Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/290: Es geht ums Ganze - der Grundrechte Rückentwicklung ... (SB)


Die Gefahr, die uns droht - ich möchte es noch einmal unterstreichen - ist der totale Staat im Gewande der Legalität - die Diktatur hinter der Fassade formaler Demokratie. (...) Nur derjenige, der die Notstandsgesetze nicht isoliert sieht, sondern als Teil eines Stahlnetzes, das die Demokratie umspannt und in ein ebenso komfortables wie unerbittliches Staatsgefängnis umwandeln kann, der sieht hier richtig.
Georg Benz (IG Metall) auf der Konferenz gegen die Notstandsgesetze am 30. Oktober 1966 in Frankfurt a. M. [1]


Die Kontroverse um das Wechselverhältnis zwischen Staatsgewalt und Gegenwehr ist so alt wie der verhängnisvolle Irrtum, es komme ungeschoren davon, wer sich ducke, schweige und nichts zu verbergen habe. Haben nicht Gleichschaltung, Konzentrationslager und Weltkriegsgreuel unter dem NS-Regime längst auf grausigste Weise widerlegt, daß Rettung in der Maxime liege, die Machthaber nicht durch Widerstand zu reizen? Das Versprechen der Bundesrepublik, daß dergleichen nie wieder geschehen dürfe und werde, krankte von Geburt an am Fortbestand der Eigentumsverhältnisse, an der antikommunistischen Frontstellung im westlichen Bündnis, alsbald an Wiederbewaffnung und Notstandsgesetzen. Dessen ungeachtet glaubte die Generation des Wirtschaftswunders, die Abwesenheit von Krieg, Hunger und Elend sei nicht ein historischer Ausnahmefall, sondern der Normalzustand im besten aller Gesellschaftssysteme.

Mit der multiplen Krise im Nacken muten jene Tage gefühlter Freiheit und unbeschwerten Konsums wie ein untergegangener Traum an, an dessen schwindende Restbestände sich die Ratio deutschen Vorteilsstrebens zu Lasten verstohlen bis offen wiederentdeckter Untermenschen hierzulande und in aller Welt um so verzweifelter klammert. Daß sich das eigene Wohlergehen am Schmerz alles übrigen bemißt und von ihm zehrt, will niemand wissen. Als Exportweltmeister des Raubes wähnt man sich verdientermaßen an der Spitze der Evolution, scheint es doch zu gelingen, Ausbeutung, Ausplünderung und Krieg erfolgreich ferneren Regionen und deren Bevölkerungen aufzulasten.

Was aber, wenn die Einschläge näherrücken, da nun Arbeitsregime und Verarmung, Bezichtigung und Drangsalierung in jeglichen Lebenslagen zunehmend das Feld beherrschen und eine Existenz in Würde zur Makulatur erklären? Reift am Ende die Erkenntnis, daß Sozialstaat und Bürgerrechte stets nur ein Lehen waren, das in fetten Jahren gewährt, doch in mageren um so nachhaltiger entzogen wird? Daß man staatlicherseits nichts dem Zufall überläßt und sich präventiv für die kommende Revolte rüstet, zeigt der massive Ausbau repressiver Instrumente administrativer, juristischer, polizeilicher und militärischer Art. Wovor der Gewerkschafter Georg Benz seinerzeit mit Blick auf die zwei Jahre später von der Großen Koalition verabschiedeten Notstandsgesetze gewarnt hat, nimmt mit dem abermals von Union und Sozialdemokraten in Stellung gebrachten Ausnahmezustand Gestalt an. Die Frage des Widerstands stellt sich damals wie heute stets auf dieselbe Weise.


Buchstabenaktion 'DEMONSTRATIONSRECHT VERTEIDIGEN' vor dem Eingang der Volkshochschule - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Bundesweiter Kongreß "Demonstrationsrecht verteidigen!"

Am 7. Oktober 2017 fand in der Volkshochschule Düsseldorf ein bundesweiter Grundrechtekongreß statt, zu dem die Initiative "Demonstrationsrecht verteidigen!" aus mehr als 50 Gewerkschaften, Migranten- und Bürgerrechtsorganisationen, Journalisten- und Anwaltsverbänden eingeladen hatte. [1] Nach den Repressionen gegen Flüchtlinge und Migrantenorganisationen zeigen die jüngsten Gesetzesänderungen durch die Bundesregierung (u.a. §§ 113, 114 StGB sowie Massenüberwachung von WhatsApp/facebook), die Initiative zur Einschränkung des Streikrechts ("Tarifeinheit") und die schweren Grundrechtsverletzungen beim G20-Gipfel in Hamburg, daß den sozialen Bewegungen und der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik auf breiter Front grundlegende demokratische Rechte genommen werden. Um diesen massiven Angriffen etwas entgegenzusetzen, verstand sich der Kongreß als Aufruf, den Widerstand gegen den Abbau der Grundrechte zu vereinigen, zu stärken und für künftige Aktionen zu rüsten.

Die Tagung begann mit Szenen des politischen Kabaretts "Mein Einsatzleiter - Ein Vormittag mit der Polizei", dem ein eigener Beitrag in dieser Reihe der Kongreßberichte gewidmet sein wird. Beim Auftaktpodium kamen Expertinnen und Experten zu Wort, die in ihren Beiträgen zu verschiedenen Schwerpunkten des Gesamtkomplexes Stellung nahmen. Es folgten vier Arbeitsgruppen zu den Themen Freiheit für die politischen Gefangenen, Verteidigung des Demonstrationsrechts, Verteidigung des Streikrechts und Verteidigung der Pressefreiheit. Die Ergebnisse der AGs wurden im Abschlußplenum vorgestellt, das dann in der Diskussion mit allen Anwesenden eine Bilanz des Kongresses zog und daraus abzuleitende Schritte beriet. In einer abschließenden Pressekonferenz berichteten Betroffene von ihren Erfahrungen beim G20-Gipfel und präsentierten die Kongreßergebnisse.

Der nun folgende erste Bericht befaßt sich mit dem Auftaktpodium, in dem die wesentlichsten Aspekte des Angriffs auf die Grundrechte zur Sprache kamen. Unter Moderation von Elke Steven und Simon Ernst referierten Ulla Jelpke und Gerhard Kupfer. Leider war das Podium ausgedünnt, da Gabriele Heineke aus Hamburg, Alexander Bosch aus Berlin und Peter Dinkloh aus Bremen aufgrund des Bahnausfalls nicht anreisen konnten. Heineke und Bosch waren jedoch per Skype zugeschaltet und hielten ihre Beiträge auf diesem Wege. In Abwesenheit Dinklohs ging Ulla Jelpke in ihrem Vortrag auch auf die Einschränkung der Pressefreiheit ein.


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Simon Ernst
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Wir werden uns die nächste Gesellschaft selbst organisieren"

Simon Ernst ist Promotionsstudent der Wirtschaftswissenschaften und Lateinamerikastudien, politisch aktiv bei ver.di im Fachbereichsvorstand Bildung, Wissenschaft und Forschung des Bezirks NRW-Süd, Sprecher der antikapitalistischen Aktion Bonn und war Sprecher des Bündnisses bei den Protesten gegen den G7-Gipfel in Elmau vor zwei Jahren. Er wurde beim G20-Gipfel in Hamburg 20 Minuten nach dem Aufbruch aus einem Übernachtungscamp gemeinsam mit Dutzenden weiteren Aktivisten von der Polizei überfallen und seiner Grundrechte beraubt. Er ist einer der Mitbegründer der Initiative "Demonstrationsrecht verteidigen!"

In seinem Eröffnungsbeitrag zitierte Simon Ernst aus dem Manifest "Acht Thesen über die Krise" [2] der ver.di-Jugend: "Die Chinesen schreiben das Wort Krise mit zwei Schriftzeichen. Das eine bedeutet 'Gefahr', das andere 'günstige Gelegenheit'." Mit der Wirtschaftskrise habe 2009 eine neue Epoche der globalen politischen und ökonomischen Entwicklung begonnen. Von den USA bis zur Türkei, von Frankreich bis Ungarn, rücken Regierungen nach rechts, heben durch die Verfassung gesicherte demokratische Grundrechte auf, verbieten und unterdrücken Proteste und Streiks und gehen den Weg in den Polizeistaat. Die Regierung der BRD liege in diesem Trend. In den letzten zwei Jahren habe auch sie demokratische Grundrechte von Millionen hier lebenden Migrantinnen massiv beschnitten. Dieser Rechtsruck sei bereits vor dem Einzug der AfD in den Bundestag von der Regierung selber ausgegangen. Neben den Flüchtlingen seien durch neue Gesetze und Maßnahmen insbesondere Menschen angegriffen worden, die auch in der Türkei von der Erdogan-Diktatur in den Kerker gesteckt und ermordet werden: Linke Frauen-, Arbeiter- und Kulturorganisationen der kurdischen Freiheitsbewegung, der türkischen revolutionären und sozialistischen Bewegung und überhaupt Regimekritiker und Journalistinnen insbesondere beim G20-Gipfel in Hamburg. Ihre Symbole, ihre Stimmen, ihre Fotos, ihre Teilnahme an Protesten und am gesellschaftlichen Leben sollen verboten, zensiert und diskreditiert werden, so der Referent.

Der Grundrechteabbau sei bereits seit 2001 im Rahmen der internationalen Kampagne des Kampfs gegen den Terror massiv beschleunigt worden. Brutaler Sozialkahlschlag und zunehmende Kriegseinsätze seien Hand in Hand gegangen, getragen von CDU, SPD, Grünen und FDP. Hinter diesen Parteien stünden die großen Banken und Konzerne der Welt, die heute über eine gesellschaftliche Macht verfügten, die größer als die jedes Königs, Kaisers oder Pharaos in der Geschichte sei. Die Verschwörung der Konzernbosse mit dem Kanzleramt im aktuellen Autoskandal sei nur eine Spitze des Eisbergs, die sogenannte Bankenrettung 2009 eine andere.

Die Gesetzesänderungen seit 2015 gehörten zu den tiefsten Eingriffen in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 des Grundgesetzes seit Bestehen der Bundesrepublik und höhlten ein elementares Recht aus. Weiterhin widersprächen diese Gesetzesänderungen der Menschenwürde in Art. 1 des Grundgesetzes, der Freiheit der Person in Art. 2 und schränkten die Meinungsfreiheit nach Art. 5 massiv ein, die das Verfassungsgericht als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt bezeichnet habe.

Diese Gesetzesänderungen fielen nicht vom Himmel, sie würden schon lange bereitgehalten aus Angst vor einer wachsenden sozialen Protestbewegung und vor gewerkschaftlichen Streiks, gegen die Front gemacht werden soll. Daß sich diese Stimmung in Teilen der Bevölkerung nicht an der AfD entlädt, sondern zukunftsorientierte und wachstumsfähige gewerkschaftliche und antikapitalistische Organisationen entstehen und gestärkt werden, sei den regierenden Parteien ein Dorn im Auge. 2015 sei in Deutschland nicht nur das Jahr der Flüchtlingskrise, sondern auch das Jahr mit der größten Zahl gewerkschaftlicher Streiks seit 1990 gewesen. Gegen die rechte Asylpolitik der Regierung, aber auch gegen die neue Rechte von Pegida, AfD und Co. habe man eine riesige Protestwelle erlebt. Große Demos hätten den rechten Spuk auf den Straßen nicht nur zahlenmäßig übertroffen, sondern ihm auch effektiv in den meisten Städten den Garaus gemacht. Die Massenproteste gegen TTIP und CETA hätten Hunderttausende Menschen politisiert, die Stimmung entwickle sich in Teilen der Gesellschaft deutlich nach links und eben nicht nur nach rechts, wie das die AfD-Kampagne und der aktuelle Parlamentseinzug suggerieren mögen.

Es wachse der Protest gegen die Welt der Konzerne, die Diktatorinnen und Diktatoren mit und ohne Democracy-Ausweis, die beim G20-Gipfel zusammenkamen. Das seien die Eigentümer des Planeten, die Kriegstreiber, die Börsenhaie und die Oberkommandierenden des Sozialkahlschlags und des Grundrechteabbaus. Gegen diese regierende Minderheit gingen bei den Gipfeltreffen mit historischem Recht Hunderttausende auf die Straße, bewaffnet mit all ihrer Hoffnung, ihrer Wut, ihren Träumen und ihren Wünschen für eine neue und bessere Welt. Von Seattle bis Genua, von Rostock bis Hamburg würden die Gipfel von G7, G8, G20, Weltbank, Klimarat und Nato zu Recht zu Magneten eines globalisierten und massenhaften Widerstandes aus allen Sektoren der Bevölkerung, so Simon Ernst.

Wie zehntausend andere hätten sich auch die Bonner Kolleginnen und Kollegen als gewerkschaftliche, als sozialistische Bewegung zum Protest nach Hamburg auf den Weg gemacht. Bereits Minuten nach dem Start seien sie überfallen, mißhandelt und bis zu 170 Stunden eingesperrt worden. Elf Kolleginnen aus der Region, aber auch Dutzende andere Demonstranten seien von hohen Strafen bedroht. Erforderlich sei politische und juristische Gegenwehr, um als wachsende Bewegung in stürmischen Zeiten auf die Angriffe der Regierung zu antworten. Die Zeit für eine andere Gesellschaft sei reif. Die Geschichte sei nicht Vergangenheit, sondern ein Prozeß, der auch heute noch weiterläuft, und keine Regierung der Welt könne das auf Dauer verhindern - nicht mit tausend Schutzschirmen, nicht mit Zwang und nicht mit Terror: "Das Alte geht, das Neue kommt." Die Menschen hätten immer wieder aktiv bewiesen, daß geschichtliche Epochen und überkommende Ordnungen gehen müssen, um etwas Neuem Platz zu machen, etwas anderem, etwas, das besser funktioniert: "Die Jugend arbeitet daran, wir werden uns die nächste Gesellschaft selbst organisieren, denn die Zeit ist reif!"


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Elke Steven
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Grundrechte gelten nur solange, wie wir uns dafür einsetzen"

Die Soziologin Elke Steven hat bis Ende September 2017 als Referentin im Komitee für Grundrechte und Demokratie gearbeitet, seit mehr als 20 Jahren hat sie bei Castortransporten, bei Protesten gegen Versammlungen von Nationalisten und Rassisten, bei Chaostagen und den Blockupy-Protesten gegen das europäische Krisenregime Demonstrationsbeobachtungen organisiert. Sie war zugegen, um die fundamentalen Grund- und Menschenrechte auf Versammlungen zur Meinungsfreiheit zu verteidigen, so auch beim G20-Gipfel in Hamburg. Eine kleine Broschüre zur Geschichte der Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens ist im Sommer erschienen.

Wie Elke Steven eingangs umriß, befasse sich der Kongreß mit den Erfahrungen beim G20-Gipfel in Hamburg, dem Umgang der Polizei mit dem Versammlungsrecht und mit der Verantwortung der Politik. Es sei ein erschreckendes Zeichen, daß die Polizeien ungehindert ihre Vorstellungen durchsetzen konnten, von vornherein auf Eskalation gesetzt hätten, daß es aber auch rechtliche Grundlagen dafür gebe. Das Vermummungsverbot sei nicht klar definiert und gebe der Polizei die rechtliche Handhabe, Vermummung nach eigener Auslegung als Straftat zu verfolgen. Kurz vor dem Gipfel seien mit den Paragraphen 113 und 114 des Strafgesetzbuches neue Möglichkeiten geschaffen worden, jeden Ansatz von Gegenwehr strafrechtlich zu verfolgen und relativ hoch zu bestrafen. Das habe sich in den ersten Prozessen bereits gezeigt. Die Öffentlichkeit sei durch die Polizei desinformiert und die Stimmung bereits im Vorfeld durch Berichte über zahlreiche Gewaltbereite, die angeblich anreisen wollten, aufgeheizt worden. Es gebe an vielen Stellen gleichzeitig Versuche, Grund- und Menschenrechte immer weiter einzuschränken. Streikrecht, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit seien auf verschiedene Weise bedroht: "Diese Grundrechte gelten nur solange, wir wir uns dafür einsetzen und die Menschen erreichen."


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ulla Jelpke
Foto: © 2017 by Schattenblick

Regime des permanenten Notstands geübt und exekutiert

Ulla Jelpke ist Soziologin, Journalistin und Innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. Sie engagiert sich seit langem für Flüchtlings- und Asylpolitik, weitere Themen sind Militarisierung der Innenpolitik, Ausbau des präventiven Sicherheitsstaats und Neofaschismus.

Auch Ulla Jelpke hob hervor, daß die Rechtsentwicklung in der Großen Koalition nicht erst mit der AfD gekommen sei. Besonders betroffen seien die Geflüchteten, die instrumentalisiert wurden, um diverse Gesetze zu verschärfen. Das Grundrecht auf Asyl sei weiter ausgehöhlt worden, von der Verschärfung der Abschiebehaft bis hin zur Einschränkung der Familienzusammenführung und vielem mehr. Hinzu komme eine Symbolpolitik wie das Burkaverbot im öffentlichen Dienst. Zur Begründung werde immer wieder die Terrorbekämpfung genannt, es würden sogenannte Randgruppen aller Art benutzt, um Gesetzesverschärfungen durchzusetzen. Überwachungsmaßnahmen bezögen sich zunächst auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen, würden dann aber Zug um Zug ausgeweitet. Beispielsweise werde das Gesetz zum Entzug von Paß und Personalausweis für Dschihadisten inzwischen auch auf Menschen angewendet, die nach Rojava fahren wollen, um dort gegen den IS zu kämpfen. In der letzten Legislaturperiode sei es zu einer enormen Aufrüstung gekommen, der Ruf nach mehr Polizisten gehe durch alle Fraktionen. Überwachungstechnik wie Gesichtserkennung oder Videoüberwachung richte sich gegen mögliche soziale Proteste.

De Maizière habe nach dem Anschlag im Dezember eine weitere Zentralisierung der Sicherheitsbehörden gefordert: Aufhebung des föderalen Prinzips, Zusammenfassung von Verfassungsschutzbehörden, Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizeien. Das habe sich in Form von sogenannten Antiterrorgesetzen durchgesetzt. Wer ein Gefährder sei, entscheide nicht ein Gericht, sondern die Polizei. So könne jemand in Haft genommen werden, ohne daß eine Straftat verübt wurde. Die Unschuldsvermutung werde außer Kraft gesetzt. Polizei und BKA würden in allen Bereichen aufgestockt, es werde ein Regime installiert, das den permanenten Notstand übt und praktiziert. Es gehe um die Absicherung von Herrschaft durch Strukturen, die den Kapitalismus festigen.

Von Übergriffen auf Journalisten und Fotografen beim G20-Gipfel könne sie auch aus eigenem Erleben berichten. Sie sei die ganze Woche als Demonstrationsbeobachterin präsent gewesen und noch nie so aggressiv angegangen worden wie in diesen Tagen. Angesichts permanenter Verstöße gegen das Versammlungsrecht habe sie nur in wenigen Fällen etwas erreichen können. 32 akkreditierte Journalisten seien wieder ausgeladen, neun tatsächlich vor Ort gewesen und aufgrund von Listen zurückgewiesen worden, die für Dritte einsehbar waren. Der "Bild"-Redakteur Frank Schneider habe getwittert: "Polizei geht bei Welcome-to-hell-Demo aggressiv gegen Journalisten vor. Völlige Eskalation." Einen Tag später dann: "Bayerische Einsatzkräfte drehen am Rande der Schanzen-Räumung komplett durch. Greifen Unbeteiligte und Reporter gezielt an." Ein Journalist sei mit einem Reichsbürger gleichen Namens verwechselt worden, fünf der neun hätten herausgefunden, daß sie in der Polizeidatei "Gewalttäter links" geführt wurden, ohne daß dieser Eintragung ein Gerichtsurteil zugrunde läge. Es habe sich meist um Journalisten gehandelt, die bei der jungen Welt, dem Neuen Deutschland oder anderen linken Zeitungen schreiben oder fotografieren. Zwei seien zur Recherche in Diyarbakir gewesen und offenbar über die Türkei als Gewalttäter gemeldet worden. Ein Berliner Journalist wollte klagen und habe feststellen müssen, daß seine Daten alle gelöscht worden waren. Zu nennen sei natürlich auch das Verbot von Indymedia Linksunten, wobei angeblich bei den beiden Betreibern gefundene Waffen präsentiert wurden.

Seit Jahrzehnten würden Linke kriminalisiert, die keinen deutschen Paß besitzen, Hunderte hätten im Gefängnis gesessen. Während es einerseits quer durch alle Parteien Solidaritätspartnerschaften mit Menschen gebe, die in der Türkei im Gefängnis sitzen, würden andererseits in Deutschland Menschen verfolgt, die Wahlkampf für linke Parteien gemacht haben. Zwischen 2005 und 2015 sei es zu 4500 Strafverfahren meist gegen Kurdinnen und Kurden wegen sogenannter verbotener Symbole gekommen, jetzt soll sogar das Öcalan-Bild, gleich in welcher Form, vollständig verboten werden. Angesichts dieser permanenten Kriminalisierung müsse sich die Linke klar gegen rechts abgrenzen und solidarisch mit den Geflüchteten zeigen, das gelte auch für ihre eigene Partei, forderte Ulla Jelpke. Nicht die Geflüchteten seien das Problem, sondern die herrschenden Verhältnisse mit ihrer Spaltung in Arme und Reiche. Menschen ohne deutschen Paß würden doppelt bestraft, denn nach einem Strafverfahren drohe ihnen die Ausweisung. Kurdische und türkische Linke bedürften besonderer Solidarität.


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Gerhard Kupfer
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Wir setzen das Streikrecht durch, indem wir es praktizieren"

Der Maschinenschlosser Gerhard Kupfer ist seit 45 Jahren Gewerkschafter. Er war bis 2014 IG-Metall-Vertrauensmann sowie Mitglied des Betriebsrats bei Daimler-Bremen und engagiert sich für ein Streikrecht, das diesen Namen auch tatsächlich verdient.

Wenn er hier zum Streikrecht rede, so ganz sicher nicht als Jurist, eröffnete Gerhard Kupfer seinen Beitrag. Er mache dies konkret anhand seiner Erfahrungen bei Mercedes in Bremen. 1996 habe es dort viereinhalb Tage lang einen spontanen Streik gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit gegeben, der nicht von der IG Metall organisiert worden war. Der Erste Bevollmächtigte habe es zufällig im Autoradio gehört, die Betriebsräte hätten hinter zugezogenen Gardinen gesessen und große Augen gemacht, als es draußen rumorte. Der Streik sei unkoordiniert, aber mit durchschlagendem Erfolg geführt worden. Die Losung sei schon lange gewesen: Wie die in Frankreich müßten wir es machen! Eines Tages sei ein Vertrauensmann auf den Tisch gestiegen und habe gerufen: Jetzt machen wir etwas! Daraufhin seien die Kollegen durch die anderen Hallen gezogen, die Vorgesetzten hätten fluchtartig das Werk verlassen, viereinhalb Tage habe der Betrieb stillgestanden.

Ein großer Mangel seien damals wie immer bei spontanen Aktionen die fehlenden Kontakte in andere Betriebe gewesen, weshalb es in anderen Werken nur kurze Proteststreiks gegeben habe. Man habe die Lehre daraus gezogen, sich zu organisieren und auch außerhalb des Betriebs zu treffen, um sich zu verabreden, auch auf die eigenen Gewerkschaften und den Vertrauenskörper einzuwirken und vor allem, um sich auf kommende Auseinandersetzungen vorzubereiten. Hinter dem Ruf der Bremer Belegschaft steckten weder besondere Gene noch Weißbrot und Rotwein, er sei vielmehr die Folge jahrelanger Arbeit: Es hätten sich Menschen auch über parteipolitische Grenzen hinweg zusammengesetzt, die an den Zuständen im Betrieb und in der eigenen Gewerkschaft etwas ändern wollten. Wichtig sei dabei gewesen, nicht nur im Betriebszaun zu denken, sondern darüber hinaus. Als es 2014 im Bremer Werk Fremdvergaben in großem Stil gegeben habe, sei es um Hunderte von Arbeitsplätzen gegangen. Um sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen, habe man den Widerstand stets mit dem Thema Werkvertrag und Leiharbeit zu Niedriglöhnen verknüpft. Der Betriebsrat habe jedoch mehrheitlich erklärt, er könne nichts machen, da es keine rechtlichen Möglichkeiten gebe. Die IG Metall habe sich immerhin angesichts der Unruhe im Betrieb gezwungen gesehen, nicht gleich abzuspringen. Zunächst seien die Kollegen nach der Mittagspause mal kurz zum "Krawattenbunker" gezogen, doch irgendwann hätten ihnen solche Protestaktionen nicht mehr gereicht. Sie hätten sich mit den Vertrauensleuten zusammengesetzt und beschlossen, die Pausen nach draußen auf die Kreuzung oder auf die Brücke zu verlegen und erst nach eineinhalb oder zwei Stunden wieder ins Werk zurückzukehren. Das mußte natürlich organisiert werden, sei dann aber mehrfach praktiziert worden, begleitet von Aktionen wie Transparenten und der Sammlung von 5000 Unterschriften im Betrieb. Zum Höhepunkt sei es dann im Dezember 2014 gekommen, als nach einer Kundgebung am Lkw-Tor alle nach Hause gingen, so daß die gesamte Nachtschicht bestreikt wurde.

Der Arbeitgeber habe mit Abmahnungen reagiert, 19 Millionen Euro Schadenersatz verlangt und versucht, Betriebsräte als Rädelsführer dingfest zu machen. Die IG Metall habe den Rechtsschutz abgelehnt und der Erste Bevollmächtigte habe in der Presse erklärt, man wolle keine französischen Verhältnisse, politische Streiks seien in Deutschland verboten, es gelte die Friedenspflicht. Das sei bis zur Diffamierung gegangen: Ihr habt 1300 Leute verführt! Man habe versucht, auf den Gewerkschaftstag der IG Metall zu kommen, was jedoch nicht gestattet worden sei. Man sei dennoch mit einem Transparent ins Foyer gegangen, doch das alles habe sie nicht gerührt. Dennoch sei aus einem Streik in einer Schicht in einem Betrieb ein Stück Politikum geworden. Man habe sich selber Rechtsanwälte suchen müssen, darunter Gabriele Heineke, und inzwischen zwei Prozesse wie erwartet verloren. Es sei jedoch gelungen, dies für eine breite Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen und gute Presse vom Spiegel bis zum Radio und Fernsehen zu bekommen. Die Richter hätten sich um die Grundsatzentscheidung des Streikrechts herumgedrückt und mit Formalien gearbeitet. Viele Kollegen seien natürlich enttäuscht, was logisch sei, wenn man an die Rechtssprechung glaube. Man habe jedoch zusammen viele Diskussionen über Streikrecht, Grundgesetz, UN-Charta und vieles mehr geführt: "Wir wissen, daß wir das Streikrecht nicht vor deutschen Gerichten, nicht in Erfurt, nicht in Straßburg durchsetzen. Das dient der Öffentlichkeitsarbeit. Wir werden es nur durchsetzen, indem wir es praktizieren!"

Die Bremer Kollegen hätten Solidarität aus aller Welt erfahren, aus Deutschland sei etwas weniger gekommen. Man stehe drei Jahre in diesem Kampf, in denen sich im gesellschaftlichen Rahmen sehr viel getan habe: Das Tarifeinheitsgesetz, das Leiharbeitsgesetz, bei denen die Gewerkschaften leider keine rühmliche Rolle spielten. In diesen Zeiten den Kampf zu gewinnen sei schwierig. Sein persönliches Fazit bleibe: "Wir dürfen Asylrecht, Streikrecht, Demonstrationsrecht nicht isoliert betrachten. Wir müssen sie zusammen betrachten, weil sie alle gegen uns gerichtet sind." Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung werde spätestens dann aufwachen, wenn es zu Massenentlassungen durch die Automatisierung kommt. Doch die Schockstarre nach dem G20-Gipfel in Hamburg und der Bundestagswahl mit der AfD sei nicht angebracht: "Es ist ein Zeichen der Schwäche der Herrschenden, die Zeit ist reif, das System ist überlebt, der Kapitalismus ist buchstäblich am Ende, es gilt jetzt nur noch, ein bißchen zu schubsen und sich zu organisieren. Wir müssen uns organisieren!" Dieser Kongreß sei wichtig, aber er müsse auch zu konkreten Aktionen führen, schloß Gerhard Kupfer seinen Vortrag.


Großbild per Skype - Foto: © 2017 by Schattenblick

Alexander Bosch
Foto: © 2017 by Schattenblick

Grund- und Menschenrechte werden der Sicherheit geopfert

Alexander Bosch ist Sozialwissenschaftler, seit 2009 Sprecher für den Komplex Polizei und Menschenrechte bei Amnesty International und aktiv gegen Polizeigewalt und Rassismus.

Alexander Bosch ging unter anderem darauf ein, daß der fehlende Respekt vor dem Staat und der Polizei seit Jahren ein Dauerthema sei. Die Gleichsetzung von Polizei und Staat münde in die neuen Gesetze, die es den Menschen schwerer machen sollen, ihre Rechte wahrzunehmen. Sie liefen nun Gefahr, durch die bloße Teilnahme an Demonstrationen für Vorfälle haftbar gemacht zu werden, die ganzen Gruppen zur Last gelegt werden können. Verschärfung des Asylrechts, Diskussion von Obergrenzen, Profiling, Verbote von Demonstrationen, Bewegungsverbote, Datensammlungen - Grund- und Menschenrechte würden überall der Sicherheit geopfert.


Großbild per Skype - Foto: © 2017 by Schattenblick

Gabriele Heineke
Foto: © 2017 by Schattenblick

Nicht einmal mehr die Fassade formaler Demokratie

Gabriele Heineke ist Fachanwältin für Strafrecht und Arbeitsrecht, Mitglied im Bundesvorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins. Vielfältig engagiert, gehörte sie auch dem anwaltlichen Notdienst während des G20-Gipfels an und war teilweise dessen Pressesprecherin.

Gabriele Heineke sprach von den G20 als einem Symptom. Wie aus einer anderen Welt klängen die Worte des Bundesverfassungsgerichts der 80er Jahre von den grundlegenden Freiheiten in der Demokratie. Im Volkszählungsurteil wurde die staatliche Datensammelwut als verfassungswidrig gegeißelt, mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei eine Gesellschaftsordnung nicht vereinbar, in der Bürger unsicher seien, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Informationen dauerhaft gespeichert, verwendet und weitergegeben werden. Im Brokdorf-Urteil sei von einem "Stück ungebändigter unmittelbarer Demokratie" die Rede, das "geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung und geschäftiger Routine zu bewahren." Vergleiche man diese schönen Worte mit der anläßlich G20 erlebten Wirklichkeit, bleibe ein Trümmerhaufen der Grundrechte. Dabei sollte nach der Ankündigung des Innensenators Andy Grote im Mai 2017 der Gipfel ein Spiegel der Demokratie werden. Es sollte eine weltoffene Stadt mit moderner Polizeiarbeit gezeigt werden. Es sollte in der Elbphilharmonie Kultur serviert werden mit Beethovens Neunter. Doch das Festival der Demokratie fiel aus, so Heineke.

Entgegen der klaren Vorgabe des Brokdorf-Beschlusses habe die Hamburger Polizei für die Zeit des G20-Gipfels auf einem Gebiet von 38 Quadratkilometern alle Versammlungen und Demonstrationen verboten. Die Polizei habe die Stadt übernommen. Mehr als 30.000 Polizisten, darunter auch Einsatzkräfte aus Österreich, SOKO Schwarzer Block. Deeskalationsstrategien, wie sie seit Jahren Teil der Ausbildung der Polizeien sind, seien gezielt nicht angewendet worden. Hartmut Dudde habe als oberster Einsatzleiter auf ein hartes Durchgreifen gesetzt. Schlachthofstraße Hamburg-Harburg, früher Gelände eines Supermarkts, dann eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, zum G20-Gipfel 12.000 Quadratmeter Gefangenensammelstelle. 150 Einzelzellen, weitere Sammelstellen, insgesamt 400 Plätze für Gefangene. Hunderte seien in die Gesa verbracht worden, verbunden mit entwürdigenden Maßnahmen, endlosen Wartezeiten, Ungewißheit. Auf demselben Gelände sei eine Außenstelle des Amtsgerichts Hamburg, ein Containergericht mit acht Verhandlungsräumen, errichtet worden. Das neue Polizeigesetz stelle Angriffe auf Polizeibeamte unter eine Mindeststrafe von drei Monaten. Dies sei ein Feldversuch des Angriffs auf die Versammlungsfreiheit, mit dem in Hamburg erste praktische Erfahrungen gesammelt worden seien. Um etwas als einen Angriff zu werten, bedürfe es keiner körperlichen Berührung, schon die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe könne ausreichen. Es bleibe der Polizei vorbehalten, durch ihr Verhalten das strafbare Verhalten von Demonstrationsteilnehmern zu begründen. Es ließe sich in Zukunft jede Studierendendemonstration, jeder Marsch der Gewerkschaften, jeder Streik, der über das Betriebsgelände hinausgeht, kriminalisieren. Das sei absurd und gefährlich.

In Hamburg seien ohne belastbare Informationen über die Vorgänge vor Ort harte Strafen für festgenommene Gipfelgegner gefordert und drakonische Haftstrafen für Sachverhalte verhängt worden, für die es bislang nur Geldstrafen oder maßvolle Bewährungsstrafen gab. Es herrsche Ausnahmezustand, das Versammlungsrecht werde aufgehoben, die Polizei gehe ohne jede Rücksicht gegen Presse, Anwältinnen, Sanitäter und Demonstrantinnen vor. Man sorge für Ruhe im Inland, während im Ausland die politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands brachial durchgesetzt würden. "Die Diktatur hinter der Fassade formaler Demokratie" habe 1966 Georg Benz die Notstandsgesetze genannt. Während des G20-Gipfels sei nicht einmal mehr die Fassade zu sehen gewesen.

(wird fortgesetzt)


Podium im Panorama - Foto: © 2017 by Schattenblick

Gerhard Kupfer, Ulla Jelpke, Simon Ernst, Elke Steven
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.unsere-zeit.de/de/4843/imBild/3907/Diktatur-hinter-der-Fassade-formaler-Demokratie.html

[2] http://demonstrationsrecht-verteidigen.de/bundesweiter-kongress-am-7-10/

[3] http://www.kornbergerpartner.com/projekt/items/zur-lage-des-systems-acht-thesen-ueber-krise.html


18. Oktober 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang