lebenserfahrung etwas zu sagen hatten und die darüber hinaus ein gemeinsames wohlgegründetes Anliegen verband.

Zeichnen sich die Diskussionsrunden auf Veranstaltungen zu politischen Themen hierzulande in aller Regel durch gegenseitige Anwürfe, entufernde Belehrungen und eskalierende Streitigkeiten aus, bis man entzweit und verbittert auseinandergeht, war dies bei der Zusammenkunft in der Werkstatt 3 auf wohltuende Weise nicht der Fall. Zwar versuchten zwei anwesende Spartakisten, im Predigerstil die Sünden des Chavismus zu verdammen und die leninistische Wahrheit zu verkünden, doch regte sich ob dieser Form belehrender Agitation alsbald Unmut unter den Zuhörern. Die angesprochenen Themen waren durchaus der Erörterung wert, kreisten sie doch um Fragen wie Privateigentum, Verstaatlichung, Kapitalismus und Sozialismus, wie sie bei der gesellschaftlichen Umgestaltung in Venezuela essentiell und vieldiskutiert sind. Die "Chavistas" mit dem Vorwurf vor den Kopf zu stoßen, sie seien ein Hindernis für den Sozialismus, restaurierten den Kapitalismus und machten gemessen an klassischer Doktrin alles falsch, ist indessen ein Affront, der nur Abwehr auf den Plan rufen kann.

Wie ging Yoel Capriles mit dieser Situation um? Weder gab er den Angriff in entsprechender Schärfe zurück, noch entzog er sich dieser Herausforderung. "Sind Sie schon einmal in Venezuela gewesen?", brachte er die Anmaßung der Besserwisserei aus der Ferne einleitend auf den Punkt, um dann scherzend fortzufahren, "oder hat Sie etwa die Opposition geschickt?" Dann sprach er von den Wurzeln der Revolution in seinem Land und den Schritten zu deren Durchsetzung. Er verteidigte die Errungenschaften, nannte Probleme beim Namen und hob hervor, daß es sich um einen Prozeß handle, der in vollem Gange sei. "Wie kann es sein, daß wir keinen Kommunismus, keinen Sozialismus haben?", fragte er rhetorisch und erinnerte daran, daß Comandante Chávez dazu aufgerufen hat, einen gemeinsamen Gestaltungs- und Entscheidungsprozeß voranzutreiben.

Engagierte Beteiligung des Publikums

Engagierte Beteiligung des Publikums

Nach einem zweiten nicht minder vorwurfsvollen Anwurf seitens der Spartakisten spielte er den Ball kurzerhand zurück und erklärte, über das kommunistische Manifest und seine Umsetzung wolle er gerne diskutieren. Sollte ein Forum zu diesem Thema in Deutschland organisiert werden, werde er daran teilnehmen und etwas lernen. Mit dieser Erwiderung nahm er den Wortbeitrag so ernst, wie das unter den Umständen möglich war, ohne sich auf einen fruchtlosen Abtausch ideologischer Versatzstücke und gegenseitiger Bezichtigungen einzulassen. Berücksichtigt man, daß die Spartakisten auf deutschen Veranstaltungen gnadenlos niedergebrüllt werden, sobald sie sich zu Wort melden, so demonstrierte Yoel Capriles eine Souveränität und Offenheit, die auf seinem Umgang in gegenseitiger Achtung beruht.

Es mag nebensächlich anmuten, daß sich der Aktivist aus Caracas nicht hinter einem Tisch auf dem Podium verschanzte, sondern durchweg stand und direkt mit den Zuhörern sprach, ja nicht selten sogar vom Podest heruntersprang, um das Mikrofon persönlich weiterzureichen. Von hochnäsigem Expertentum, Bedeutungswahn oder selbstverständlicher Arbeitsteilung zu Lasten untergebener Hilfskräfte war nicht das Geringste zu spüren, wohl aber von dem Wunsch, diese Begegnung bestmöglich zu einem beiderseitigen Lernprozeß zu nutzen. Aus seinem Mund war das keine hohle Phrase, brachte er doch seine Erfahrung nicht nur freigiebig und erzählfreudig ein, sondern öffnete ein ums andere Mal die Tür zum vielstimmigen Gespräch.

Die Stärke seiner Gesprächsführung beim Forum kam darin zum Ausdruck, daß sie als solche kaum jemals störend in Erscheinung trat. Dabei gleicht das Sammeln unterschiedlicher Fragen aus dem Plenum und deren Beantwortung bekanntlich dem Hüten eines Sacks voller Flöhe, das in den allermeisten Fällen mehr oder minder in die Hose geht und wachsende Unzufriedenheit produziert, bis man sein Heil im Abbruch der zerfransenden Debatte sucht. Yoel Capriles hingegen nahm das Gespräch in die Hand, bündelte Fragen, faßte Antworten zusammen und ließ dennoch keinen Beitrag unter den Tisch fallen. Mit einem Minimum an formalen Vereinbarungen und dabei doch klar strukturiert, mündete das Forum in eine gelungene Zusammenführung ihrer Natur nach auseinanderstrebender Ansichten, Wünsche, Befindlichkeiten und Werthaltungen für die Frist der Zusammenkunft. Wollte man den trockenen Begriff Didaktik darauf anwenden, könnte man durchaus von einem Lehrstück sprechen. Lebensnäher ausgedrückt fühlte man sich in diesem Kreis schlichtweg auf eine Weise wohl und angeregt, wie man dies auf politischen Veranstaltungen ansonsten kaum erlebt.

Dabei fehlte es auch auf venezolanischer Seite keineswegs an Skeptikern, wenngleich diese deutlich in der Minderheit waren. Soweit ersichtlich, handelte es sich dabei um Menschen, die schon geraume Zeit in Deutschland leben und die Veränderungen in ihrer Heimat eher aus der Ferne und mit einer gewissen Distanz verfolgen. So gab ein Diskussionsteilnehmer zu bedenken, daß die Gemeinderäte unkontrollierte Bautätigkeit förderten. Leute ohne Ausbildung sollten sich lieber von Fachleuten beraten lassen, damit sie nicht das Rad zum zweiten Mal erfinden. Brach sich in dieser Einlassung ein herablassendes Expertenverständnis Bahn, das dem "ungebildeten" Volk in den Barrios fachkundige Kompetenz rundweg absprach, so verwies Yoel Capriles souverän auf die umfassenden Bildungsprozesse von unten.

Daß der immanente Widerspruch von Staat und Volksmacht fortgesetzter Korrektur bedarf, stellte er dabei keineswegs in Abrede. So erinnerte er daran, daß Präsident Chávez zunächst mit seiner Alphabetisierung gescheitert sei. Erst die "Missionen" unter innigster Beteiligung der Menschen an der Basis brachten den Durchbruch, der ein Wachsen in diesem Prozeß beförderte. Der Referent empfahl in diesem Zusammenhang das Buch über Erfahrungen in den Gemeinden von Eva Haule, das auf anschauliche Weise die Arbeitsbesprechungen und deren Resultate erhellt. Vorrang, so betonte er mehrfach, hätten die Absichten der Gemeinderäte, denen sich andere Strukturen nachordnen müßten. Beispielsweise bestimme die Gemeinde auf Grund ihrer Bedürfnisse und Prioritäten, was gebaut wird, nicht jedoch eine höhere Instanz.

"Am 13. April 2002 haben wir uns selbst gerufen", unterstrich Yoel Capriles die eigenständige Kraft der Basis in den Barrios, die damals die Putschisten aus dem okkupierten Regierungssitz verjagt hatte. Gleichermaßen verfüge das Volk über Möglichkeiten zu lernen und sich erforderliche Kompetenzen anzueignen. Gemeinderäte müssen eine Ausbildung durchlaufen, die sie in die Lage versetzt, Projekte auszuarbeiten. Auch die Verwaltung der Finanzen komme natürlich nicht ohne entsprechende Schulung aus, wolle man einen wirksamen Rechnungshof von unten schaffen. Dabei sehe man sich dem bürgerlichen Staat und dessen Strukturen gegenüber, doch verfüge man über einen Bündnispartner in Gestalt der Regierung, die sich gleichermaßen auf die Fahnen geschrieben habe, den bürgerlichen Staat in einen kommunalen und sozialen Staat zu überführen. Wesentlich bleibe in diesem Prozeß, daß sich die Menschen an der Basis den Willen zur Veränderung zu eigen machten.

Daß dabei nicht schiere Willkür von Partialinteressen überhandnimmt, gewährleiste der gesetzliche Rahmen. So könne die Gemeinde natürlich nicht bestimmen, daß jemand aufgehängt wird, scherzte Capriles, behalte sich aber durchaus vor, gegen Gruppierungen vorzugehen, die ihre nicht von gemeinsamen Beschlüssen getragenen Vorstöße brachial durchzusetzen versuchen. Auch den erhobenen Einwand, daß bei der Abschaffung traditioneller Institutionen doch deren Beschäftigte arbeitslos würden, entkräftete er im Rahmen gesetzlicher Vorgaben und darin offengehaltener Vorgehensweisen. Wo Strukturen wie Stadtverwaltungen verschwinden, was mitunter durchaus der Fall sei, gelte es angesichts des grundsätzlich geltenden Kündigungsschutzes Lösungen zu finden. Um einen Bürgermeister abzuschaffen, müßte man die Verfassung ändern, womit eine hohe Hürde gesetzt ist. Unter dieser Voraussetzung gelte es neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden, da zwar Strukturen verschwänden, doch die Menschen blieben.

Eine ganze Reihe von Fragen kreisten um das Verhältnis der kommunalen Räte zu traditionellen Strukturen der Verwaltungsämter. Hier stellte Yoel Capriles unmißverständlich klar, daß den Gemeinderäten der Vorrang gebühre, wie dies auch in der entsprechenden Gesetzgebung verankert sei. Der Aufbau des sozialen Staates sei naturgemäß ein zäher Prozeß, den zu beschleunigen zu den vordringlichen Aufgaben der Basisbewegungen gehöre. Dabei hielt der Referent nicht mit seiner Überzeugung hinter dem Berg, daß die Gemeinderäte nicht von Parteien durchdrungen werden sollten, wie er auch den klassischen gewerkschaftlichen Beteiligungsmodellen eine Absage erteilte. Er selbst sei ein sozialer Kämpfer und Revolutionär, der politische Verantwortung anstrebe, jedoch Posten weder begehre noch einnehme.

Der anwesende Vertreter einer lokalen Initiative in Hamburg, die sich vordringlich mit Gemeindethemen befaßt, berichtete von den enormen Problemen, Menschen für diese Arbeit zu gewinnen: "Wie schafft ihr das in Venezuela, diese enorme Arbeit zu bewältigen?" Yoel Capriles bestätigte daraufhin, daß für die Gemeinderäte ein Zwölfstundentag die Regel sei, wozu noch Versammlungen in den Abendstunden kämen. Dann kam er auf die Bedeutung der Frauenfront zu sprechen und scherzte, daß inzwischen die Männer im Nachteil seien, was ihm sofort lebhaften Protest aus den Reihen seiner wachsamen Mitstreiterinnen eintrug. Ernsthaft fortfahrend zählte er dann eine lange Reihe von Frauen in hohen Ämtern Venezuelas auf und vergaß am Ende nicht, auch die anwesende Konsulin als Beispiel anzuführen.

Wie er hervorhob, sei dieses Engagement in den Barrios keine Frage der Motivation. Vielmehr existiere eine Kultur der Beteiligung, die schon in der IV. Republik und damit vor Amtsantritt des Kommandanten Chávez ausgeprägt gewesen sei. Es handle sich um ein gesellschaftliches Bestreben, etwas für die Gemeinde zu tun. Heute könne man mit Fug und Recht sagen, daß so gut wie alle Initiativen in Venezuela von der politischen Absicht getragen seien, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu schaffen.

Gegenkräfte treten in diesem Prozeß auf vielen Ebenen in Erscheinung, denn wie Präsident Chávez aller Welt beweisen müsse, daß er Sozialist und Demokrat ist, habe er es im eigenen Land mit einer Front feindlich eingestellter Massenmedien zu tun. Privateigentum werde in Venezuela respektiert, wobei die Regierung Schritt für Schritt Privatunternehmen übernehme, die gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen, was zwangsläufig von heftigen Anfeindungen seitens der Opposition begleitet sei. Hinzu kommen Einzelpersonen und Kräfte, die sich als "Chavistas" ausgeben, um nach Erreichen einflußreicher Positionen ihrer privaten Bereicherung nachzugehen. Die Regierung gehe gegen Korruption in der eigenen Administration vor, wie Festnahmen und Strafverfahren belegten.

SB-Redakteure bei der Arbeit

SB-Redakteure bei der Arbeit

Auf die Frage, ob es zu gewaltsamen Angriffen wirtschaftlich oder politisch motivierter Akteure bis hin zu Paramilitärs auf die Basisbewegung gekommen sei und mit welchen Mitteln sich diese solcher Übergriffe erwehre, gab Yoel Capriles eine entschiedene Antwort. Paramilitärs gebe es in den Barrios nicht, wozu der Aufbau der Milizen maßgeblich beitrage. Was aber die einzelnen Stadtteile betreffe, hätten diese gegen solche Kräfte Stoßtrupps organisiert, die über starke Mittel verfügten. Wohl habe es vor dem Staatsstreich Angriffe gegeben, doch heute könnten das feindlich gesonnene Kräfte allenfalls in ihren eigenen Stadtteilen machen, nicht jedoch in den Barrios.

Eine andere Frage aus dem Plenum thematisierte den Haß gegen Chávez in Teilen der venezolanischen Gesellschaft, vor allem aber in Kolumbien. Dessen designierter Präsident Santos habe den USA versprochen, Chávez und Morales zu erledigen: "Wie geht ihr damit um?" Der Basisaktivist unterstrich in seiner Antwort, daß es keine pauschale Ablehnung von Kolumbianern gebe. Venezuela gewähre sogar Kolumbianern Schutz, die das jedoch schlecht dankten, indem sie Santos wählten, der für die Paramilitärs verantwortlich sei. Es tue weh, viele Kolumbianer und andere Landsleute zu sehen, die gegen Chávez eingestellt seien, obgleich sie die sozialen Errungenschaften Venezuelas gern in Anspruch nehmen. Schuld treffe in hohem Maße die Medien, die zur Spaltung des Volkes beitrügen. Hinsichtlich der militärischen Zusammenarbeit hätten es die USA bekanntlich abgelehnt, die venezolanische Regierung zu unterstützen. Diese mußte sich daher an andere Partner wenden, die sie in Rußland und China gefunden habe.

Krönendes Schlußwort der Diskussion

Krönendes Schlußwort der Diskussion

Abgeschlossen wurde das Plenum vom Wortbeitrag einer Venezolanerin, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Wie sie berichtete, stamme sie aus einem armen Stadtteil: "Wäre es damals gut gewesen, wäre ich nicht weggegangen." In jener Zeit habe es Dörfer ohne Schule, Kinder ohne Zugang zu ärztlicher Betreuung und viele andere Mißstände gegeben. "Unter Comandante Chávez gibt es das nicht!" Wenn sie heute Venezuela besuche, könne sie überall große Veränderungen feststellen. Vor allem aber existiere politisches Bewußtsein. Früher habe man beim Friseur über Fernsehen oder Mode geredet, heute redet man sogar dort wie selbstverständlich über Politik. Ob geplant oder spontan, war dieser emotional und engagiert vorgetragene Beitrag ein krönendes Schlußworts des Forums, wie man es sich besser nicht wünschen konnte.

Yoel Capriles dankte abschließend noch einmal der Konsulin und den deutschen Unterstützern, wobei er die Basisgruppen bat, die gemeinsame Arbeit weiterhin zu unterstützen. Er werde diese Erfahrung mitnehmen und nie vergessen. Dem soll an dieser Stelle hinzugefügt werden, daß der Dank dem Basisaktivisten aus Caracas und seinen Freunden gebührt, die ihr Engagement und ihre Verbundenheit in die Werkstatt 3 gebracht haben, wo sie alle freigiebig daran teilhaben ließen.

Schulterschluß in Aktion

Schulterschluß in Aktion

Entgangenes Interview nur ein Mißverständnis?

Fraglos ist an diesem interessanten Abend in Hamburg ein bißchen "venezolanische Atmosphäre" entstanden, vermittelt durch Yoel Capriles wie auch die Forumsveranstalter, denen insgesamt anzumerken war, daß eine strikte Rollenverteilung zwischen aktiven Podiumsreferenten und passivem Publikum ihrer politischen Praxis nicht unbedingt entspricht. Da Capriles in seinem Schlußwort noch einmal zum Ausdruck brachte, wie sehr ihn die persönliche Anwesenheit der Stellvertretenden Generalkonsulin Venezuelas in Hamburg, Jaidys Briceño, gefreut habe, steht zu vermuten, daß er dies als ein konkretes Ergebnis der "Volksmacht in Venezuela", verstanden als eine kooperative Zusammenarbeit zwischen den "einfachen" Menschen im ganzen Land und "ihrer" sozialistischen Regierung, auch hier in Hamburg bewertet wissen wollte. Da diese Entwicklung, auch dies ist an diesem Abend deutlich geworden, keine reine Erfolgsgeschichte, sondern mit massiven Problemen auch im eigenen Lager behaftet ist, kann es nicht verwundern, daß sich bei dieser insgesamt hervorragenden Präsentation auch gegenläufige Tendenzen Bahn brachen.

Davon war die Schattenblick-Redaktion in eigener Sache betroffen. Ein vorab mit dem Generalkonsulat in Hamburg als einem der Mitveranstalter vereinbartes Interview mit Yoel Capriles, aus dem, so die Worte eines Konsulatsmitarbeiters, ein längeres Gespräch hätte werden können, zumal die venezolanische Musikgruppe abgesagt hatte, fiel ins Wasser.

Offensichtlich hatte die für Hamburg mitverantwortliche Managerin Eva H. , gut gemeint vielleicht wegen des doch bereits sehr ermüdeten Joel Capriles, irrtümlich, weil sie es möglicherweise nicht besser wußte oder mit einer Motivation, die wir uns ersparen wollen zu erforschen, den Drang, dieses vorab bereits vereinbarte Interviewgespräch mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern.

Unsere Nachfrage bei anderen Verantwortlichen ergab schließlich doch, daß die Zurückweisung des Interviews illegitim und ohne Wissen und Absicht aller übrigen Beteiligten von Frau H. durchgesetzt wurde. Deshalb müssen wir an dieser Stelle auf die sicherlich interessanten ergänzenden Pointierungen eines informativen Gesprächs nach dieser sonst gelungenen Veranstaltung verzichten.

Veranstaltungsort Werkstatt 3

Veranstaltungsort Werkstatt 3

23. Juni 2010