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BERICHT/234: Die Zwischentürkei - nicht sicher, nicht frei ... (SB)


Pakt der Teilhaber zu Lasten der Kriegsflüchtlinge

Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel


Am türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan scheiden sich die Geister. Das gilt für die Türkei selbst, in der die eine Hälfte der Menschen im Land mit seiner Politik der starken Hand das paternalistische Versprechen auf Wohlergehen und Sicherheit assoziiert, während die andere Hälfte in ihm den Despoten fürchtet, der Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, freiheitliche Bestrebungen unterdrückt und jegliche Opposition mit Repression überzieht. Es gilt aber auch für die Europäische Union und die Bundesrepublik, wo die Kritik an Erdogan hohe Wogen schlägt, während ihm zugleich auf politischer Ebene eine Unterstützung gewährt wird, die an einen Freibrief zur Etablierung eines Regimes mit diktatorischen Tendenzen grenzt.

Sowohl in der Türkei als auch in der EU bedient sich die Durchsetzung der menschenfeindlichen Sicherung und Fortschreibung der Herrschaftsverhältnisse einer Teilhaberschaft in der Gesellschaft, die den eigenen Besitzstand mit Zähnen und Klauen gegen vermeintliche Konkurrenten verteidigt. Unter Ausblendung des Grundverhältnisses, daß der relative Vorsprung des Lebensstandards im eigenen sozialen Umfeld und im nationalen Kontext darauf gründet, schlechter gestellte Menschen hierzulande wie auch weltweit mittels Handel und Krieg um so nachhaltiger der Ausbeutung und Zurichtung zu unterwerfen, um ihren Rückstand zu vertiefen und zu verewigen, wird der maßgebliche gesellschaftliche Frontverlauf entlang der sozialen Frage für obsolet erklärt.

Flieht man die Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen und deren Protagonisten, wächst zwangsläufig der Drang, sich in nationalistischer, rassistischer und sozialchauvinistischer Manier an der Drangsalierung all jener abzuarbeiten, die man angesichts ihrer Unterlegenheit als die handgreiflichsten Opfer erachtet. Ein Bündnis der Schwachen, das staatlicher Stärke und gesellschaftlichem Druck die Stirn bietet, wie es im türkischen Juni-Aufstand vor drei Jahren und im Aufbruch der kurdisch dominierten HDP hoffnungsvoll kurze Blüten trieb, konnte nicht allein durch massive Repression unterworfen werden. Dies bedurfte auch implementierter Spaltungsprozesse, die in der Türkei wie auch der EU auf fruchtbaren Boden eigener Vorteilsnahme in Gestalt der Ab- und Ausgrenzung fielen.


"Verabredung zum Menschenhandel"

Auf Einladung des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein e.V., des Landesbeauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen beim schleswig-holsteinischen Landtag und der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein fanden am 11. April im Kieler Landeshaus eine Pressekonferenz sowie eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zum Thema "Sicherer Drittstaat Türkei?" statt. Der Untertitel "Zwischen syrischer Kriegsbeteiligung, Repression gegen kurdische Bevölkerung und türkische Opposition, Flüchtlingstransit und EU-Interessen" umriß das breite Spektrum gravierender Verwerfungen, denen sich die türkische Bevölkerung wie auch die gegenwärtig im Land lebenden Flüchtlinge durch den politischen Kurs der EU auf der einen und der Regierung Erdogan auf der anderen Seite ausgesetzt sehen.

Aus Sicht der Europäischen Union und der Bundesregierung spielt die Türkei eine wichtige Rolle in der Flüchtlingspolitik, da sie als Schlüssel zur Reduzierung der Zahlen der Schutzsuchenden betrachtet wird. In diesem Zusammenhang haben sich EU und türkische Regierung am 17. März auf ein umfassendes Abkommen geeinigt, das den beiderseitigen Interessen, nicht jedoch denen der Flüchtlinge dient. Der Vorsitzende des Flüchtlingsrats, Martin Link, sprach auf der Pressekonferenz von einer Verabredung zum Menschenhandel, die nicht den Menschen und ihren Fluchtgründen gerecht werde, sondern einem innenpolitischen Kalkül geschuldet sei. Die EU schließe schon seit Jahrzehnten derartige Verträge mit den klassischen Herkunftsländern ab, um Flüchtlinge, die es allen Hindernissen zum Trotz doch nach Europa geschafft haben, leichter abschieben zu können, weil ihre Rücknahme vorgebahnt ist.

Die Veranstaltung zur brisanten Situation in der Türkei verfolge das Ziel, die innengekehrte flüchtlingspolitische Diskussion in der Bundesrepublik wieder auf die Motive und Fluchtgründe wie auch die tatsächlichen Verhältnisse in den für sicher erklärten Drittländern zu lenken. Der aktuelle Rollback im türkisch-kurdischen Konflikt, sekundiert durch ein organisiertes Wegschauen der EU, füge den Hindernissen für syrische Flüchtlinge über kurz oder lang eine neue kurdische Fluchtbewegung in Richtung EU hinzu.

Zu diesen und anderen Problemkomplexen referierten und diskutierten unter Moderation von Astrid Willer (Flüchtlingsrat) nach einer Einführung von Torsten Döhring (Stellvertretender Landesflüchtlingsbeauftragter Schleswig-Holstein) der Jurist und ehemalige Parlamentsabgeordnete Levent Tüzel aus Istanbul, der Jurist und stellvertretende Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer Diyarbakir Cihan Ipek und der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel.


In der Pressekonferenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Levent Tüzel
Foto: © 2016 by Schattenblick


Entschiedener Widerstand gegen das autokratische Regime

Abdullah Levent Tüzel arbeitet seit 1985 als freier Rechtsanwalt und war 1996 Mitbegründer der linksgerichteten Partei der Arbeit (EMEP). Er trat 2007 aus der EMEP aus, um als unabhängiger Kandidat in einem Bündnis für die Parlamentswahlen anzutreten, konnte aber nicht genug Stimmen erringen. Daraufhin kehrte er wieder in die EMEP zurück. Bei der Wahl 2011 gewann Tüzel als Unabhängiger ein Mandat im dritten Wahlkreis von Istanbul. 2013 trat er der HDP bei. Als die EMEP später wegen Differenzen mit der kurdischen Fraktion aus der HDP ausschied, folgte Tüzel nicht dem Beispiel seiner ehemaligen Partei, sondern blieb Parlamentarier der HDP. Im Juni 2015 wurde er als Abgeordneter für Istanbul bestätigt. Da keine Regierung gebildet werden konnte, wurden für November 2015 Neuwahlen angesetzt. Für diese Nachwahl wurde Tüzel seitens der HDP nicht wieder aufgestellt.

Levent Tüzel läßt keinen Zweifel daran, daß die Türkei keinesfalls ein sicherer Drittstaat ist - weder für Flüchtlinge noch die einheimische Bevölkerung, da Chaos und Ungewißheit herrschten. Nach drei Jahren Waffenstillstand habe der türkische Staat im Juni 2015 den Krieg gegen kurdische Städte eröffnet. Soldaten und Polizisten treiben die Menschen in die Flucht, wer sein Haus nicht verlassen wollte, wurde im Keller ermordet. Millionen von Menschen sind von dieser neuen Dimension des Angriffs auf die kurdischen Gebiete betroffen, im hereinbrechenden Bürgerkrieg werden Menschenrechte mit Füßen getreten, die Opposition unterdrückt, die Demokratie demontiert. Die seit November 2002 regierende AKP hat Zug um Zug eine aggressive Außen- und autoritäre Innenpolitik vorangetrieben. Die Antwort auf den Wahlerfolg der HDP war die Eröffnung des Krieges gegen die Kurden, auf die verhinderte Regierungsbildung folgte die Neuwahl am 1. November 2015 mit dem Wiedererstarken der AKP. Diese geht nun daran, mit einer Politik von Religion und Nationalismus, Krieg und Ausbeutung, ein Regime zu schaffen, das ihre Position und die Erdogans endgültig sichern soll, so der Referent.

Die expansionistische Außenpolitik in der Region habe maßgeblich dazu beigetragen, daß Flüchtlinge als ein Produkt des Krieges Syrien verlassen und von der Türkei als Mittel politischer Erpressung benutzt werden. In Reaktion auf den Krieg haben 1128 Akademiker in einem gemeinsamen Appell gefordert, Kinder zu schonen und Frieden zu schaffen. Gegen sie wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, viele von ihnen wurden suspendiert, vier inhaftiert. Den beiden Journalisten, die von Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an den IS berichteten, wird der Prozeß gemacht. Erdogan tritt in diesem Verfahren persönlich als Nebenkläger auf, um harte Strafen sicherzustellen. Wer die Politik des Staatspräsidenten kritisiert, wird mit einer Klage überzogen. Menschen, die im Rahmen der Verfassung und des parlamentarischen Systems als Lösung der kurdischen Frage Selbstverwaltung und Autonomie vorschlagen, werden als Verfechter des Separatismus und Anhänger einer terroristischen Organisation angeklagt. Die Immunität von HDP-Abgeordneten soll aufgehoben werden, die AKP stellt kurdische Politiker als Staatsfeinde dar, so Tüzel.


In der Presskonferenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Murat Kaya übersetzt für Levent Tüzel
Foto: © 2016 by Schattenblick

Er erinnert daran, daß im Juni 2013 Millionen Menschen gegen die willkürliche und unterdrückende AKP-Administration auf die Straße gegangen sind. Nach diesen geschichtsträchtigen Ereignissen des Gezi-Aufstands habe die wankende Erdogan-Regierung ihre Versprechen auf Wohlstand und Demokratisierung endgültig entsorgt und statt dessen versucht, die Opposition mit massiven Angriffen in die Knie zu zwingen. Die Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Amtsmißbrauch wurden gestoppt, die Gülen-Gemeinschaft zur Terrororganisation erklärt. Zugleich wurden die Militärs, denen Erdogan zuvor Putschgelüste vorgeworfen hatte, in einem rasch geschmiedeten Pakt gegen Kurden und Opposition in Stellung gebracht. "Entweder für uns oder für den Terror", lautet die Parole, mit der die gesamte Gesellschaft in Haft genommen werden soll, um sie zu beugen.

Erdogans Reden triefen von Haß und Wut, so der Referent. Er erklärt sich zum Oberbefehlshaber und praktiziert längst ein Präsidialsystem an der Spitze von Partei und Staat. Er will die Kurden in Syrien vernichten, die dort eine freie Zukunft durchsetzen, und strebt gesetzliche Immunität für verübte Kriegsverbrechen in den kurdischen Wohngebieten an. Der Präsident droht der demokratischen Opposition und der säkularen Gesellschaft mit einem religiösen Staat und erteilt der Gleichberechtigung der Frau eine Absage, was am Welttag der werktätigen Frauen, dem 8. März, zu schweren Übergriffen gegen die Demonstrantinnen führte. Zugleich werden Menschen, die ihr Land, das Wasser und die Natur vor dem Raubbau des Kapitalismus schützen wollen, unterdrückt. Eine wachsende Zahl von Arbeitslosen, eine verarmende Bevölkerung und eine durch den Krieg verursachte Massenflucht sind die verheerende Bilanz, spart Tüzel nicht mit umfassender Kritik an der Regierung Erdogan.

Zu einem Leben auf der Straße gezwungene Flüchtlinge, bankrotte Kleinunternehmen, geschlossene Läden, Massenwanderungen aus den Dörfern und ländlichen Regionen in die Städte prägten das aktuelle Bild des Landes. Der Würgegriff werde immer enger, angekündigte demokratische Reformen blieben in der Schublade, der Staatspräsident erkenne die Urteile des Verfassungsgerichts nicht an und fordere seine Mitarbeiter im Verwaltungsapparat auf, geltende Gesetze zu ignorieren, sofern sie es für notwendig erachteten. Der Terminus "notwendig" schließe das Verhängen von Ausgangssperren, das Beschießen von Städten mit Artillerie, den Einsatz von Tränengas, Demonstrationsverbote und selbst das Töten von Kindern, Frauen und alten Menschen ein. Die Grenze zum Polizeistaat sei erreicht.

Was den Pakt zwischen der EU und der türkischen Regierung betreffe, halte er das Rückführungsabkommen für verwerflich und inakzeptabel. Die europäischen Länder sähen in den Flüchtlingen eine Last, die sie von ihren Territorien fernhalten wollten. Die Regierung Erdogan wolle mit ihnen sechs Milliarden Euro sowie Visafreiheit für seine Bürger erpressen. Die Europäer trügen eine große Verantwortung für die Situation in der Türkei wie auch die schlimmen Bedingungen, die die Flüchtlinge erleben müssen. Die imperialistischen Staaten hätten mit ihrem Vorhaben, das Regime von Assad zu stürzen, die Flüchtlingsbewegung aus Syrien hervorgerufen. Zugleich werde in den Fortschrittsberichten der EU stets formale Kritik an der Türkei geübt, während man die Augen vor den Verhältnissen im Land verschließe.

Die Hoffnung auf eine Stabilisierung der Verhältnisse in der Türkei könne er nicht teilen, so Tüzel. Er sehe im Gegenteil noch schlimmere und chaotischere Zustände heraufziehen, sofern man dieser Regierung nicht Einhalt gebiete. Es gelte, die Rechte aller Menschen zu verteidigen, ob sie nun türkische Bürger oder Flüchtlinge seien. Angesichts der verhängnisvollen Entwicklung rufe er alle demokratischen Kräfte eindringlich auf, sich gemeinsam gegen die Willkür der AKP-Regierung zu wehren. Der Krieg könne nur durch entschiedenes Bemühen im Verbund mit einer internationalen Unterstützung und Solidarität beendet werden. Und ohne Frieden werde es keine Lösung geben.

(wird fortgesetzt)


Gläserner Anbau für Landesparlament - Foto: © 2016 by Schattenblick

Sitzungssaal im Kieler Landeshaus
Foto: © 2016 by Schattenblick


21. April 2016


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