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BERICHT/273: Initiativvorschläge - auf die Füße gestellt ... (1) (SB)



Gesundheit ist ein Ideal, das als solches nicht zu erfüllen ist, sondern stets Fluchtpunkt erhoffter Ziele bleibt. Wenn die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit als "Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen" definiert, dann ist dieses gesellschaftliche Gut aus der Warte dieser Maximalposition lediglich negativ zu bestimmen. Die staatliche Verwaltung individueller Funktionstüchtigkeit - um mehr geht es in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft bei Krankheit und Gesundheit nicht - begreift den Menschen mithin als Mängelwesen, das den an ihn angelegten Maßstäben niemals genügt.

Die Notwendigkeit stetiger Optimierung ist dieser anthropologischen Konstante von vornherein eingeschrieben, wodurch ein scheinbar erstrebenswertes Ziel ganz andere, die Menschen noch mehr in Defensive und Ohnmacht treibende Konsequenzen hervorbringen kann. Wo Gesundheitsvorsorge mit disziplinatorischem Druck eingefordert wird, erscheint Krankheit als schuldhaftes Versagen. Als soziales und gesellschaftliches Konstrukt emanzipatorisch gewendet kann Krankheit allerdings als Form kollektiven Widerstands in Erscheinung treten, wenn sie ihrer "Verwaltung, Verwertung und Verwahrung in den Institutionen des Gesundheitswesens entzogen" [1] wird. Die 11 Thesen zur Krankheit des Sozialistischen Patientenkollektivs aus dem Jahr 1972 sind bei allen Zugeständnissen an die veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen bis heute diskutabel, wenn es darum geht, sich aus der Passivität des bloßen Konsums medizinischer Leistungen und aller damit einhergehenden Verluste an Autonomie und Selbstbestimmung auseinanderzusetzen.

"Gesundheit und das gute Leben für Alle - Selbstorganisierte Versorgung und Infrastruktur" lautete der Titel eines Workshops auf der Konferenz "Selber Machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", die vom 28. bis 30. April im traditionsreichen Zentrum Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand. Inmitten dieses architektonischen Zeugnisses institutionalisierter Medizin des 19. Jahrhunderts wurde vor allem die Notwendigkeit einer von staatlichen Einrichtungen unabhängigen oder zumindest nicht durchgängig kontrollierten medizinischen Versorgung besprochen. Dazu wurden Initiativen aus der Bundesrepublik, aus Griechenland und Rojava vorgestellt. Die im Ankündigungstext aufgeworfene Frage, wie sich diese "Versorgung mit einer politischen Idee" verbinden lasse, riß die Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Krankheit und Gesundheit bestimmen, jedoch nur an.

Wird nach Basisorganisierung zur Schaffung von Gegenmacht und Autonomie gefragt, kann die medizinaladministrative Verwaltung des Menschen nicht kritiklos hingenommen werden. Dies nicht nur, weil auch in der Bundesrepublik, die sozialpolitisch zu den entwickeltesten Staaten der Welt gehört, bedürftige Menschen von einer angemessenen medizinischen Versorgung ausgeschlossen werden oder lediglich Grundleistungen in Anspruch nehmen können. Wer den Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" begreift, kommt nicht umhin, das von ihm organisierte Gesundheitswesen als institutionalisierten Ausdruck des Interesses zu begreifen, die erwerbsabhängige Bevölkerung so umfassend und dauerhaft wie möglich auf die zentrale Aufgabe zuzurichten, für fremdbestimmte, der Kapitalverwertung unterworfene Arbeit zur Verfügung zu stehen.

In der Ära des neoliberalen Kapitalismus erfolgt dies im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Strukturierung des Gesundheitswesens, dessen fortgeschrittene Ökonomisierung denn auch viel Anlaß zur Klage über den Warencharakter von Gesundheit bietet. Diese insbesondere von linker Seite geübte Kritik an der Gesundheitswirtschaft ignoriert jedoch, daß die Totalität des warenproduzierenden Systems auch zur Zeit des Fordismus und seiner sozialstaatlichen Regulation keine Lücke in der Verwertungslogik einer Gesundheitsversorgung ließ, deren als solidarisch geltende Finanzierung keinem anderen Zweck als der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Geschäftsbetriebes dient. Klagen die Käufer der Arbeitskraft über angeblich zu hohe "Lohnnebenkosten", dann bleibt außer Acht, daß der Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben selbstverständlich in die Mehrwertproduktion eingepreist wird, es sich also um einen Teil des Arbeitslohnes handelt, der nicht direkt ausgezahlt, sondern zwangsweise in die Bewirtschaftung der Arbeitskraft im Sinne ihrer fortgesetzten Nutzung eingespeist wird.

Da diese weiterhin unter krankmachenden Bedingungen erfolgt, bestände die Aufgabe eines Arztes, der sich dem Ethos des Helfens und Heilens verpflichtet fühlt, darin, diesen Umstand zu beseitigen. Auch wenn Ärzte die krankmachenden Ursachen der Probleme, derentwegen sie konsultiert werden, im Blick haben, erkennen sie ihre Aufgabe eher darin, ihre Patientinnen und Patienten, so sie nicht unwiderbringlich aus der Arbeitsgesellschaft ausscheiden müssen, für die weitere Verwendung in ihr fit zu machen. So mutieren alle betriebsbedingten wie sozialökologischen Krankheitsfaktoren zu Sachzwängen, die vermeintlich alternativlos in Kauf genommen werden, weil der kranke Mensch Produktivfaktor der "weißen Fabrik" ist, deren Personal und die ihr zuarbeitenden Industrien direkt an der Wiederherstellung seiner Leistungskraft verdienen und die allgemeine Reichtumsproduktion der Gesellschaft vom medizinischen Reparaturbetrieb abhängig ist.

Im Ergebnis allgemeinmedizinischer wie klinischer Praxis wird dafür gesorgt, die physischen wie psychischen Belastungsgrenzen zu erweitern, um die Menschen unter Inkaufnahme der Chronifizierung ihrer Leiden und des vermehrten Auftretens sogenannter Zivilisationskrankheiten leistungsfähig zu halten. Resilienz ist der Leitbegriff einer sozialtechnokratischen Abhärtungsdoktrin, mit der die Kapitulation vor den krankmachenden Verhältnissen unterschrieben wird, um sich ausschließlich auf die Instrumente und Methoden des Überlebens unter der Bedingung permanenter Krisenhaftigkeit zu konzentrieren [2].

Anstatt die gesellschaftlichen Bedingungen des Krankwerdens ins Visier zu nehmen, wird der einzelne Mensch in die Pflicht genommen, sich durch die Einhaltung psychophysischer Verhaltensnormen einer Präventionslogik zu unterwerfen, die ihrerseits auf der statistisch gemittelten Empirie einer vermeintlich gesunden Lebensführung basiert. Mit der Unterstellung, sich durch angebliches Fehlverhalten wie dem Konsum von zu viel Fett, Zucker oder Genußgiften, dem Mangel an körperlicher Bewegung oder einem Übermaß an Arbeitsstreß an der eigenen Gesundheit vergangen zu haben, tritt der Primat der Eigenverantwortung an die Stelle der zahlreichen gesellschaftlichen Umstände, deren krankmachende Wirkung zu erleiden der einzelne kaum eine Wahl hat.

Ob die lohnabhängige Bevölkerung dazu genötigt ist, entnervende, von sozialer Konkurrenz, giftigen Arbeitsmitteln oder körperlich destruktiven Verrichtungen beeinträchtigte Jobs zu verrichten, ob sie Ackergiften, Schwermetallen, Nahrungsmittelchemie und Medikamentenrückständen im Essen ausgesetzt wird, ob sie Stickoxide oder Feinstaub einatmet, ob sie kontaminiertes Wasser trinken muß, um nur einige Folgen der hochproduktiven, die Profitraten durch die Externalisierung sozialökologischer Kosten aufrechterhaltenden Dienstleistungs- und Industriegesellschaft zu nennen - der Rat des Arztes, dieses zu tun oder jenes zu lassen, läßt an Ignoranz gegenüber den Zwangsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft nichts zu wünschen übrig.

So verwaltet das staatliche Gesundheitswesen und sein medizinisches Personal einen Verschleiß, der akzeptabel erscheint, so fern er zur Reichtumsproduktion beiträgt, und in ein schuldhaftes Verhältnis zur Gesellschaft gesetzt wird, wenn er ohne erkenntlichen Nutzen die Sozialsysteme belastet [3]. Wo dem Menschen ein individuelles Laster oder persönliches Fehlverhalten angelastet werden kann, liegt der Verdacht, sich am Gemeinwesen vergangen zu haben, nahe. Gesundheit wird als fiktives Humankapital und wiederverwertbare Produktivkraft vergesellschaftet, um Krankheit als negative Bringschuld des einzelnen gegenüber der Gesellschaft privatisieren zu können. Dabei ist das Private nicht Ausdruck der Loslösung des Menschen von seiner Vergesellschaftung, sondern ganz im Gegenteil Voraussetzung seiner legalistischen Einbindung in die nutzenorientierten Mechanismen seiner In- und Exklusion.

Die mit Gesundheit synonym gesetzte und in den Dienst der Allgemeinheit, also ihrer Funktions- und Geldeliten gestellte Leistungsfähigkeit zu schützen verpflichtet die Insassen der Arbeitsgesellschaft auf eine weit ins Refugium des Privaten hineinreichende Präventionsarbeit. Sich im Job zu bewähren bindet Lohnabhängige nicht nur 24/7 an die lange Leine permanenter Erreichbarkeit und Verfügbarkeit, sondern nötigt sie dazu, das ganze Leben auf Erhalt und Steigerung seiner Verkäuflichkeit am Arbeitsmarkt zu konditionieren.

Krankenversicherungen, die die Absolvierung bestimmter, per digitalem Selftracking zu verifizierender Präventionsleistungen durch Gutschriften beim Beitragssatz honorieren, weisen den Weg in die Materialisierung der Bezichtigungslogik, laut der vor allem der einzelne Mensch an seinen körperlichen und seelischen Problemen schuld ist. Konnte die Solidargemeinschaft der Versicherten einst noch an der gleichberechtigten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen festgemacht werden, so greift die Selektion heute schon bei der einkommensabhängigen Leistungsvergabe und hört bei der Bewirtschaftung der psychophysischen Verfassung des Marktsubjekts und seiner Zurichtung auf die Peitsche der Konkurrenz nicht auf. Die Arbeitskraftunternehmerin muß nicht nur die eigene Verwertung je nach Marktlage managen, sie ist auch Eigentümerin des Verschleißes, der ihr gesellschaftlich abverlangt wird und den sie in Eigenregie zu kompensieren hat, indem sie Zusatzleistungen der Gesundheitswirtschaft kauft, in angeblich besonders gesunde Nahrungsmittel investiert oder andere Formen der Prävention und Nachsorge finanziert.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] SPK: Aus der Krankheit eine Waffe machen. C. Trikont Verlag, München 1972

11 x Krankheit

1) Krankheit ist Voraussetzung und Resultat der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

2) Krankheit ist als Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse d i e Produktivkraft für das Kapital.

3) Als Resultat der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist Krankheit in ihrer entfalteten Form als Protest des Lebens gegen das Kapital d i e revolutionäre Produktivkraft für die Menschen.

4) Krankheit ist die Form, unter der "Leben" im Kapitalismus allein möglich ist.

5) Krankheit und Kapital sind identisch: In dem Umfang, in dem totes Kapital akkumuliert wird - ein Vorgang, der mit Vernichtung menschlicher Arbeit, sogenannter Kapitalvernichtung, Hand in Hand geht - nimmt die Verbreitung und Intensität von Krankheit zu.

6) Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse beinhalten die Verwandlung lebendiger Arbeit in tote Materie (Waren, Kapital). Krankheit ist der Ausdruck dieses ständig weiter um sich greifenden Prozesses.

7) Krankheit ist als verschleierte Arbeitslosigkeit und in der Form der Sozialabgaben d e r Krisenpuffer im Spätkapitalismus. (10)

8) Krankheit ist in ihrer unentfalteten Form als Hemmung das innere Gefängnis des Einzelnen.

9) Wird Krankheit der Verwaltung, Verwertung und Verwahrung in den Institutionen des Gesundheitswesens entzogen, und tritt sie in Form des kollektiven Widerstands der Patienten in Erscheinung, so muß der Staat eingreifen und das fehlende innere Gefängnis der Patienten durch äußere, "richtige" Gefängnisse ersetzt werden.

10) Das Gesundheitswesen kann mit Krankheit nur unter der Voraussetzung der totalen Rechtlosigkeit der Patienten umgehen.

11) Gesundheit ist ein biologistisch-faschistisches Hirngespinst, dessen Funktion in den Köpfen der Verdummer und Verdummten dieser Erde die Verschleierung der gesellschaftlichen Bedingtheit und gesellschaftlichen Funktion von Krankheit ist.

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0031.html

[3] REZENSION/664: Sabine Predehl, Rolf Röhrig - Gesundheit - Ein Gut und sein Preis (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar664.html

14. Juni 2017


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