Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/321: Kolonialwirtschaftsgeschichte - am Beispiel Hamburgs ... (SB)



Foto: [Public domain] via Wikimedia Commons

Kolonialmetropole Hamburg - Holländischer Brook um 1895
Foto: [Public domain] via Wikimedia Commons

Hamburg gilt mit 42.000 Einkommensmillionären und, nach Angaben der Schweizer Großbank UBS [1], 18 Milliardären als reichste Stadt Deutschlands. Das Bild einer Hafen- und Handelsmetropole, deren historisch gewachsene Überseegeschäfte den ungewöhnlichen Wohlstand ihrer gutsituierten Bürger zu erklären scheinen, verschweigt die dominierende Rolle der Hansestadt in der deutschen Kolonialgeschichte. Doch dieses Tabu wurde inzwischen gebrochen. In Hamburg wie auch in Berlin und anderen Städten und Regionen Deutschlands haben zivilgesellschaftliche Initiativen durch ihre öffentlichkeitswirksamen Proteste diesen Teil deutscher und europäischer Geschichte aus einer Versenkung geholt, in der er aus naheliegendsten Gründen und mit Gewißheit interessengebundenen Absichten seit über einem Jahrhundert gehalten worden war.

Die Stadt Hamburg wie auch das offizielle Berlin treten die Flucht nach vorn an. Erstmals wurde die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte zur Regierungssache erklärt, sie gehört laut Koalitionsvertrag nun zum "demokratischen Grundkonsens". Bereits 2014 hatte der Hamburger Senat unter Leitung von Jürgen Zimmerer, Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg, dort eine Forschungsstelle eingerichtet, die sich mit der Aufarbeitung des (post)kolonialen Erbes der Stadt befaßt. Jetzt haben die Geschichtsforschenden Zwischenbilanz gezogen. Demnach hat Hamburg von allen Städten Deutschlands am meisten vom Kolonialismus profitiert und war am stärksten in die Kolonialpolitik Europas involviert.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Gebäudeverzierung am Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765
Foto: © 2018 by Schattenblick

Auf einer am 4. Juni von der Hamburger Patriotischen Gesellschaft von 1765 [2] und dem Verein für Hamburgische Geschichte organisierten Podiumsdiskussion zum Thema "Hamburgs koloniales Erbe - Wie gehen wir mit unserer Geschichte um?" erklärten die Veranstalter in der Einladung, daß die Hansestadt - neben Berlin - die Bezeichnung "Kolonialmetropole des Kaiserreichs" zu Recht getragen habe. Ingrid Nümann-Seidewinkel, Vorsitzende der Hamburger Patriotischen Gesellschaft, betonte in ihren Begrüßungsworten, daß die kritische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte viel zu lange ausgeblieben sei.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Rainer Nicolaysen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Das Thema ist längst überfällig, so auch Prof. Dr. Rainer Nicolaysen vom Verein für Hamburgische Geschichte, der die Veranstaltung moderierte. Der Anfang ist gemacht. Im November 2017 gab es den ersten "Runden Tisch" mit über 100 Teilnehmenden. Anfang April wurden Repräsentanten der Opferverbände der Herero und Nama offiziell vom Senat empfangen. Kultursenator Carsten Brosda erklärte angesichts der Hamburger Rolle bei dem an diesen im heutigen Namibia lebenden Völkern von deutschen Truppen verübten Völkermords: "Ich kann Sie nur um Vergebung bitten." [3]

Neben Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, dem Leiter der Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe - Hamburg und die frühe Globalisierung", nahmen an der Podiumsdiskussion Millicent Adjei, Mitbegründerin und Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins "Arca - Afrikanisches Bildungszentrum e.V." und Mitglied im "Arbeitskreis Hamburg Postkolonial", Tom Gläser, Aktivist in der "Initiative Schwarze Menschen in Deutschland" und Mitbegründer des "Arbeitskreises Quo Vadis", die im April die Konferenz "Koloniales Vergessen: Quo Vadis Hamburg?" organisierte, sowie die Ethnologin und Afrika-Expertin Prof. Dr. Barbara Plankensteiner, seit April 2017 Direktorin des Hamburger Völkerkundemuseums, teil.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Millicent Adjei, Tom Gläser, Prof. Dr. Barbara Plankensteiner und Prof. Dr. Jürgen Zimmerer (v.l.n.r.)
Foto: © 2018 by Schattenblick

Von der "Kolonialmetropole Hamburg" und "Deutschlands Tor zur kolonialen Welt" zu sprechen, könne, so erklärte Prof. Zimmerer zu Beginn seines Eröffnungsreferats, als ungewöhnliche Aussage empfunden werden oder sogar Widerspruch hervorrufen. Doch der Hamburger Hafen stellte vor der Mitte des 20. Jahrhunderts das Verbindungsstück zwischen dem deutschen Hinterland und der weiten Kolonialwelt dar. In Hamburg wurde mit Kolonien, auch unabhängig gewordenen, und Kolonialwaren gehandelt und zum Teil sogar mit Menschen. Als besonders sinnbildlich für die tiefe Verflechtung Hamburgs mit seiner kolonialen Vergangenheit könnte die Speicherstadt bezeichnet werden, der weltweit größte historische Lagerhauskomplex, der 1991 unter Denkmalschutz gestellt und 2015, zusammen mit dem Kontorhausviertel und dem Chilehaus, von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde.


Foto: by Wolfgang Meinhart, Hamburg [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons

Die Speicherstadt im Hamburger Hafengebiet
Foto: by Wolfgang Meinhart, Hamburg [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons

Doch nicht allein die geographisch günstige Lage des Hafens begründete den Aufstieg der Hansestadt zur Kolonialmetropole, waren es doch vielfach Bürger der Stadt, tatsächlich Männer, die den Aufstieg des Deutschen Reichs zur Kolonialmacht vorantrieben.

Zum kolonialen Erbe Hamburg ist beispielsweise der deutsch-dänische Kaufmann und Reeder Heinrich Carl von Schimmelmann (1724-1782) zu rechnen. Durch seine über den Hamburger Hafen abgewickelten Afrikageschäfte stieg er zum reichsten Mann Europas auf - und war der größte Sklavenhändler seiner Zeit. Dieser "Reichtum" ermöglichte es ihm, in Ahrensburg und Wandsbek als Wohltäter aufzutreten, wofür er 2006 mit einer Statue geehrt wurde, was zu sofortigen Protesten führte. An führender Position hat sich die Hamburger Familie Woermann in die deutsche Kolonialgeschichte eingeschrieben. Adolph Woermann, Präses der Hamburger Handelskammer und Reichstagsabgeordneter, wandte sich 1883 mit dem Ersuchen mehrerer Kaufmannsfamilien an Reichskanzler Otto von Bismarck, ihre in Westafrika "erworbenen" Besitzungen unter den Schutz des Deutschen Reiches zu stellen.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Jürgen Zimmerer
Foto: © 2018 by Schattenblick

Dies dürfte, so Prof. Zimmerer, nicht der einzige Grund für Bismarck gewesen sein, seine zuvor kolonialkritische Haltung aufzugeben, aber auch kein unwesentlicher. Das Deutsche Reich wurde 1885 offiziell Kolonialmacht, wovon Hamburg, besser gesagt die im Überseehandel tätigen Hamburger Kaufmannsfamilien, mehr profitierten als das Deutsche Reich selbst, für das sich die kolonialen Raubzüge und Besitzstandswahrungen in ökonomischer Hinsicht als verlustreich erwiesen. Bis heute dürfte in Hamburg wenig bekannt sein, wie eng die symbiotische Verbindung zwischen der großen Politik und der Hamburger Wirtschaft tatsächlich war. Die Reederei Woermann beispielsweise sicherte sich das Monopol auf Truppentransporte, die, als das deutsche Kaiserreich 1904 den Krieg gegen die aufständischen Herero und Nama in der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" begann, zu 95 Prozent über den Hamburger Hafen liefen - keineswegs klammheimlich, sondern, als Feierlichkeiten inszeniert, unter dem Jubel der Hamburger Bevölkerung.


Abbildung: [Public domain], via Wikimedia Commons

Aufruf zum freiwilligen Eintritt in die "Schutztruppe" in Südwestafrika vom 27. Mai 1907
Abbildung: [Public domain], via Wikimedia Commons

Heute ist die Verantwortung Deutschlands für den Völkermord an den Herero und Nama nicht mehr zu bestreiten. Deutsche Kolonialtruppen töteten zwischen 1904 und 1908 100.000 Menschen. Der kolonialen Gewaltherrschaft fielen in dieser Zeit 80 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama zum Opfer. Einer der militärisch Hauptverantwortlichen war General Lothar von Trotha, dem in Hamburg weit über das (formale) Ende kolonialer Herrschaft hinaus eine an Heldenverehrung grenzende Würdigung zuteil wurde. 2004 erklärte die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul bei einem Besuch in Namibia, von Trotha würde heute wegen Kriegsverbrechen an das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag überstellt werden.

1905 jedoch, bei seiner Rückkehr nach Hamburg, wurde ihm im Hotel Atlantic der höchste deutsche Orden "Pour le Merite" verliehen. Von einer Zäsur in dieser Erinnerungspolitik konnte nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs nicht die Rede sein, das Gedenken an die damals für Kolonialkriege und Völkermord Verantwortlichen wurde auch in der Bundesrepublik noch lange Zeit hochgehalten. Beispielsweise in Wandsbek-Jenfeld wurden in der nach General Paul von Lettow-Vorbeck, im Ersten Weltkrieg Kommandeur der deutschen "Schutztruppe" für "Deutsch-Ostafrika", dem heutigen Tansania, benannten Kaserne koloniale Objekte unkommentiert präsentiert. Erst vor kurzem brachte man an dem Reliefporträt Lothar von Trothas eine aufklärende Kommentarplakette an.


Fotos: by Dirtsc [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons Fotos: by Dirtsc [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons

Linke und rechte Seite des Askari-Reliefs, heute aufgestellt im Tansania-Park, einer kolonialgeschichtlichen Denkmalanlage in Hamburg-Jenfeld
Fotos: by Dirtsc [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons

Den Eingangsbereich der im Dritten Reich nach Lettow-Vorbeck benannten Hauptkaserne in Hamburg-Wandsbek zierten noch bis 2000 zwei überlebensgroße Terracotta-Figurengruppen, die, 1939 eingeweiht, der Mobilmachung für den Zweiten Weltkrieg dienen sollten. Rechts der Einfahrt wurde ein Offizier der deutschen Schutztruppe mit vier Ascari, wie die dem Mythos nach auf deutscher Seite kämpfenden treuen afrikanischen Soldaten genannt wurden, dargestellt, während das linke Relief einen Ascari mit vier afrikanischen Trägern zeigt. In der Auseinandersetzung um das koloniale Erbe Hamburgs, die seit einigen Jahren immer mehr Fahrt aufnimmt, haben diese Reliefs eine besondere Bewandtnis. Sie waren Anlaß und Anstoß für die anwachsenden Proteste zivilgesellschaftlicher Organisationen gegen die bis dato ungebrochene Verherrlichung der kolonialen Vergangenheit. Nicht nur die vielen Erinnerungsobjekte zeugen in der Stadt von dem ungebrochenen Verhältnis zu den für Kolonialismus und Kolonialkrieg Verantwortlichen, sondern auch die nach ihnen benannten Straßen.

Das koloniale Erbe Hamburgs wie die Kolonialgeschichte Deutschlands könne nicht, so Prof. Zimmerer, von der "normalen" Geschichte losgelöst verstanden werden. General von Lettow-Vorbeck war nach seiner Rückkehr aus dem Krieg in Ostafrika in Hamburg nicht nur ein triumphaler Empfang bereitet worden, er wurde zur Niederschlagung hiesiger Unruhen eingesetzt. Dabei ging er gegen Hamburger Arbeiter so brutal vor, daß ihm vorgeworfen wurde, Hamburg mit Afrika zu verwechseln.


Foto: by Megalithicguy [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons

Kriegsverherrlichung in Aumühle - Ehrenmal mit der Inschrift: Deutsch-Ost-Afrika 1914-1918
Foto: by Megalithicguy [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wikimedia Commons

Der Kolonialismus ist aus der ökonomischen und militärischen Geschichte Hamburgs und Deutschlands nicht wegzudenken, doch auch der Kulturbereich war stark beteiligt. Die Forschungsarbeit habe ergeben, daß es kaum eine Hamburger Bühne oder Oper gab, die nicht koloniale Motive und Stoffe zur Aufführung gebracht hatte. Sie alle anzuführen, wäre allein ein abendfüllendes Thema. Ein bekanntes Beispiel ist der beliebte und weltweit bekannte Zoo der Stadt, Hagenbecks Tierpark, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur durch das Ausstellen von Tieren in ihrer vermeintlich natürlichen Umgebung einen Namen gemacht hatte, sondern auch durch die berühmten oder vielmehr berüchtigten "Völkerschauen", in denen aus ihrer Heimat verschleppte Menschen außereuropäischer Herkunft zum Objekt entwürdigender Betrachtung gemacht worden waren. Für die Entwicklung rassistischer Diskurse in Deutschland könne der Beitrag Hagenbecks, so Prof. Zimmerer, gar nicht überschätzt werden.


Foto: by Adolph Friedländer (1851-1904) [Public domain], via Wikimedia Commons

Plakat für eine Samen-Völkerschau bei Carl Hagenbeck, Hamburg-St. Pauli 1893/94
Foto: by Adolph Friedländer (1851-1904) [Public domain], via Wikimedia Commons

Als weiteres Beispiel aktiver kulturpolitischer Beteiligung erwähnte der Leiter der Hamburger Forschungsstelle das 1907 eingeweihte Museum für Völkerkunde, in dem, den Völkerschauen nicht unähnlich, das Interesse des Bürgertums an fremden Menschen, Kulturen und Ländern zum Zwecke ihrer Exotisierung auf eine neue Stufe gehoben worden war. Die angebliche Primitivität der ausgestellten "Objekte" leistete dem Glauben der Betrachtenden an die eigene kulturelle und zivilisatorische Überlegenheit Vorschub und damit einen nicht unerheblichen Beitrag zur weiteren Ausbreitung kolonialer Übergriffe und Inbesitznahmen. An diesem Erbe haben deutsche Museen bis heute zu tragen, doch hat auch hier, wie Prof. Dr. Barbara Plankensteiner, die Direktorin des Hamburger Völkerkundemuseums, an diesem Abend darlegte, ein Umdenken und eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Hauses begonnen.

Als letztes Beispiel benannte Prof. Zimmerer die Universität Hamburg, an der sowohl er als auch Prof. Nicolaysen tätig sind. 1908 war in der Stadt als erste staatliche Hochschule das Hamburgische Kolonialinstitut eröffnet worden. Die Pläne des Reichskolonialamtes in Berlin, einen neuen Lehrstuhl zur verbesserten Ausbildung des in den damaligen deutschen Kolonien tätigen Personals zu schaffen, hatten mit den Hamburger Ambitionen für ein akademisches Institut zur Gründung des Instituts geführt. Von hier aus wurden die Kolonialbestrebungen des damaligen Reichs aktiv unterstützt. Nach dem "Verlust" der eigenen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg wurde dies nur für kurze Zeit unterbrochen und ab 1933 wieder forciert, sollte doch im NS-Staat praxisnahe Kolonialismusforschung für den Tag der Rückeroberung "verlorener Schutzgebiete" betrieben werden.


Foto: by Uwe Barghaan [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], from Wikimedia Commons

Hauptgebäude der Universität Hamburg - das frühere Hamburgische Kolonialinstitut
Foto: by Uwe Barghaan [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], from Wikimedia Commons

Das Gebäude des früheren Kolonialinstituts ist das Hauptgebäude der heutigen Universität Hamburg und zählt zum kolonialen Erbe der Stadt. Noch lange Zeit stand dort eine Statue des Afrikaforschers Herrmann von Wissmann, der eine maßgebliche Rolle bei der Kolonialisierung des Kontinents eingenommen hatte. Von 1888 bis 1891 war er Reichskommissar und von 1895 bis 1896 Gouverneur von "Deutsch-Ostafrika" gewesen. Heute wird er mit anderen Kolonialverbrechern in eine Reihe gestellt, seine Statue hatte schon während der Studentenbewegung Proteste auf sich gezogen und konnte 1968 mit Erfolg "gestürzt" werden.

An diesem wie an vielen anderen Beispielen zeigt sich der tiefe Riß, ja die völlige Unvereinbarkeit zwischen (post-)kolonialem Denken und den aktuellen Bestrebungen, dieser bis heute nachwirkenden Position eine Dekolonialisierung entgegenzustellen und abzuringen, die ihrem emanzipatorischen Anspruch tatsächlich gerecht zu werden imstande ist. Die Forschungsstelle "Hamburgs koloniales Erbe" sieht sich, so Prof. Zimmerer, in dieser wissenschaftskritischen Tradition. Die Entwicklung von kolonialen zu dekolonialen Forschungseinrichtungen sei, so sein Fazit, noch keineswegs beendet, doch sei man "auf einem guten Weg". Das grundsätzliche Ziel einer umfassenden Dekolonialisierung sei selbstverständlich noch lange nicht erreicht.

Das - durchaus auch kontroverse - Interesse Hamburger Bürgerinnen und Bürger an all diesen Fragen wächst fraglos an, wie sich auch auf dieser Veranstaltung in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Reimarus-Saal zeigte. Darüber, daß die an der Frage nach Straßenumbenennungen sich entzündenden Auseinandersetzungen in der Stadt bestenfalls ein erster Schritt sein können, sich mit dem kolonialen Erbe Hamburgs grundsätzlich und abschließend auseinanderzusetzen, bestand zwischen den Veranstaltenden und Podiumsdiskutanten Übereinstimmung.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Blick auf den Reimarus-Saal
Foto: © 2018 by Schattenblick

Dennoch gleichen die bisherigen Bestrebungen, dieses heikle Thema öffentlich in die Diskussion zu bringen, offenbar einem Stich ins politische Wespennest, wie auf der Veranstaltung vereinzelten, sozusagen pro-kolonialistischen Beiträgen aus dem Publikum zu entnehmen war. Dabei ist die Frage noch gar nicht gestellt, was eine Dekolonialisierung bedeuten könnte, die die mit der für historisch erklärten und damit einer recht fernen Vergangenheit zugeordneten Kolonialzeit gestellten Weichen für die noch immer andauernde Vorherrschaft der ehemaligen Kolonialmächte mit all ihren sozialen, ökonomischen und politischen Folgen tatsächlich beenden wollte. Müßte die Frage nach (post-)kolonialer Vorherrschaft zwecks ihrer Inangriffnahme und Aufhebung nicht neu gestellt werden, solange der von den europäischen Staaten in Besitz genommene afrikanische Nachbarkontinent vom weltweiten Nahrungsmangel und Massenhunger am stärksten betroffen ist?

(Die Berichterstattung über die Veranstaltung "Hamburgs koloniales Erbe" wird fortgesetzt.)


Anmerkungen:


[1] https://www.abendblatt.de/wirtschaft/article132555797/42-000-Millionaere-in-Hamburg.html

[2] Die "Patriotische Gesellschaft von 1765" versteht sich als Netzwerk liberaler und sozial engagierter Hanseaten. Seit 250 Jahren ehrenamtlich aktiv, steht sie in der Tradition eines aufstrebenden und gegen monarchistische Ständeherrschaft aufbegehrenden Bürgertums, das sich den Werten der Aufklärung - Gleichheit und Menschenrechte - verbunden fühlt. Eingedenk dieses Entstehungskontextes steht "patriotisch" nicht für rechte Positionen, sondern soll Fortschrittlichkeit und demokratisches Denken zum Ausdruck bringen. Die Gesellschaft hat ihren Sitz an der Trostbrücke am Nikolaifleet in einem geschichtsträchtigen Backsteinbau. Im Reimarus-Saal, in dem die Veranstaltung zu Hamburgs kolonialem Erbe stattfand, tagte von 1859 bis 1897 die Hamburger Bürgerschaft.

[3] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Hamburg-entschuldigt-sich-bei-Herero-und-Nama,herero102.html


im Schattenblick ist unter POLITIK → REPORT zur Veranstaltung "Hamburgs koloniales Erbe" unter dem kategorischen Titel "Kolonialwirtschaftsgeschichte" erschienen:

INTERVIEW/413: Kolonialwirtschaftsgeschichte - eine alte Schuld ...    Prof. Dr. Jürgen Zimmerer im Gespräch (SB)


11. Juni 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang