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BERICHT/248: Menschenrechtsfreie Zone - Die Lizenz zum Töten (1) (SB)


Von Washington über Ramstein nach Sanaa: Wie der Drohnenkrieg Recht, Kriegsführung und Gesellschaft verändert

Diskussionsabend des ECCHR am 18. Oktober in Berlin - Teil 1


Kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft sorgt sich Barack Obama, daß der Einsatz von bewaffneten Drohnen, die das Beseitigen von Feinden "recht antiseptisch" mache, zu "endlosen Kriegen überall auf der Welt, viele davon verdeckt, ohne Rechenschaft oder demokratische Debatte" führen könnte. Dies sagte der US-Präsident in einem am 2. Oktober in der Zeitschrift New Yorker veröffentlichten Interview. Die Befürchtungen Obamas sind mehr als begründet. Am 10. Oktober berichtete Le Monde vom erstmaligen Einsatz einer Killer-Drohne durch "Terroristen". Wenige Tage zuvor hatten Freiwillige des "islamischen Staats" (IS) in der Nähe von Erbil, der Hauptstadt der Kurdischen Autonomieregion im Norden Iraks, eine Gruppe Peschmerga und französischer Militärberater mit einer mit Sprengstoff versehenen Drohne angegriffen. Bei dem Anschlag wurden zwei kurdische Kämpfer getötet und zwei französische Soldaten schwer verletzt. Bereits am 9. Oktober warnte Richard Bitzinger in der Asia Times Online vor Überlegungen amerikanischer und russischer Militärs, unbemannte Flugzeuge mit Atomwaffen zu bestücken. Vor diesem Hintergrund zeugte der Diskussionsabend, zu dem unter dem Titel "Von Washington über Ramstein nach Sanaa: Wie der Drohnenkrieg Recht, Kriegsführung und Gesellschaft verändert" am 18. Oktober das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in das Berliner Theater im Aufbau-Haus (TAK) einlud, von höchster Aktualität.


Fassade des Aufbau-Hauses, im Vordergrund der Verkehrskreisel Moritzplatz - Foto: ©2016 by Schattenblick

Das Aufbau-Haus am Kreuzberger Moritzplatz
Foto: © 2016 by Schattenblick

Nach einer kurzen Begrüßung im Namen des Gastgebers lud Andreas Schüller vom ECCHR Faisal Bin Ali Jaber, der seit 2015 eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen deren Verwicklung in die Tötung seines Schwagers und seines Neffens am 29. August 2012 - nämlich durch die Zurverfügungstellung des Militärstützpunktes Ramstein an das US-Militär - laufen hat. Bei seiner Klage wird Bin Ali Jaber sowohl vom ECCHR als auch von der britischen Menschenrechtsorganisation Reprieve juristisch vertreten. Mit der Unterstützung seines Vetters und Dolmetschers Baraa Shiban stellte sich Bin Ali Jaber als staatlicher Umweltingenieur aus dem Jemen vor, der bis zu der besagten Familientragödie mit Politik eigentlich nichts am Hut gehabt habe.

Eingangs erklärte Bin Ali Jaber, daß alles, was er sagen wolle, unter dem Titel Terrorismus und der beste Weg, ihn zu bekämpfen, zu subsumieren sei. Der 59jähriger Jemenit zeigte sich bestürzt darüber, daß in seinem ganzen Leben das Ansehen seiner Religion, des Islams, noch niemals so schlecht gewesen sei wie heute. Für diesen Umstand machte er Gruppen wie Al Kaida und Islamischer Staat (IS) verantwortlich, die mit ihren extremen Ideologien einer der großen Weltreligionen schwer schadeten. Der Schaden sei so groß, daß ein ganzer Abend nicht ausreichen würde, um ihn zu erläutern, so Bin Ali Jaber.

Unter Hinweis auf die Entwicklung in seinem Heimatland Jemen stellte Bin Ali Jaber entschieden fest, daß die von Al Kaida und IS propagierte extreme Auslegung des Islams jedesmal, wenn ein per Drohne durchgeführter Raketenangriff erfolgt, an Stärke gewinnt. Seinen Erkenntnissen nach laute das Grundprinzip der im Jemen tätigen Gruppe Al Kaida auf der arabischen Halbinsel (Al Qaeda in the Arabian Peninsula - AQAP), man sei entweder für sie oder gegen sie; entweder man töte für sie oder werde getötet; nur wer für sie kämpfe und dabei sterbe, komme nach dem Tod in den Himmel; alle anderen landeten in der Hölle. Bin Ali Jaber meinte, es sei wichtig, sich das vor Augen zu führen, um seine Tragödie, die sich während einer mehrtägigen Familienfeier zutrug, zu verstehen.

Zu den beiden Opfern sagte Bin Ali Jaber, sein Neffe Waleed sei Polizist und aktives Mitglied der Gesellschaft gewesen und sein Schwager Salem ein sehr mutiger Imam, der kein Geheimnis aus seiner negativen Meinung über AQAP machte. Laut Bin Ali Jaber vertrat Salem als Islamgelehrter den Standpunkt, daß man nur mit Ideen und nicht mit Militärgewalt Al Kaida erfolgreich bekämpfen und dabei verhindern könne, daß die Jugend von den Dschihad-Predigern radikalisiert und rekrutiert werde. Als er soweit ging, von seiner Moschee aus die AQAP zu einer öffentlichen Debatte aufzurufen, habe die ganze Großfamilie Bin Ali Jaber Angst um ihn bekommen und deshalb Baraa Shiban gebeten, zu ihm zu gehen und ihn irgendwie zur Mäßigung seiner Worte zu bewegen. Keine 35 Stunden nach dieser Intervention war Salem - und mit ihm Waleed - tot, jedoch nicht durch die Hände von AQAP, sondern sozusagen von der eigenen Seite, den Demokratie und Menschenrechte propagierenden Vereinigten Staaten von Amerika. Das sei für die ganze Familie ein gewaltiger Schock gewesen. Einige von ihnen seien bis heute traumatisiert.

Wie Bin Ali Jaber erklärte, sei der Hauptgrund, warum er nach dem für seine Familie verheerenden Drohnenangriff der USA den Weg der Menschenrechte und der Klage eingeschlagen habe, dem getöteten Schwager und dessen beispielhafter Lebensphilosophie gerecht zu werden. Salem habe stets argumentiert, daß es friedliche Wege gebe, gegen Unrecht vorzugehen und Gerechtigkeit zu erfahren, so Bin Ali Jaber. Des weiteren sei der Familienrat zu dem Entschluß gekommen, daß ein Urteil im Sinne der Geschädigten aus Deutschland oder den USA dazu am besten geeignet sei, Salem und Waleed im Grab Frieden zu bescheren.

Selbst wenn Al Kaida politische Gründe zu kämpfen habe, verstehen nach Bin Ali Jabers Überzeugung nur wenige von ihnen, worum es dabei überhaupt geht. Die Familie Bin Ali Jaber wolle mit der juristischen Aufarbeitung des an ihr begangenen Unrechts der Jugend im Gouvernement Hadramaut im besonderen und im Jemen im allgemeinen zeigen, daß es einem anderen Weg als den der Gewalt gebe.

Zum Schluß betonte Faisal Ali Bin Jaber, daß der Grund, warum er sich in Deutschland aufhalte und Klage gegen die Bundesrepublik führe, der Militärstützpunkt Ramstein und dessen Funktion beim Drohnenkrieg der USA im Jemen und anderswo in den Ländern der islamischen Welt sei. Ohne Ramstein hätte es den tödlichen Angriff auf Salem und Waleed nicht gegeben. Gemeinsam müsse man den Kreis der Gewalt stoppen. Nur, weil einem eine Rakete auf den Kopf falle, sei das keine Rechtfertigung dafür, gleich mit der Waffe loszuziehen.


Faisal Bin Ali Jaber gibt Erklärung zum Drohnenangriff auf seine Familie ab - Foto: © 2016 by Schattenblick

Faisal Bin Ali Jaber und Baraa Shiban
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Anschluß an die Erklärung Bin Ali Jabers folgte eine Podiumsdiskussion zum Thema "Die Folgen des Drohnenkriegs im internationalen Kampf gegen den Terrorismus", die, was Expertise in diesem Bereich betrifft, nicht hochkarätiger hatte besetzt sein können. Es diskutierten aus Pakistan Shahzad Akbar, der in seiner Heimat als einziger Anwalt die Opferfamilien der Drohnenangriffe in Wasiristan vertritt, aus Großbritannien Jennifer Gibson von der Menschenrechtsorganisation Reprieve, die Faisal Bin Ali Jaber sowie andere Geschädigte des Drohnenkrieges anwaltlich berät, Chris Woods, Leiter der Gruppe Airwars, welche die Daten aus dem Luftkrieg gegen Al Kaida, IS und andere "terroristische" Gruppen analysiert und auswertet, sowie aus den USA der mehrfach ausgezeichnete Journalist Jeremy Scahill, Autor der Bücher "Blackwater", "Dirty Wars" und "The Assassination Complex", der sich seit 2001 durch zahlreiche Reportagen aus dem Kampfgebiet wie kein zweiter mit der dunklen Seite des "globalen Antiterrorkriegs" auseinandergesetzt hat. Moderiert wurde die Diskussion von Sarah Harrison, Direktorin der Courage Foundation, die als Wikileaks-Redakteurin 2014 Edward Snowden bei seinem berühmten Flug von Hongkong nach Moskau begleitet und dadurch dem NSA-Whistleblower geholfen hat, sich dem Zugriff der US-Behörden zu entziehen und nach Rußland abzusetzen.

Nach einer kurzen Einführung übergab Harrison an Scahill als erstem das Wort, der seinerseits Bin Ali Jaber wegen seines Muts lobte. Der Enthüllungsjournalist, der in den letzten Jahren häufiger im Jemen gewesen ist, kritisierte aufs Schärfste die dort seit Frühjahr 2015 laufende, von den USA militärisch unterstützte Aggression Saudi-Arabiens als "erbarmungslosen Angriff" und verurteilte gleichzeitig die Hilfe des Ex-Präsidenten Mohammed Ali Saleh für die schiitischen Huthi-Rebellen als "destruktiv". Durch die Militäraggression von Saudi-Arabien und dessen sunnitischen Verbündeten im Jemen werde die dort lange fabulierte Einmischung des schiitischen Irans zur Wirklichkeit; das Armenhaus Arabiens drohe am Stellvertreterkrieg zwischen Riad und Teheran zugrunde zu gehen.

Nach jahrelangen CIA-Drohnenangriffen auf AQAP hatten die USA nur wenige Tage vor der ECCHR-Veranstaltung erstmals begonnen, Huthi-Stellungen an der Küste des Roten Meeres zu beschießen. Scahill fragte nach der eigentlichen Agenda Washingtons, wo doch die Huthis und AQAP einander spinnefeind seien. Jedenfalls bezeichnete er die Pressemeldung, das fragliche US-Kriegsschiff Mason sei nicht nur mit ballistischen Raketen, sondern mit einem Marschflugkörper angegriffen worden, als "lachhaft". Keine der jemenitischen Bürgerkriegsparteien verfüge über solche Waffen, sagte er. Scahill verwies auf die von Wikileaks veröffentlichten diplomatischen Depeschen, aus denen hervorgeht, daß Saudi-Arabien bereits seit längerem Angriffe im Jemen durchführt. Für Scahill sieht es so aus, als erledigten die Saudis die "Drecksarbeit" Washingtons im Jemen. Er erinnerte in diesem Zusammenhang daran, daß Barack Obamas CIA-Direktor John Brennan in den neunziger Jahren Leiter der Station des US-Auslandsgeheimdiensts in Riad gewesen ist und dort über beste Verbindungen verfügt.

Scahill bezeichnete den US-Militärstützpunkt in Ramstein als eine "mörderische Telefonzentrale", denn über die Einrichtung dort seien quasi alle Drohnenangriffe seit 9/11 koordiniert worden. Des weiteren habe das für Afrika zuständige Militärkommando der USA, AFRICOM, sein Hauptquartier in der Garnison Kelley bei Stuttgart; von dort aus gehen viele verdeckte Operation der US-Spezialstreitkräfte aus. Folglich hätten auch die Deutschen "Blut an den Händen", so Scahill. Zum Schluß entschuldigt er sich im Namen Amerikas bei Faisal Bin Ali Jaber für das ihm angetane Leid.

Jennifer Gibson berichtete von der Arbeit der Organisation Reprieve, die 1999 in London vom renommierten britischen Menschenrechtsanwalt Clive Stafford Smith ins Leben gerufen wurde, um den Opfern westlicher Antiterroroperationen wie zum Beispiel Menschen, die von der CIA verschleppt und gefoltert wurden, rechtlichen Beistand zu leisten. Mit dem Thema Drohnen befaßt sich Reprieve erst seit 2010. Damals galten alle Angegriffenen als Kombattanten; zivile Opfer waren unbekannt, so Gibson. Kurz nach dem Anschlag auf Salem und Waleed Bin Ali Jaber sei es zur Begegnung mit Faisal gekommen. Gibson zeigte sich empört darüber, daß Bin Ali Jaber bei seinem Bemühen um Gerechtigkeit an jeder Stelle abgewiesen worden sei, sei es in den USA, im Vereinigten Königreich oder bei den EU-Institutionen. Für ihn habe es bislang keine Antworten auf seine Fragen und keine Anerkennung des Leids gegeben. Was die Familie Bin Ali Jaber erlitten habe, sei kein Einzelschicksal, sondern die traurige Erfahrung Hunderter Familien in Pakistan, Jemen, Somalia und anderswo, so Gibson.

Bin Ali Jaber hat nicht nur die Klage in Deutschland, wo er demnächst eine mündliche Anhörung erhält, sondern auch eine in den USA laufen. Nach Angaben Gibsons will er keine Entschädigung und auch keine rechtlichen Schritte gegen die Verantwortlichen für den Angriff unternehmen, sondern lediglich eine Schuldanerkennung und eine formelle Entschuldigung seitens der US-Regierung bekommen. Gibson zeigte sich enttäuscht darüber, daß Obama Transparenz in Sachen Drohnenkrieg verspricht, jedoch die Gerichte in den USA unter Verweis auf die nationale Sicherheit einen Mantel des Schweigens über das Geschehen breiteten. Gibson betonte ausdrücklich, daß man es hier mit einem "globalen Hinrichtungsprogramm" zu tun habe, in das die europäischen NATO-Staaten eingebunden seien, weshalb es den Bürgern dort obliege, Gegendruck zu erzeugen. Laut Gibson darf man auf keinen Fall zulassen, daß die umstrittene Praxis der USA, der zufolge jemand von der Exekutive an der Judikative vorbei zur "terroristischen Bedrohung" bzw. zum "feindlichen Kombattanten" im Sinne des "Antiterrorkriegs" deklariert werden kann, um gleich per Joystick liquidiert zu werden, zur internationalen Rechtsnorm wird. Das sei "inakzeptabel", so die Vetreterin von Reprieve UK.


Jeremy Scahill in der Nahaufnahme - Foto: &copy: 2016 by Schattenblick

Jeremy Scahill
Foto: © 2016 by Schattenblick

Shahzad Akbar zeichnete ein düsteres Bild dessen, was die Drohnenangriffe der USA seit 2003 in seiner Heimat angerichtet haben: 4000 Todesopfer, mindestens die Hälfte davon Zivilisten und davon wiederum mindestens 200 Kinder. 90 Todesopfer sind bis heute nicht identifiziert, also namenlos geblieben. Akbar prangerte zwei Vorgehensweisen der USA ganz besonders an: erstens die sogenannten "signature strikes", die aufgrund irgendwelcher Algorithmen erfolgen, zweitens den sogenannten "double-tap" - das sind nachträgliche Raketeneinschläge, die einige Minuten nach dem ersten Drohnenangriff erfolgen, nachdem Verwandte, Freunde und Nothelfer am Unglücksort eingetroffen sind, um den Verletzten zu helfen und die Leichen bzw. Leichenteile zu bergen, und die gleich mitmassakriert werden. Akbar bezeichnete es als skandalös, daß alle männlichen Todesopfer im wehrfähigen Alter von den zuständigen US-Behörden in deren Statistiken als liquidierte "Terroristen" geführt werden. Die Amerikaner legten die gleiche Mißachtung des Lebens wie Al Kaida und die Taliban an den Tag; er sehe da keinen Unterschied, so Akbar. Die Drohnenangriffe und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie durchgeführt werden, seien kontraproduktiv; sie hätten den Extremismus in Pakistan gefördert, statt ihn einzudämmen, erklärte der Gründer und Leiter der Foundation for Fundamental Rights. Nach dessen Einschätzung befindet sich die Welt aufgrund des Drohneneinsatzes der USA rechtlich in einer "sehr beängstigenden Situation", denn das wichtigste Recht von allen, das Recht auf Leben, werde für eine bestimmte Gruppe von Menschen, die sogenannten "Terrorverdächtigen", und alle, die mit ihnen zu tun haben, schlicht ausgesetzt.

Shahzad empörte sich darüber, daß sich Obama für die Tötung zweier westlicher Geiseln der Taliban - einen Amerikaner und einen Italiener -, die im Januar bei einem Drohnenangriff im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ums Leben kamen, öffentlich entschuldigt und deren Familien eine Entschädigung versprochen habe, jedoch zu den zahlreichen getöteten pakistanischen Zivilisten kein einziges Wort des Bedauerns über die Lippen bringe. Das Verhalten der USA in dieser Angelegenheit sei für die Nicht-Regierungsorganisationen, die in Pakistan arbeiten und in deren Mitarbeitern die Taliban häufig die Handlanger des Westens zu sehen meinen, "sehr entmutigend". Die NGOs in Pakistan gehörten auch zu den Verlierern des Antiterrorkrieges - und das nicht nur im Sinne der Glaubwürdigkeit.

Chris Woods von Airwars, der sich vor einigen Jahren erstmals mit Drohnen im Rahmen eines Projektes des in London ansässigen Bureau for Investigative Journalism befaßt hat, nannte die Waffe ein Attentatswerkzeug, das mit Hilfe der CIA entwickelt worden sei. Er sprach auch von einem "Phantasieprodukt", dessen Erzeuger behaupteten, das es nur die Bösen töte. Das sei die reine Lüge, so Woods. In allen Gebieten, wo man von Drohenangriffen Gebrauch mache, sei die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen worden. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende unschuldiger Menschen seien durch die abgefeuerten Hellfire-Raketen getötet worden, erklärte Woods.

Als "zweite Lüge" machte Woods die These aus, der Einsatz von "Killer-Drohnen" sorge für Stabilität. Das Gegenteil sei der Fall, so Woods, der geltend machte, daß in jedem Land, in dem sie bisher benutzt wurden, heute Chaos herrsche. Woods sprach von "taktischen Erfolgen" auf Kosten "strategischer Niederlagen". Er erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Gespräch, das er vor wenigen Jahren mit dem US-Diplomaten Cameron Munter geführt habe, der damals als US-Botschafter in Pakistan beklagte, daß sein Mitspracherecht, was Drohneneinsätze in Wasiristan betrifft, nichts zähle. Woods konstatierte demnach, die CIA habe nur ihre Kill-Liste im Blick und dafür die übergeordneten Interessen der USA aus den Augen verloren. Diese verheerende Entwicklung, daß der vermeintliche militärische Erfolg bei der "Terrorbekämpfung" die politischen Ziele überlagert habe, sei zuerst in Israel aufgetreten. Die USA und andere Länder würden diesem falschen Weg nun auch folgen. Außergerichtliche Hinrichtungen würden in jedem Land rechtlich akzeptabel, in das die Drohnen Einzug hielten: Man sei kurz davor, die Schwelle zu überschreiten, sie auch im Innern einzusetzen, um Verdächtige zu töten, statt sie festzunehmen.

Nach dieser ersten Runde, fragte Sarah Harrison, warum es so viele verschiedene Angaben - seitens Menschenrechtsorganisationen und staatlichen Stellen - bezüglich der Anzahl der mit Hilfe von Drohnen getöteten Menschen, "Terroristen" sowie Zivilisten, gibt.

Jeremy Scahill erwähnte eine Sammlung geheimer US-Regierungsdokumente zum Thema Drohnenkrieg, die er und Glenn Greenwald 2015 von einem Insider zugespielt bekommen und für einen Enthüllungsartikel im Intercept ausgewertet hätten, welche die unterschiedlichsten Opferzahlen enthielten. Der Grund dafür sei, daß das National Security Council im Weißen Haus, die CIA in Langley, Virginia, und das Oberkommando der US-Spezialstreitkräfte (JSOC) in Florida jeweils eigene Kill-Listen führten, stellte Scahill fest. Die Obama-Regierung habe einen "wissenschaftlichen Prozeß" zum weltweiten Töten per Drohne entwickelt, sagte er. Über jede verdächtige Person auf der Liste werde eine laufende Datei geführt; je mehr sich die Verdachtsmomente summierten, um so höher steige derjenige in der Kill-Liste auf - am Ende bis hin zum Hinrichtungsbefehl, erklärte Scahill. Er bezichtigte Obama, "die schlimmsten Träume von Donald Rumsfeld und Dick Cheney, die eingeschränkte Exekutivgewalt, verwirklicht" zu haben und stellte mit Erschrecken fest, daß die Wähler der demokratischen Partei, die ihrerseits jahrelang gegen die Kriegspolitik der Regierung George W. Bush opponiert habe, laut Umfragen zu 70 Prozent Drohnenangriffe auf "Terrorverdächtige" befürworten. Scahill warf Obama vor, Lippenbekenntnisse auf den Rechtsstaat abzugeben und damit die Menschen zu täuschen, während Cheney immerhin niemals ein Geheimnis aus seinen rechtlich und moralisch fragwürdigen Zielen gemacht habe. Die Algorithmen der während der Amtszeit Obamas entwickelten Prozedur sei so ausgeklügelt, daß die Zahl der zivilen Opfer von Drohnenangriffen stets gering ausfalle. Dies wedre unter anderem dadurch erreicht, daß alle männliche Opfer im wehrfähigen Alter in Pakistan, Somalia und anderswo - also zwischen 14 und 54 Jahren - prinzipiell zu "feindlichen Kombattanten" erklärt werden, sobald sie Drohnenangriffen zum Opfer fallen. Scahill betonte, daß Drohnen lediglich das Mittel, jedoch die Handlungsoption des außergerichtlichen Tötens das eigentliche Ziel der politischen Elite in Washington sei.

Shahzad Akbar aus Pakistan erklärte, er halte an dem Prinzip fest, wonach die Getöteten zunächst als unschuldig zu gelten hätten und nicht umgekehrt. Deswegen habe er vor pakistanischen Gerichten im Namen der Familienangehörigen mehr als 100 Anzeigen erstattet. Mittels einer solchen Klage habe man 2010 die Identität des damaligen CIA-Stationschef an der US-Botschaft, Jonathan Banks, publik gemacht, weswegen dieser daraufhin aus Pakistan abgezogen werden mußte. Akbar zeigte sich guter Hoffnung, von den pakistanischen Gerichten Auslieferungsbefehle gegen einzelne Verantwortliche für die Drohnenangriffe in seinem Land erwirken zu können. Er verwies auf die bahnbrechende Studie der US-Universität Stanford "Living Under Drones: Death, Injury and Trauma to Civilians from US Drone Practices in Pakistan" aus dem Jahr 2012, deren Autoren James Cavallaro, Stephen Sonnenberg und Sarah Knuckey das Leiden der Zivilbevölkerung in Wasiristan in allen Einzelheiten analysiert hätten. Trotz der Erkenntnisse aus dieser und ähnlichen Untersuchungen, beispielsweise von Amnesty International, verweigerten die US-Behörden jede Zusammenarbeit mit den Betroffenen und deren Rechtsvertretern.

Vor diesem Hintergrund warf Sarah Harrison die Frage in die Runde ein, ob die Zahl der durch Drohnenangriffe getöteten Zivilisten zu- oder abnehme.

Dazu meinte Chris Woods, aufgrund des technologischen Fortschritts erfolgten die Angriffe präziser, gehe der Anteil ziviler Opfer unter den Getöteten leicht zurück. Dessen ungeachtet sei hinsichtlich der offiziellen Zahlen Skepsis geboten, so Woods, der eine beschönigende, wenig glaubwürdige Aussage von CIA-Chef Brennan aus der Vergangenheit zitierte. Nach Einschätzung von Woods wäre es töricht, exakte Angaben von der CIA zu erwarten, denn diese wisse häufig nicht, wie viele Menschen beim jeweiligen Drohnenangriff ums Leben kämen. Beispielsweise würden Gebäude per Hellfire-Rakete in die Luft gejagt, um einen "Terroristen" zu treffen und das ungeachtet der Tatsache, daß sich unschuldige Personen ebenfalls dort aufhalten könnten. Auf die Weise seien, wie bereits erwähnt, im Januar die beiden westlichen Geiseln aus Italien und den USA einem Drohnenangriff zum Opfer gefallen. Woods erinnerte an die verharmlosenden Angaben der NATO während des Kriegs 2011 in Libyen, wo sich nach dem Sturz Muammar Gaddhafis herausstellte, daß die Zahl der zivilen Opfer westlicher Luftangriffe in die Zehntausende ging. Auch die Anti-IS-Koalition gebe beschönigte Opferzahlen infolge ihrer Luftangriffe auf Ziele des "Kalifats" im Irak und Syrien heraus, gab Woods zu bedenken.


Jennifer Gibson in der Nahaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jennifer Gibson
Foto: © 2016 by Schattenblick

Sarah Harrison griff den Gedankengang auf, um zu fragen, was das für Folgen habe, wenn das meiste, was die Öffentlichkeit von offizieller Seite über den Drohnenkrieg erfahre, eine Lüge sei.

Jeremy Scahill kam auf die bereits erwähnten Dokumente zu sprechen, welche The Intercept letztes Jahr von einem anonymen Whistleblower erhalten hatte. Daraus geht hervor, daß jede Drohnen-Operation jeweils eine Person zum Ziel hat. Der Präsident, derzeit Obama, erteilt nicht den Angriffsbefehl, sondern den Tötungsbefehl, der nur für 60 Tage gilt und, falls bis dahin nicht ausgeführt, erneuert werden muß. Dies führt dazu, daß die Drohnenpiloten und ihre Vorgesetzten gegen Ende der sechzigtägigen Frist schießwütiger werden. CIA und Militär wollen die Gelegenheit nicht verlieren und schießen häufig auf gut Glück. Wenn sie dabei die eigentliche Zielperson nicht töten, rechtfertigen sie ihr Handeln, indem sie behaupten, immerhin hätten sie den einen oder anderen von deren Gefährten liquidiert - obwohl sie hierzu gar nicht ermächtigt gewesen seien, so Scahill. Der Investigativjournalist meinte, die CIA- und Pentagon-eigenen Auswertungen des Geschehens auf dem Kriegsschauplatz, die sogenannten "battlefield assessments", seien in Afghanistan wegen der dortigen US-Militärpräsenz viel besser als im Jemen oder Pakistan, wo man praktisch niemanden auf dem Boden vor Ort habe. Bei den Drohnenangriffen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet fielen im Schnitt neun Zivilisten für jeden getöteten Taliban den Drohnenangriffen zum Opfer, so Scahill. In der offiziellen Statistik würden viele Zivilisten - in der Regel Männer - nachträglich zu "Terroristen" erklärt. Wie Obamas Worte des öffentlichen Bedauerns für den Tod der beiden Geiseln aus Italien und den USA zeigten, zähle für Pentagon, CIA und Weißes Haus nur das Leben westlicher Zivilisten, nicht aber das armer Pakistaner, Jemeniten, Somalier et cetera.

Jennifer Gibson griff die Kritik Scahills auf, um zu konstatieren, daß mit dem Einsatz von Drohnen zwecks außergerichtlicher Hinrichtung die Menschheit "eine perverse Welt betreten" habe. Die Genfer Konventionen stammen aus einer Zeit, in der die Staaten bewaffnete Konflikte vermeiden wollten; inzwischen strebten alle Großmächte wieder in solche Konflikte niedriger Intensität hinein, um den Handlungspielraum der Exekutive erweitern zu können. Der "globale Antiterrorkrieg" der USA mache Schule, so Gibson. Nach Ansicht der Menschenrechtsaktivistin sei es nicht ohne weiteres ersichtlich, welchen Disput Washington mit AQAP habe; dennoch diene die Bekämpfung von AQAP mittels Drohnenangriffen Washington als Vorwand, sich militärisch und mit anderen Mitteln in die inneren Angelegenheiten des Jemens einzumischen. Gibson beklagte die Tatsache, daß die USA weltweit als Kläger und Richter in einem agierten, was aus rechtlicher Sicht einen gefährlichen Präzedenzfall darstelle. Sie hob den Drohnenangriff hervor, mit dem die Königlichen Britischen Streitkräfte im August 2015 nahe der ostsyrischen Staat Rakka zwei Untertanen Ihrer Majestät, Reyaad Khan und Rahul Amin, die sich dem IS angeschlossen haben sollen, per Knopfdruck ins Jenseits beförderten, als eine Folge jenes Vorpreschens der Amerikaner hervor. Gibson machte auf den Widerspruch aufmerksam, demzufolge britische Regierungsvertreter zur Begründung der Tötung von Khan und Amin gegenüber den Vereinten Nationen behaupteten, es sei ein Beitrag zur kollektiven Sicherheit, und sie vor dem eigenen Parlament in London als notwendigen Akt der Landesverteidigung verstanden haben wollten. Wie die Behörden in den USA würden auch diejenigen in Großbritannien zu konkreten Fällen der "extralegalen Hinrichtung" gegenüber Parlament und Öffentlichkeit mauern, was das Zeug halte. Damit läuteten sie das Ende der Demokratie ein, so Gibson.

Die streitbare Anwältin erklärte die weitverbreitete Vorstellung, Drohnenangriffe seien unheimlich präzise und träfen nur "Schurken", für ein Märchen. In der Realität würden auch sehr viele Zivilisten getötet. Gibson ging auf das inzwischen bekannte Phänomen ein, wonach häufig irgendwelche "Terroristen" doch noch wiederauftauchten, Tage, Wochen oder Monate nachdem CIA oder Pentagon ihre erfolgreiche Liquidierung per Drohnenangriff gemeldet hätten. Der Überblick bei den zuständigen Stellen sei so mangelhaft, daß im Durchschnitt gejagte "Terroristen" dreimal "getötet" würden, bis es sie in Wirklichkeit erwischt habe. In einem Fall war ein führender Islamist sogar erst nach dem siebten Drohnenangriff tatsächlich tot. Wer wisse, wer alles bei den vorherigen Attacken getötet worden sei, so Gibson. Inzwischen würden Zielpersonen auf der Basis von Metadaten wie Telefonnummer, ein Besuch in der falschen Moschee oder zufällige Kontakte zu anderen "Terrorverdächtigen" ermittelt.

Den Hinweis auf die Metadaten griff Sarah Harrison auf, um nach der Bedeutung des US-Militärstützpunkts Ramstein zu fragen, worüber die Verbindung zwischen den Satelliten, welche die Zielgebiete im Nahen Osten, Zentralasien und Nordafrika im Blick behielten, und den Drohnenoperateuren und ihren Vorgesetzten in den USA, läuft.


Shahzad Akbar in der Nahaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Shahzad Akbar
Foto: 2016 © by Schattenblick

Jeremy Scahill bestätigte die Kritik von Jennifer Gibson und ließ Revue passieren, auf wie viele "selectors", "Selektionsgründe", die US-Geheimdienste bei der Auswahl von zu tötenden Zielpersonen zurückgriffen. Dazu gehörten Telefonnummer und -kontaktliste, Nummer der im Mobiltelefon befindlichen Chipkarte, wann und wo der Nutzer WLAN benutze, die Liste aller benutzten WLAN-Verbindungen sowie alle auf die Person bezogenen Daten der Geolokalisierung, sprich ihr Aufenthaltsort und zwar laufend. Laut Scahill würden alle Mobiltelefone weltweit von den Geheimdiensten elektronisch beschattet und ihre Daten abgefangen. Ein System namens Gilgamesh, dessen Existenz von Edward Snowden bekannt gemacht wurde und das sich an Bord amerikanischer Drohnen befinde, erlaube es CIA und Pentagon, die Mobiltelefone mutmaßlicher "Terroristen" zu lokalisieren. Um dem "Tracking and Whacking" zu entgehen, sind die Taliban in Afghanistan und Pakistan irgendwann einmal dazu übergegangen, nach Treffen ihre Chipkarten untereinander auszutauschen. Bei verdächtigen Personen wie Drogendealern setze die Polizei vielerorts in den USA inzwischen elektronische Technologie ein, die ursprünglich von der CIA bei der Jagd nach "Terroristen" verwendet wurde. Hierzu gehöre zum Beispiel Stingray, mittels dessen man eine WLAN-Verbindung oder einen Funkmast vortäuschen kann, damit die Zielperson sie benutzt und alle Daten ihrer Mobilgeräte, auch Gespräche, erfaßt und gespeichert werden können. Wie die Kontroverse um die vielen Fälle erschossener schwarzer Männer durch die Polizei in den USA zeige, sei dort der Antiterrorkrieg längst heimgekehrt; die Ordnungshüter würden mit ausgemustertem Militärgerät aufgerüstet; die Attraktion der Terrorbekämpfung wirke sich bei den Sicherheitsbereichen im Innern zersetzend auf den gesellschaftlichen Frieden aus, bemängelte Scahill. Für die deutsche Öffentlichkeit hatte er keine beruhigende Botschaft parat. Im Gegenteil. Im EU-Vergleich leiste sich Deutschland ein "sehr starkes Überwachungsprogramm im Innern", das nur von demjenigen Großbritanniens übertroffen werde, sagte er.

Als die Diskussion für das Publikum eröffnet wurde, machte der Schattenblick auf die neo-kolonialistische, rassistische Ausrichtung des Drohnenkrieges aufmerksam und verwies auf den Fall Raymond Davis. Im Januar 2011 war der CIA-Mann in Lahore festgenommen worden, nachdem er auf einer Straßenkreuzung zwei Männer auf einem Motorrad erschossen hatte. Es kam zu einem heftigen diplomatischen Streit um seine Person zwischen Islamabad und Washington. Nach fast zwei Monaten in Untersuchungshaft wurde Davis Mitte März freigelassen. Zuvor hatten die Familien der Getöteten eine größere Summe Blutgeld erhalten. Kaum hatte die Maschine mit Davis den pakistanischen Luftraum verlassen, als die CIA einen Drohnenangriff auf ein Treffen von Dorfältesten in Nordwasiristan durchführte und 44 Menschen tötete. Die Attacke sorgte in Pakistan für grenzenlose Empörung. Fünf Monate später wurde ein nicht namentlich genanntes Mitglied der Obama-Regierung in einem Bericht der Nachrichtenagentur Associated Press mit den Worten zitiert, der Drohnenangriff auf die Loya Jirga in Datta Khel sei "Vergeltung für Davis" gewesen, denn "die CIA war zornig".

Jeremy Scahill stimmte der These des rassistischen Charakters des Drohnenkrieges der USA zu. Die Tatsache, daß der Drohnenangriff in Datta Khel, der wie kein zweiter Vorfall das Ansehen der USA in der pakistanischen Öffentlichkeit beschädigt habe, weder damals noch heute in seiner Bedeutung von den westlichen Medien wahrgenommen worden sei, sei empörend. Shahzad Akbar merkte an, daß Zeit und Ort des Treffens der Dorfältesten, bei dem ein Streit um Abholzung im Wald geschlichtet werden sollte, in der ganzen Gegend um Dattel Khel bekannt waren. Es handelte sich um keine konspirative Zusammenkunft, sondern quasi um eine öffentliche Sitzung. Akbar erklärte zudem, daß es damals für ihn und viele Pakistaner bezeichnend gewesen sei, daß es, während Davis in Untersuchungshaft saß, praktisch zu keinen Drohnenangriffen in Wasiristan gekommen sei.

Die in Berlin lebende US-Friedensaktivistin Elsa Rassbach wollte von den Experten wissen, wie man den Drang der europäischen Staaten, darunter auch Deutschland, nach Anschaffung eigener Killerdrohnen aufhalten könnte.

Chris Woods meinte darauf, es sei zu einfach, die Verantwortung für den ganzen Drohnenkrieg auf die Amerikaner abzuwälzen. Seines Erachtens seien die europäischen NATO-Staaten über ihre Geheimdienste daran beteiligt. Inzwischen werde auch für die Europäer die außergerichtliche Tötung der eigenen Bürger zur Alltäglichkeit. Die EU-Staaten beauftragten die CIA mit der Erledigung ihrer Drecksarbeit. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die erste extralegale Tötung eines britischen Bürgers, des Al-Shaabah-Mitglieds Bilal Al Berjawi, 2012 in Somalia. Die Operation sei zwar vom US-Auslandsgeheimdienst durchgeführt worden, habe aber London und nicht Washington genutzt.

Jennifer Gibson stimmte Woods zu. Die Europäer machten ihre eigenen zu erledigenden Zielpersonen ausfindig, lieferten die Selector-Daten an die CIA und überließen es ihr, auf den Hinrichtungsknopf zu drücken. Zu behaupten, wie es Berlin in der Vergangenheit getan habe, man übermittele Geheimdiensterkenntnisse an die CIA, ohne zu wissen, wozu diese benutzt werden, sei nicht glaubhaft. Die Europäer mauerten nach außen hin, um sich selbst vor Kritik zu schützen, so Gibson. Ihr zufolge ist das eigentliche Problem nicht der Waffentyp Drohne, sondern die Tatsache, daß sich bislang kein Staat als fähig erwiesen hat, sie verantwortungsvoll zu benutzen.

Akbar teilte die Ansicht, daß nicht die Waffe, sondern die Praxis der extralegalen Hinrichtung das eigentliche Übel sei. Er fand es skandalös, daß bislang kein einziger Staat Washingtons Interpretation des staatlichen Rechts auf Selbstverteidigung in Frage gestellt habe. Akbar meinte, daß der Umstand nicht nur auf den mangelnden Willen, den Unmut der USA auf sich zu ziehen, zurückzuführen sei, sondern daß sich die Regierungen in anderen Staaten die Option offenhalten wollten, auf ähnliche Weise gegen Feinde im Innern und im Ausland vorgehen zu können.


Chris Woods in der Nahaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Chris Woods
Foto: © 2016 by Schattenblick

Jeremy Scahill warf ein, das Problem mit dem Völkerrecht sei, daß sich die USA nur daran hielten, solange es ihnen passe. Washington vertrete eisern den Standpunkt, daß US-Militärangehörige im Ausland Immunität genießen sollen. Dieses Denken sei in der US-Politik so stark verankert, daß der Kongreß 2002 den sogenannten Hague Invasion Act verabschiedet habe. Das Gesetz gab dem Präsidenten die Vollmacht, alle erdenkliche Maßnahmen zu ergreifen, um eine Auslieferung von US-Soldaten an das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag oder ihre Verhaftung dort zu verhindern. 1984 haben die USA ihre Verurteilung durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen der illegalen Verminung der Häfen des von den sozialistischen Sandinistas regierten Nicaragua schlicht ignoriert und sich geweigert, an Managua die vorgeschriebene Entschädigung zu entrichten. Auch die Regierung von Bush jun. habe sich über internationales Recht hinweggesetzt, unter anderem durch den Folter von "Terrorverdächtigen". Solange die anderen Staaten die USA nicht zur Verantwortung zögen, werde es keine Veränderung zum Besseren geben, so Scahill. Er sagte voraus, daß sich die anderen Großmächte wie Rußland und China nach dem Gebaren der USA richten würden. Das Völkerrecht sei nur so gut, wie die Staaten es beachteten und sich danach richteten, sagte er.

In einer anderen Frage aus dem Publikum wollte jemand unter Verweis auf Gavin Hoods starbesetzte Kinoproduktion "Eye in the Sky" von 2015 wissen, ob nicht die Filmindustrie ein manipuliertes Bild der Wirklichkeit des Drohnenkrieges erzeuge. Die Person fragte, wie der Antiterrorkrieg-Diskurs demystifiziert werden könnte, um die kriminellen Aspekte und die dahinterliegenden Strukturen bloßzustellen.

Chris Woods erinnerte in diesem Zusammenhang an die Formel seines Kollegen bei Reprieve, den bereits erwähnten Clive Stafford Smith, der seit einem Vierteljahrhundert für die Abschaffung der Todesstrafe in den USA kämpfe, demzufolge die entscheidenden Siege auf dem Feld der öffentlichen Meinung errungen würden. Gleichwohl sah Woods die große Gefahr, daß der Einsatz von Killerdrohnen zur Alltäglichkeit werde.

Um dem entgegenzuwirken, meinte Jeremy Scahill, müsse man den Opfern des Antiterrorkrieges sowie der anderen militärischen Konflikte auf der Welt ein Gesicht verleihen, so wie es die US-Medien in Fällen von Amokläufen in Schulen bei den Betroffenen täten. Leider würden Kriege nicht auf dieselbe Weise von den Medien aufgearbeitet, so Scahill. Das Leid der Betroffenen werde ausgeblendet, während man die Waffensysteme bewundere, sagte er.

Shahzad Akbar fügte hinzu, die Öffentlichkeit in den verschiedenen Staaten müsse den Behauptungen der eigenen Regierungen mehr Skepsis entgegenbringen, sie hinterfragen. Er erwähnte die Bedeutung der großen Spionage- und Überwachungsanlage Pine Gap im australischen Outback für die Containment-Strategie der USA gegenüber der Volksrepublik China und die Gleichgültigkeit der Menschen auf dem sechsten Kontinent gegenüber dem auch von dort ausgehendem Potential eines militärischen Konflikts zwischen Peking und Washington. Die Welt stehe am Rande des Dritten Weltkrieges; wie 1914 schlafwandelten die großen Nationen in den Untergang. Darum müßten die Menschen im Westen gegen die Tötung unschuldiger Zivilisten im Jemen, im Pakistan und anderswo auf die Straße gehen. Nur so könnten sie vielleicht das Abgleiten der Welt in noch mehr Krieg verhindern, meinte Akbar.

(wird fortgesetzt)


Teilnehmer der ersten Diskussionsrunde auf der Bühne sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

(v.l.n.r.) Jennifer Gibson, Jeremy Scahill, Sarah Harrison, Shahzad Akbar & Chris Wood
Foto: © 2016 by Schattenblick


26. Oktober 2016


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