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BERICHT/279: Horizonte und Grenzen - Türen öffnen, Tore weit ... (SB)



Auf Einladung des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) fand am 17. Juni 2017 im Hamburger Rathaus eine Podiumsdiskussion zum Thema "Die G20 im Kontext globaler Veränderungen: Erwartungen und Hoffnungen, Risiken und Herausforderungen" statt. Unter Moderation von Andreas Cichowicz (Chefredakteur NDR Fernsehen) diskutierten Prof. Lars Hendrik Röller (G20 "Sherpa" und Wirtschafts- und finanzpolitischer Berater der Bundeskanzlerin), Wael Hmaidan (Direktor des Climate Action Network International) und Prof. Amrita Narlikar (Präsidentin des GIGA). Das Grußwort sprach Staatsrat Wolfgang Schmidt (Bevollmächtigter Hamburgs beim Bund und zuständig für internationale Angelegenheiten).

Das GIGA-Institut ist Teil des internationalen T20 (Think-20) Netzwerks, das als "Ideenbank" für die G20 dient und forschungsbasierte Politikberatung bietet. Im Vorfeld des G20-Gipfels analysiert das GIGA diese Institution im Kontext des Weltgeschehens sowie Kernthemen der Gruppe aus Sicht verschiedener Weltregionen und diskutiert diese in öffentlichen Veranstaltungen. Wie Staatsrat Schmidt eingangs hervorhob, finden in Hamburg mehrere C20-Treffen der Zivilgesellschaft statt, deren Ergebnisse der Bundeskanzlerin präsentiert werden. Auf dem letzten G20-Gipfel in Hangzhou wurden der Klimawandel und die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen als weltweiter Fakt anerkannt und das Bekenntnis zum freien und fairen Handel bekräftigt. Seither sei die Situation jedoch erheblich komplizierter geworden, so Schmidt.

Mit dieser Aussage bezog sich der Staatsrat nicht auf den Umstand, daß die chinesischen Behörden im vergangenen Jahr kurzerhand die ganze Stadt evakuiert hatten, um das Gipfeltreffen der führenden Staats- und Regierungschefs von vornherein nicht mit möglichem Protest der einheimischen Bevölkerung oder heimlich angereister Kritiker zu kontaminieren. Da sich solche staatliche Brachialgewalt in Hamburg verbietet, wo sich angesichts angekündigten Massenprotests eine höchst anspruchsvolle Sicherheitslage stellt, ist unter der deutschen Präsidentschaft der G20 eine ebensolche Gründlichkeit gefragt: Die logistische Aufgabe, jeden unkontrollierten Kontakt zwischen den Staatenlenkern und den Staatsbürgerinnen und -bürgern zu verhindern, ist im Prinzip dieselbe wie in Hangzhou, doch wird die administrative Bewältigung des Problems gewissermaßen auf einer höheren Ebene exekutiert.

Das wird teuer. Der Bund hat für das OSZE-Ministerratstreffen im vergangenen Dezember und den G20-Gipfel in der Hansestadt insgesamt 50 Millionen Euro bereitgestellt. Kritiker befürchten wesentlich höhere Kosten, die Hamburgs Steuerzahler auf Jahre hinaus belasten werden. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) beziffert die Ausgaben für den G8-Gipfel im Jahr 2007 in Heiligendamm auf rund 100 Millionen Euro und geht davon aus, daß G20 vermutlich das Doppelte oder Dreifache kosten wird. Wenngleich es wichtig sei, daß die Staats- und Regierungschef miteinander reden, müsse man sich auf Tagungsorte verständigen, "wo nicht so ein immens verrückter Aufwand" gemacht werden muß, so der einer fundamentalen Gipfelkritik unverdächtige Unionspolitiker. [1]

Die immensen Kosten rechnen sich jedoch aus Perspektive deutschen Führungsanspruchs in Europa und darüber hinaus allemal: Zum einen zahlen ohnehin andere die Zeche, zum anderen bietet die Durchführung des Gipfels inmitten einer belebten und mit gut hunderttausend Gegendemonstranten angereicherten Metropole die Gelegenheit zu einer sozialtechnokratischen Machtdemonstration. Was ist schon ein Gipfel im gespenstisch leergefegten Hangzhou gegen ein G20-Treffen im Herzen urbanen Wochenendtrubels eines zentralen Wirtschaftsstandorts, wo die Mehrheitsbevölkerung nicht einfach nur ignoriert, sondern mittels eines hochentwickelten Akzeptanzmanagements eingebunden werden soll.

Gefragt sind einerseits ein in die Zehntausende gehendes Polizeiaufgebot samt Gefangenensammelstelle und Schnellgerichten sowie eine großflächliche Außerkraftsetzung diverser Bürgerrechte in einer rund 38 Quadratkilometer großen Zone der Hansestadt. Zu dieser repressiven Komponente der Verhinderung jeglichen Gipfelsturms per Ausnahmezustand gesellt sich die intensive Vereinnahmung und Befriedung sogenannten zivilgesellschaftlichen Protests mittels affirmativer Ideologieproduktion, worunter die bereits erwähnten C20-Treffen ebenso fallen wie die Arbeit des T20-Netzwerks.


Podiumsteilnehmer im Panorama - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wael Hmaidan, Amrita Narlikar, Andreas Cichowicz, Lars Hendrik Röller (v.l.n.r.)
Foto: © 2017 by Schattenblick

Plädoyer für Multilateralismus und Globalisierung

Schmidt stellte denn auch vorab in einem Nebensatz klar, daß man bei dieser Podiumsdiskussion nicht über vordergründige Aspekte wie Sicherheit, Demonstrationen und Verkehrsprobleme reden wolle, wo doch der G20-Gipfel weit darüber hinaus von enormer inhaltlicher Bedeutung sei. Diesen Ball nahm Andreas Cichowicz in seiner Anmoderation auf, indem er die aufgrund der Entwicklungen in den USA, des Brexit und des Vormarsches rechtsgerichteter populistischer Kräfte kolportierte Auffassung, der Multilateralismus sei tot, mit dem Diktum kontrastierte, dem gelte es in Hamburg etwas entgegenzusetzen.

Lars Hendrik Röller, als dienstältester "Sherpa" seit sechs Jahren gemeinsam mit seinen Kollegen aus den anderen G20-Ländern für die Vorbereitung solcher Gipfel verantwortlich, signalisierte der Zuhörerschaft im Festsaal des Rathauses, daß man auf einem guten Weg sei. Der diesjährige G20-Gipfel stehe in einer großen Verantwortung und biete zugleich aus deutscher Sicht die Gelegenheit, maßgebliche Akzente zu setzen. Man nehme die Präsidentschaft sehr ernst und halte es für unverzichtbar, dem Multilateralismus einen Schub zu verleihen. Man dürfe die G20 indessen nicht überfordern, da sie keineswegs alle anderen Institutionen wie die UNO ersetzten. Sie seien vielmehr ein politisches Format, dessen Beschlüsse im günstigsten Fall in andere Gremien übertragen würden, hielt Röller den Ball flach. Hätten einige Mitglieder moniert, daß die Vorzüge der Globalisierung nicht allen zugute kämen, so werde die 2015 beschlossene Entwicklungsagenda 2030 von den G20 angeschoben. Deren Gipfel produziere im wesentlichen zwei Resultate: Die Abschlußerklärung, die man derzeit aushandle, und die Diskussion der Staatsführer, die womöglich noch wichtiger als die gemeinsame Erklärung sei.

Wael Hmaidan aus dem Libanon repräsentierte als Direktor des größten internationalen Netzwerks gegen den Klimawandel die Stimme der NGOs auf dem Podium. Wie er postulierte, habe man in den letzten zehn Jahren beachtliche Fortschritte in der globalisierten Welt gemacht. Wenngleich vielerorts rechtsgerichtete Bewegungen auf den Plan getreten seien, stärke man doch den Multilateralismus. Man blicke auf Deutschland als Champion der liberalen Agenda, und wenngleich hierzulande auch nicht alles perfekt sei, würden doch wesentliche Positionen wie fairer Handel, Frauenrechte, Klima- und Umweltfragen vertreten. Geopolitisch, ökonomisch und sozial stehe die Bundesrepublik für zentrale Zielsetzungen auf allen Ebenen. Wie das Pariser Klimaabkommen zeige, rücke die Welt auf historisch beispiellose Weise enger zusammen. Sie werde nicht von einer Person oder einem Land dominiert, seien doch die USA in zahlreichen internationalen Konventionen nicht vertreten, ohne daß dies dem Multilateralismus geschadet hätte. Auch die G7 hätten positive Resultate erzielt, die Annäherung EU-China sei ein wesentlicher Schritt und die Diskussion staatlicher und nichtstaatlicher Akteure wie NGOs, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Gruppen nehme zu. Der Klimawandel stelle die deutsche Präsidentschaft der G20 vor große Herausforderungen. Man unterstütze die von Deutschland eingebrachte Agenda der Klimaziele, glaube fest an die Stärke des Multilateralismus und würde auch als G19 dafür stehen, daß jede Abkehr von ökologischen oder sozialen Zielen in die Isolation führe, so Hmaidan.

Amrita Narlikar, die an der Universität Hamburg lehrt und seit Oktober 2014 Präsidentin des GIGA ist, hat die G20 zu einem Forschungsgegenstand ihres Instituts gemacht. Auch sie hielt ein Plädoyer für die Globalisierung, die sich freilich diversen Rückschlägen und bedrohlichen Krisen ausgesetzt sehe. Darüber vergesse man allzu leicht, welche Errungenschaften die Globalisierung generiert habe, wenngleich ihre Reform notwendig ist. Die G20 könnten nicht allein die Globalisierung retten oder reformieren, jedoch eine maßgebliche Rolle dabei spielen, die erforderlichen Schritte einzuleiten. Dafür seien sie gut gerüstet, hätten ihre Führer doch im Gefolge der Krise von 2008 unter Beweis gestellt, daß sie eine sehr effektive schnelle Eingreiftruppe sind. Zum zweiten verfügten die G20 über wesentliche strukturelle Vorteile wie ihre Flexibilität, relativ geringe Größe und kritische Masse von Staaten. Zudem repräsentierten sie eine attraktive Mischung aus politischen Visionen und technischer Kompetenz.

Angesichts der Kritik an der Globalisierung sei die Diskussion zwischen politischer Führung und Zivilgesellschaft mehr denn je geboten. Das wachsende Mißtrauen gegenüber den Experten, wie es insbesondere die Rechte für ihre Zwecke vereinnahme, unterstreiche die Bedeutung der Auseinandersetzung mit den Kritikern und der Durchführung des Gipfels in einem internationalen Umfeld wie Hamburg. Dieser könne maßgeblich zu einer wünschenswerten Agenda beitragen und Kristallisationskerne einer Reform bereitstellen. Dabei seien drei Szenarios möglich: Optimal wäre ein Bekenntnis aller 20 Mitglieder zu einer Wiederbelebung des Multilateralismus und einer Reform der Globalisierung. Die zweite, weniger optimale Möglichkeit wäre, daß sich eine kritische Masse von Staaten zusammenschließt, um die Reform der Globalisierung zu befördern. Das schlimmste Szenario wäre das Ende des Multilateralismus und der Aufschwung der Deglobalisierung. Das wäre wahrscheinlich, wenn mehrere G20-Mitglieder wie insbesondere die USA und UK aus bestehenden Handelsabkommen ausstiegen. Die Folgen wären fatal, die Kosten der Abwärtsspirale enorm, so Narlikar.

Reparaturvorschläge in Krisenzeiten

Hinsichtlich möglicher Ergebnisse des Gipfels bremste Röller aufkeimende Euphorie mit dem Hinweis, eine Übereinkunft zu Handelsfragen wie in Taormina könne man, zumal mit Blick auf die Kontroversen um CETA und TTIP im eigenen Land, kaum erwarten. Auch Migration und Klima seien schwierige Themen, so daß es unrealistisch wäre, mit ähnlich guten Ergebnissen wie bei früheren Gipfeln zu rechnen. Dem schloß sich Narlikar mit den Worten an, in einer pluralistischen Welt, die von staatlichen Akteuren dominiert werde, könne keine internationale Organisation und erst recht nicht die Gruppe der 20 bestimmen, was die einzelnen Länder zu tun hätten. Daher sei es fehlgeleitet, die G20 mit unfairen Erwartungen zu überfrachten. Die GIGA-Präsidentin räumte angesichts der Kritik am G20-Gipfel ein, daß nicht alle derartigen Treffen notwendig seien. Die Zusammenkunft der Staatschefs sei jedoch von größter Wichtigkeit, weil es um eine politische Vertrauensbildung auf höchster Ebene gehe.

Mit Blick auf die von ihr angemahnten Reformen der Globalisierung nannte Amrita Narlikar zwei Dinge, die schiefgegangen seien. Zum einen finde nicht überall Wachstum statt, zum anderen habe man viel zu wenig erklärt, warum Globalisierung gut sei. Notwendig sei eine neue Form der Globalisierung, die dreierlei enthalte: Zum ersten gelte es grundsätzlich zu überdenken, welche öffentlichen Güter die Staatengemeinschaft bereitstellen soll. Einige Länder sprächen von Ernährungssouveränität, andere von Ernährungssicherheit, was ein großer Unterschied ist. Früher habe man von Freihandel gesprochen, heute sei zunehmend von fairem Handel die Rede. Zum zweiten müsse man die marginalisierten Länder einbeziehen, die beklagen, daß sie keine Stimme hätten, wie auch marginalisierte Regionen innerhalb einzelner Länder. Zum dritten müßten die vereinbarten Regeln so gestaltet werden, daß sie politischen Spielraum zur Umsetzung auf allen Ebenen lassen. Das könnten weder die G20 noch andere internationale Organisationen diktieren, das müßten die Länder selber für sich entscheiden. Führe man sich die Debatten im US-Wahlkampf oder beim Brexit-Referendum vor Augen führen, seien diese zwar sehr emotional, doch ohne grundlegendes Wissen um die Folgen geführt worden. Errichte man Barrieren für Menschen, Güter und Dienstleistungen, gehe das zu Lasten der Konsumenten. Das werde die Logik der Märkte zeigen und gelte auch für Schwellenländer, die ihre Märkte zu schützen versuchen. Um solches Wissen zu schaffen, sei es unverzichtbar, enger mit zivilgesellschaftlichen Gruppen, Instituten der Think-20 und anderen Forschungseinrichtungen zusammenzuarbeiten.

Daß sich in der Klimafrage bereits unter deutsch-chinesischer Führung eine Koalition gegen die USA formiert, obgleich beide Länder selbst unbewältigte ökologische Probleme vor sich her schieben, begrüßte Wael Hmaidan vom Prinzip her. So habe China bemerkenswerte Führungsqualitäten unter Beweis gestellt und ökologische Ziele übererfüllt. Nach Ende der Amtszeit Obamas sei eine Art Vakuum entstanden, in das andere Länder vorstießen. Fossile Energieträger stellten eines der größten globalen Probleme dar, zumal Hunger, Flüchtlingsströme, Konflikte und Terrorismus durch den Klimawandel verschärft würden. Daß sich auch in Indien Veränderungen in der Armutsbekämpfung und im Umgang mit dem Klimawandel abzeichneten, bestätigte Narlikar. Premierminister Modi habe reagiert, und Indien gehe sogar über die Verpflichtungen des Pariser Abkommens hinaus.


Stehend beim Gruppenfoto - Foto: © 2017 by Schattenblick

Podiumsteilnehmer und Staatsrat Wolfgang Schmidt (rechts)
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wertschöpfung zu wessen Lasten?

Das einmütige Plädoyer für die Globalisierung auf dem Podium blieb in der Diskussion mit dem Publikum insofern nicht ganz unwidersprochen, als Globalisierungsfolgen wie wachsende Ungleichheit und die multiple Krise Afrikas argumentativ ins Feld geführt wurden. Wie Röller dazu erklärte, rückten die G20 allmählich von der ausschließlichen Fokussierung auf Wachstum und Regulierung der Finanzmärkte ab und richteten den Blick auf das Wohlergehen der Bürger in aller Welt. Die Bundesregierung lege in verschiedenen Politikfeldern Wert darauf, daß das Wachstum geteilt wird, was die vieldiskutierte Frage der Ungleichheit einschließe. Die deutsche Präsidentschaft habe Afrika auf die Agenda gesetzt und wolle dort die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum schaffen. Dabei übe man keinen Druck aus, sondern frage die jeweiligen Regierungen, was sie wollen, weil die Verhältnisse von Land zu Land unterschiedlich seien.

Auch Wael Hmaidan bekräftigte, daß Ungleichheit eine grundsätzliche Problematik speziell in Afrika sei und viele verschiedene Sphären beeinträchtige. Strebe man eine inklusive Agenda an, müsse sie Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit beinhalten, zumal diese dazu führe, daß die Globalisierung als solche kritisiert werde. Narlikar erinnerte daran, daß sie in ihrem Beitrag die Ungleichheit mehrfach angesprochen habe. Der Ansatz, daß man lediglich Wachstum schaffen müsse, worauf der zunehmende Reichtum von oben nach unten heruntersickern werde, habe nicht funktioniert. Deshalb müsse man sich auf neue Ansatzpunkte konzentrierten, wie dies in der Agenda 2030 geschehe.

Das bei der Podiumsdiskussion favorisierte Modell des Multilateralismus läßt sich in dem dabei auch verwendeten schlichten Bild zusammenfassen, daß der Kuchen zuerst wachsen müsse, bevor man darangehen könne, ihn gerecht zu verteilen. Daher solle man zusammenarbeiten, damit der Kuchen wächst. Laufe die Philosophie hingegen darauf hinaus, daß jeder für sich agiert und nicht mit andern kooperiert, drohe der Rückfall in Nationalismen um den Preis schrumpfenden Wachstums zu Lasten aller. Diese reduzierte Interpretation der Globalisierung und der Weltlage unterschlägt geflissentlich, aus welchen Quellen sich dieses Wachstum speist, wer demzufolge über die Erträge verfügt und was gegen den Wachstumszwang der vorherrschenden Wirtschaftsweise einzuwenden ist. Unterstellt das Konzept freier Märkte auf gleicher Augenhöhe beteiligte Akteure, so zeugt eine Analyse individueller, kollektiver, regionaler und staatlicher Voraussetzungen vom Gegenteil: Die aus der Ausbeutung von Mensch und Natur generierte Wertschöpfung gründet auf einem fundamentalen Zwangsverhältnis, das die innere Bindekraft der Gesellschaft und in Gestalt ihrer Produktivkräfte die Mittel ökonomischer Macht im Außenverhältnis bestimmt.

Greift man als ein Beispiel unter vielen die Freihandelsabkommen heraus, so zeichnet sich dabei das Bestreben ab, die Gestaltungsmacht beim künftigen Welthandel zu erringen. Werden solche Abkommen durchgesetzt, schafft dies nahezu unumkehrbare Zugriffsmöglichkeiten auf die Bevölkerungen der Mitgliedsländer und ein innovatives Regime fortgesetzter Ausplünderung schwächerer Staaten in der globalen Konkurrenz. So tragen auch die EPAs zwischen der EU und Ländern Afrikas die Handschrift eines Handels höchst ungleicher Partner zugunsten der führenden Industriestaaten, die ihren Vorsprung ausbauen, indem sie sich nicht nur der Ressourcen ihrer Partnerländer bemächtigen, sondern auch deren Landwirtschaft ruinieren und ihre Industrialisierung verhindern.

Gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und Konsorten sind in deutschen Städten Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen. Nicht aus Unwissenheit oder ideologischer Engstirnigkeit, sondern in Folge einer mühsam erarbeiteten Kenntnis der Vertragsinhalte, die ihnen Bundesregierung und EU vorenthalten wollten. Als die Hamburger Bevölkerung der Olympiabewerbung eine Absage erteilte, so gewiß nicht aufgrund mangelnden Sachverstands, wer von dem sportlichen Großereignis profitieren und wer das Nachsehen haben würde. Was den G20-Gipfel betrifft, wurden die Bürgerinnen und Bürger der Hansestadt gar nicht erst nach ihrer Meinung gefragt. Ob sie sich jetzt darüber freuen, daß alle Luxushotels ausgebucht sind, deren Suiten sie nie im Leben von innen sehen werden? Daß man je nach Interessenlage zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen ein und desselben Sachverhalts gelangen kann, liegt auf der Hand. Wenn gut hunderttausend Menschen angekündigt sind, die gegen den G20-Gipfel in Hamburg Flagge zeigen wollen, sollte dies Grund genug zur Annahme sein, daß auch dieses Engagement im Zeichen einer inhaltlich fundierten Parteinahme gegen hegemoniale Ansprüche steht, die Geschicke der Menschheit zu diktieren.


Blick von hinten über das Publikum auf riesiges Wandgemälde des Hamburger Hafens - Foto: © 2017 by Schattenblick

Hanseatischer Stolz überdimensional
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnote:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article165349304/Anonymer-Wutbrief-Polizist-prangert-G-20-Gipfel-an.html


27. Juni 2017


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