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BERICHT/222: Globale Kriegsneuralgie - Chaos, Zerfall, Treibstoff des Herrschens ... (SB)


Kalkül der Waffengewalt - Logik der Zerstörung

Veranstaltung am 8. Dezember 2015 in Hamburg-Eimsbüttel


In Zeiten schwindender Ressourcen nicht nur an Bodenschätzen wie fossilen Energieträgern, Erzen oder seltenen Erden, sondern darüber hinaus längst auch an Trinkwasser, Nahrungsmitteln und selbst Atemluft, kennt die Logik der Herrschaft um so mehr nur die Doktrin der Zerstörung: Insbesondere eine Kette unablässiger Kriege, die jeweils die Ausgangsbedingungen für den nächstfolgenden verbessern und letztlich die Einkreisung und Unterwerfung der aus westlicher Sicht als final erachteten Gegner Rußland und China vollenden sollen. So deutlich sich diese Strategie eines unabsehbar langen Kriegszugs abzeichnet und so sehr sie dem Streben nach einer unumkehrbaren Sicherung des eigenen Überlebens zu Lasten der Mehrheit der Menschheit geschuldet ist, gleicht sie doch zwangsläufig einem auf Grundlage überlegener Waffengewalt forcierten Vabanquespiel. Die Warnung vor einem Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten kann dessen Urheber jedoch nicht zur Umkehr bewegen, weil er als Umsetzung ihres Entwurfs vom "kreativen Chaos" Ziel ihre Agenda in dieser Region ist.

Wenngleich die fortgesetzte Zerschlagung vordem relativ stabiler und säkularer Nationalstaaten, das Hochkochen ethnischer und religiöser Unterschiede, die Aufrüstung von Hilfstruppen selbst der fragwürdigsten Provenienz und das Anstacheln latenter Konflikte dem Arsenal gezielt eingesetzter Verfügungsgewalt entspringen, kann von beherrschbaren Prozessen im eigentlichen Sinn nicht die Rede sein. Oberstes Gebot ist die Drangsalierung, Schädigung und Vernichtung vieler in der Hoffnung, daraus den größtmöglichen eigenen Vorteil zu ziehen. Millionen von toten, verletzten, flüchtenden, hungernden und ins Elend gestürzten Menschen werden als Kollateralschäden auf der Habenseite verbucht, scheinen die Opfer doch zu belegen, daß der Waffengang alles zermalmt, was den Vormarsch hemmen und die Widersacher in der letzten Schlacht schützen könnte.

Das mag apokalyptisch klingen, entspricht aber einer Ratio, die weit über christlich-fundamentalistische Kreise hinaus das Denken der westlichen Führungsmächte bestimmt. Wer eine Zivilbevölkerung massakriert und ihre Lebensgrundlage vernichtet, um einen angeblichen Diktator zu stürzen, Demokratie zu bringen oder westliche Kulturwerte zu schenken, bedient sich fadenscheiniger Vorwände, denen gegenüber die ideologischen Begründungszusammenhänge der Kreuzzüge oder anderer Raub- und Zerstörungskampagnen früherer Jahrhunderte fast schon konsistent anmuten.

Es liegt auf der Hand, daß die einmal angeworfene Kriegsmaschinerie insofern ein Eigenleben entwickelt, als sie eine Kettenreaktion auslöst, kaum noch anzuhalten ist und Folgen zeitigt, die sogar auf die Sphäre ihrer Initiatoren zurückschlägt. Als man den Irak und Iran aufeinander hetzte, resultierte daraus ein achtjähriger Krieg, bis beide Parteien ausgeblutet am Boden lagen. Die Folgen liefen bekanntlich selbst aus westlicher Sicht aus dem Ruder, worauf weitere Kriege folgten, die das Feuer mit einem noch stärkeren Feuer einzudämmen vorgaben. Wenngleich diese Eskalation durchaus im Interesse der NATO-Mächte ist und man insofern von einem absichtsvoll herbeigeführten Prozeß sprechen muß, verläuft dieser doch keineswegs kontrolliert. Bis hin zum Dritten Weltkrieg zwischen Atommächten ist nichts auszuschließen, scheint das Wettrennen um mutmaßliche Enklaven in einer durch Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Kriege und Hungerzonen zunehmend unwirtlichen Welt doch eine Beteiligung in vorderster Front geradezu zu erzwingen, um die eigenen Pfründe zu Lasten anderer in ihrem Bestand zu sichern und fortzuschreiben.


Im Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wolfgang Gehrcke
Foto: © 2015 by Schattenblick


Die Ursachen von Flucht und Vertreibung

Mit Wolfgang Gehrcke, Außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, hatte die Linksfraktion in der Bezirksversammlung Hamburg-Eimsbüttel einen namhaften Experten eingeladen, im Café Veronika in der Lenzsiedlung zu den Ursachen von Flucht und Vertreibung zu referieren und mit dem Publikum zu diskutieren. [1] Wie er eingangs ausführte, leben wir in Zeiten mehrerer Kriege, während der Alltag hierzulande seinen normalen Gang zu nehmen scheint. Dieser Widerspruch habe dazu beigetragen, daß sich zwar in Meinungsumfragen eine große Mehrheit gegen den Krieg ausspricht, aber nur wenige Leute auf die Straße gehen und tatsächlich protestieren. So werde der Ukrainekrieg in Deutschland kaum wahrgenommen, obgleich bereits rund 2,5 Millionen Menschen nach Rußland geflüchtet seien. Er selbst habe unter anderem Gorlovka, eine mittelgroße Stadt in der Ostukraine, besucht, die Kampfgebiet war und weithin zusammengeschossen ist. Wenngleich das Minsker Abkommen den Abzug schwerer Geschütze vorsieht, schießen die ukrainische Armee und Freischärler noch immer jede Nacht in die Stadt hinein, obwohl sich dort keine militärischen Ziele mehr befinden.

Die Entscheidung des Bundestages, sich in Syrien militärisch zu engagieren, heiße im Klartext, daß Deutschland dort Kriegspartei geworden ist. Man könne nicht länger Vermittlungspartei sein und habe den diplomatischen Weg, der den Konflikt möglicherweise eindämmen könnte, abgeschnitten. Die Bundesmarine beteiligt sich mit einer Fregatte, die den französischen Flugzeugträger Charles de Gaulle eskortiert, eine schwimmende Festung direkt in der Region. Die deutsche Luftwaffe setzt Tornados zur Aufklärung ein, die hochauflösende Aufnahmen machen. Die Bundesregierung drücke sich vor der Beantwortung der Frage, wer Zugang zu diesem Material hat. Der außenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion habe jedoch in der Debatte erklärt, die Türkei gehe seines Erachtens verantwortungsvoll mit den Bildern um. Daher stehe so gut wie fest, daß die von den deutschen Tornados gelieferte Luftaufklärung auch dazu benutzt wird, Kurden im Irak und in Syrien zu bombardieren.

Der syrische Staat sei stabil gewesen, habe einen hohen Bildungsstand aufgewiesen und Religionsfreiheit geboten, was ihm die jüdischen, griechisch-orthodoxen und diverse andere Gemeinden im Land bestätigt hätten, so Gehrcke. Aus einer Revolte des arabischen Frühlings sei ein erbitterter Krieg geworden, der von außen gesteuert und finanziert werde. Als es im Frühstadium der Kämpfe mit bis dahin 2000 Toten im UN-Sicherheitsrat eine Übereinkunft gegeben habe, die militärischen Auseinandersetzungen einzustellen, sei dies am Veto der USA und Britanniens gescheitert, die mit einer baldigen Absetzung Präsident Assads rechneten. Heute seien es bereits 250.000 Tote, 11 Millionen Menschen auf der Flucht und ein fast völlig zerstörtes Land, das einst als die Wiege der Kultur gegolten habe. Die der Bundesregierung nahestehende Stiftung Wissenschaft und Politik bezeichne es als eine der möglichen Varianten, daß dieser Krieg ausbluten müsse. Das sei nicht nur zynisch, sondern werde auch in Syrien nicht funktionieren, da dort längst erfahrene ausländische Söldner kämpften, die gut bezahlt würden und nicht resignierten, so die Einschätzung des Referenten.


Charakter und mögliche Eindämmung des IS

In den hiesigen Leitmedien wimmelt es von selbsternannten "Terrorexperten", die wohlfeile Auskünfte geben, was es mit dem IS auf sich habe. Wie Wolfgang Gehrcke warnte, werde bei diesem Thema viel geredet, aber offenbar wenig verstanden. Jedenfalls seien die Antworten der Bundesregierung auf seine Anfragen nicht sonderlich tauglich, was die Erkenntnisse des deutschen Geheimdienstes über den Zustrom von Kämpfern aus Europa betrifft. Soweit bekannt, komme deren Mehrheit aus der Balkanregion, doch eine beträchtliche Zahl auch aus westeuropäischen Ländern und Deutschland. In der Diskussion kam zur Sprache, daß der Islamische Staat mit seinem Sozialsystem wie der Versorgung von Kämpfern und Witwen attraktiv für viele junge Muslime sei, die in westlichen Ländern ausgeschlossen würden. Den Kern der Truppe bilde die ehemalige irakische Armee, was die hohe Schlagkraft erkläre.

Wolle man diesen Krieg zumindest stoppen, womit er noch nicht beendet sei, müsse man den IS, die al-Nusra und andere Gruppierungen vom Zustrom an Geld, Waffen und Kämpfern abschneiden, so Gehrcke. Dazu erkläre die Bundesregierung, das sei nicht oder nur sehr schwer möglich. Ziehe man jedoch zum Vergleich die funktionierenden Sanktionen gegen Rußland heran, müßte das zumindest im Finanzbereich durchaus möglich sein. Auch gelte es zu verhindern, daß über Ölverkäufe, die vor allem in der Türkei, aber auch in Syrien selbst abgewickelt würden, Einnahmen generiert werden. Hinzu kämen Geiselnahme und Sklavenhandel sowie der Verkauf von Antiquitäten und Kulturgütern. Mit Bombenangriffen werde man die dschihadistischen Truppen nicht besiegen, sondern treibe ihnen im Gegenteil nur neue Kämpfer zu.

Wesentlich sei zudem, die Denkweise dieser Gruppierungen zu verstehen. Warum propagiert der IS diese archaischen, blutigen Bilder? Er benutze diese Gewalt sehr erfolgreich als Propaganda und liefere eine Ideologie der Befreiung in einer Armee, die in höheren Diensten stehe und vermeintlich grundlegende Regeln befolge. Wir seien in unserer Denkweise europäisch und fänden den Abwurf von Uranbomben weit weniger schrecklich als das Kopfabschlagen. Diese doppelte Moral werde einem im Nahen Osten überall vorgehalten, weiß Gehrcke aus eigener Erfahrung.


Wolfgang Gehrcke im Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Souveräne Staatlichkeit gegen "kreatives Chaos"
Foto: © 2015 by Schattenblick


Die Wurzeln des Konflikts

Als Condoleezza Rice von einem "kreativen Chaos" gesprochen und im Irak einen neuen Nahen Osten gesehen habe, sei dies Ausdruck einer umfassenden Strategie gewesen, Staatlichkeit in dieser Weltregion zu zerschlagen und Herrschaftsformationen in Kombination mit jenen Kräften im Land einzugehen, die ihrerseits nach einem Machtwechsel streben. Zerstöre man jedoch bestehende Staaten, griffen zwangsläufig andere Machtverhältnisse Raum, die sich schwerlich in eine westlich orientierte Gesellschaftlichkeit einbinden ließen. Wenngleich er als Linker der Auffassung sei, daß man den Staat nicht stärken, sondern abbauen sollte, sei das nur auf Grundlage einer existierenden Staatlichkeit möglich, hob Gehrcke hervor. Andernfalls seien Recht, Gerechtigkeit, soziale Verteilung und vieles Unverzichtbare mehr obsolet. Da sich in den meisten dieser Konflikte der erste Schlag gegen Staatlichkeit richte, gelte es diese zu verteidigen, ohne deswegen das jeweilige Regime vom Grundsatz her zu verteidigen.

Syrien nehme in diesem riesigen politischen Raum, dessen Strukturen die USA und ihre Verbündeten zerbrechen und zu ihren Gunsten neu gestalten wollten, eine zentrale geographische Lage ein: Wer Damaskus beherrsche, habe Einfluß auf Kairo. Ägypten mit seinen 80 Millionen Einwohnern habe Zugriff auf das Nilwasser, wobei die Wasserverteilung in dieser Region eine zentralere Frage als jene des Erdöls sei. Zusammen mit Syrien sei der Jemen in den Krieg getrieben worden, auch dort zerbrechen die bislang bestehenden Strukturen. Ob Jordanien diese Entwicklung überstehen könne, sei eine offene Frage. Gleiches gelte für Algerien und Tunesien, Libyen sei zerschlagen, und der gesamte Raum bis hinein in Richtung Zentralasien werde in einen Prozeß der Entstaatlichung gestürzt. Die Folge sei unvermeidlich eskalierende Gewalt in Stammes- und anderen Machtkämpfen, mit denen die westlichen Führungsmächte leichter umzugehen hofften als mit Staaten, die Eigeninteressen verteidigen.

Wie Gehrcke berichtete, habe er im Troß Außenminister Steinmeiers Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon besucht. In Jordanien lebten 95.000 Menschen in einem Zeltlager direkt an der syrischen Grenze. Wenngleich dieses Lager als vergleichsweise privilegiert gelte, herrsche dort eine absolute Perspektivlosigkeit, und eine brutale Mafiaorganisation presse die Insassen aus. Das Welternährungsprogramm habe die Gelder für die Lebensmittelrationen um die Hälfte gekürzt, weil ihm die finanziellen Mittel ausgehen, da die Geberländer ihren Verpflichtungen nicht im notwendigen Umfang nachkämen. Jordanien sei ein instabiler Staat, dessen traditionelle Struktur längst zusammengebrochen sei. Die Herrschaftsclique repräsentiere Beduinenstämme, doch habe sich die Bevölkerungsstruktur durch den Zustrom der Flüchtlinge weit verschoben. Längst seien die Palästinenser in der Mehrheit, was schon in der Vergangenheit zu schweren Auseinandersetzungen geführt habe. In einer Stammesgesellschaft prägten teilweise riesengroße Familien den Zusammenhalt. Wer glaube, solche traditionellen Gesellschaften mit einem Schlag auflösen zu können, habe weder aus Afghanistan noch Libyen etwas gelernt.

Der russische Einsatz in Syrien sei völkerrechtlich legitimiert, da der syrische Staat Rußland um Hilfe gebeten habe. Nach Auffassung der Bundesregierung müssen die völkerrechtlichen Vorgaben neu gefaßt werden. Es gelte zu untersuchen, ob ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, den Aggressor zurückzuschlagen. Da die Regierung in Damaskus nicht imstande sei, den überwiegenden Teil des Landes zu kontrollieren, müsse man ersatzweise für den syrischen Staat eingreifen, weswegen dies völkerrechtlich legitimiert sei. Gehrcke wies dies als eine abenteuerliche Argumentation aus, mit der man jeden Krieg rechtfertigen könne.


Zusammenspiel und Konkurrenz der Kriegstreiber

Zu den wichtigsten Regionalmächten in diesem Konflikt gehöre die Türkei, die um die Vorherrschaft kämpfe und dem IS die Grenze für Kämpfer geöffnet habe, ihnen einen Rückzugsraum für medizinische Behandlung gewähre und Durchmarsch wie auch Schulungen gestatte. Hinzu komme Saudi-Arabien, das maßgeblich zur Finanzierung beitrage. Auch Katar schieße sehr viel Geld zu, finanziere aber andere dschihadistische Gruppen und verfüge über den Sender Al Jazeera, der die gesamte Region versorge und ein sehr wirkungsvolles Propagandamittel sei. Diese drei Staaten kooperierten im Kampf gegen Assad und konkurrierten zugleich darum, wer aus diesen Kämpfen als der eigentliche Sieger in der Region hervorgeht. Hierzulande mache man Politik nach der Maxime, der Verbündete meines Verbündeten ist mein Freund. So werde die massive Repression in der Türkei und in Saudi-Arabien in Deutschland kaum ernsthaft thematisiert.

Die beteiligten Großmächte USA, Frankreich und Britannien nähmen das Recht für sich in Anspruch, selbst ohne Beschluß der UNO in Syrien zu bombardieren. Auch die Bundeskanzlerin erhebe den Anspruch, daß die Koalition der Willigen berechtigt sei, den IS mit militärischen Mitteln anzugreifen. Dem stehe eindeutig deutsches Verfassungsrecht wie auch das Völkerrecht entgegen. Die Linksfraktion bekomme jedoch keine Klagemöglichkeit, um das auszufechten. Für eine Organklage müßte bewiesen werden, daß der Bundestag in seinen Rechten beschränkt worden ist. Das sei rein formal nicht der Fall. Für eine Normenkontrollklage bräuchte man 25 Prozent aller Abgeordneten, was derzeit nicht zu schaffen sei. Bliebe als letzte Möglichkeit, daß ein direkt betroffener Bundeswehrsoldat, der in diesen Einsatz geschickt wird, eine Verfassungsbeschwerde einlegt. Nach Artikel 26 des Grundgesetzes ist es verboten, sich an einem Angriffskrieg zu beteiligen. Nach § 80 Strafgesetzbuch wird dies mit einer Mindeststrafe von zehn Jahren Gefängnis geahndet.

Ein Teil der deutschen Politik sei stolz darauf, sich dieser Kriegsführung anzuschließen. Bundespräsident Gauck habe gerade in Israel auf eine deutsche Rolle in der Weltpolitik abgehoben, was die Fähigkeit einschließe, militärisch global zu agieren. Auch um der Sicherheit des Staates Israel willen müsse sich Deutschland an einem Krieg in Syrien beteiligen. Dabei hätten Deutsche und Europäer allen Anlaß, demütig zu sein, so Gehrcke. Im Zeichen des Kreuzes seien in Lateinamerika Hunderttausende totgeschlagen worden. Im Nahen Osten wurden die Grenzen willkürlich durch die europäischen Kolonialmächte gezogen. Blende man die eigene Verantwortung aus, urteile man von oben herab über andere Völker. Zumal es sich nicht wie behauptet um einen Kampf der Kulturen handle, müsse man sich mit solchen Fragen auseinandersetzen.


Wolfgang Gehrcke - Foto: © 2015 by Schattenblick

Praktiker internationaler Politik mit langjähriger Erfahrung
Foto: © 2015 by Schattenblick


Ohne Verhandlungen keine Lösung

Träfe es zu, daß man bestimmte Formen des Islamismus nicht mehr zivil, sondern nur noch militärisch in die Schranken weisen könne, müßte der Afghanistankrieg erfolgreich gewesen sein. Wie die Erfahrung lehre, sei das Gegenteil der Fall. Von den drei ursprünglich genannten Zielen, den Terrorismus zu bekämpfen, zur weltweiten Abrüstung beizutragen und dem Land Demokratie zu bringen, sei kein einziges erreicht worden. In Gesprächen mit der syrischen Opposition habe er erfahren, daß es einzelne Fraktionen wie Teile der Freien Syrischen Armee gebe, mit denen man verhandeln könne. Rußland sei nicht bereit, Assad ablösen zu lassen, doch hätten seine russischen Gesprächspartner stets erklärt, daß sie nicht mit Assad verheiratet seien, so Gehrcke.

Ziel der Verhandlungen sei die Bildung einer Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition. Nach einer bestimmten Periode solle laut der Wiener Vereinbarung eine neue Regierung gewählt werden, was in einem Kriegsgebiet allerdings ein riskantes Unterfangen sei. Auch der Ansatz, daß die in hoher Zahl geflüchteten Syrer mitwählen müßten, sei schwer zu realisieren. Die USA forderten, daß Assad gar nicht erst kandidieren dürfe, weil sie offenbar davon ausgingen, daß er andernfalls eine Mehrheit bekommen könnte. Seinen Informationen zufolge werde Assad nicht kandidieren, sondern ins Exil gehen, so Gehrcke. Über einen jahrzehntelangen Prozeß scheine ein Neubeginn möglich zu sein, sofern es gelinge, lokale Waffenstillstände herbeizuführen, aus denen ein Netzwerk aus kriegsfreien Zonen entsteht. Als Vorbedingung sei bei den Verhandlungen festgeschrieben worden, daß Syrien ein säkularer Zentralstaat bleibt, der sich nicht in Einzelgebiete auflöst und in dem die unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Kräfte zugelassen werden. Derzeit berate die zersplitterte syrische Opposition darüber, ob sie bereit sei, sich mit der Regierung an einen Tisch zu setzen.


"Macht uns die Russen nicht zu Feinden!"

Wenngleich angesichts der Flüchtlingsproblematik und des deutschen Kriegseintritts der Syrienkonflikt im Mittelpunkt der Ausführungen stand, ging Gehrcke auch auf die Ukraine und das Verhältnis zu Rußland ein, das eine fundamentale gesamteuropäische Frage sei. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland seien seit 1989/90 noch nie so schlecht gewesen wie heute. Wenngleich er die Entscheidung Moskaus, in Syrien zu bombardieren, für falsch halte und einen ähnlichen Fehler wie schon im Afghanistankrieg befürchte, sei doch die Syrienfrage ohne russische Beteiligung nicht zu lösen. Dabei sei nicht der Stützpunkt in Syrien für Rußland das entscheidende Moment, sondern vielmehr die Sorge, daß nach einem Sieg der Islamisten in Syrien der Krieg im Kaukasus wieder losbräche. Die russische Regierung setze auf Verhandlungen und wolle ein Abkommen erreichen, das von den großen Mächten garantiert wird.

Man müsse mit Moskau über Syrien ebenso reden wie über die Ukraine, mahnte Gehrcke. Hinsichtlich der letzteren sei die Strategie der USA aufgegangen, sie von Rußland abzusprengen. Das sei zumindest für die Westukraine Fakt, wo er kaum jemanden getroffen habe, mit dem man verhandeln könne. Er sei vielmehr zum unerwünschten Ausländer erklärt worden, so daß er den Westteil nicht mehr betreten könne, ohne verhaftet zu werden. Die Westukraine rüste gewaltig auf und stelle komplett von russischen auf US-amerikanische Waffen um. Dabei sei das Land bankrott, was zu schweren sozialen Auseinandersetzungen führen werde, die wahrscheinlich von rechten Milizen dominiert würden.

In der Ostukraine habe er viele Gespräche geführt und sei auch mit dem Chef der Aufständischen zusammengetroffen. Auf die Frage, was ihr Ziel sei, habe dieser geantwortet: Ein eigener Staat mit acht bis zehn Millionen Einwohnern. Gehrcke zufolge werde es aber kaum gelingen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, weil die Zerstörungen wie etwa die vollgelaufenen Kohlegruben einfach zu groß seien. Kiew wolle und Rußland könne sie nicht auf Dauer bezahlen. Derzeit werde alles, was in der Ostukraine konsumiert wird, von Rußland aus geliefert. Die Aufständischen arbeiteten mit sogenannten Bürgerbewegungen, von dem herkömmlichen Parteiensystem hielten sie gar nichts. Sollte das alles nicht funktionieren, würden sie lieber nach Rußland gehen, als in der Ukraine zu bleiben. Diese Antwort habe er dort überall erhalten. Er glaube jedoch nicht, daß Moskau die Ostukraine als Teil Rußlands akzeptieren werde, zumal es die Auseinandersetzung mit dem Westen nicht durchstehen würde. Bliebe als dritte Möglichkeit, daß der Donbas Teil der Ukraine bleibt, aber mit einer Autonomie, die den deutschen Bundesländern vergleichbar ist. Das wolle Kiew auf keinen Fall zulassen, zumal dann andere Regionen dasselbe beanspruchen könnten.

Nun erkläre die Bundesregierung, sie werde die Sanktionen gegen Rußland nicht aufheben, bevor das Abkommen von Minsk vollständig umgesetzt ist. Diese Sanktionen führten jedoch zu einer Spaltung Europas, die Rußland nicht ohne Gegenmaßnahmen hinnehmen werde. In Kreisen der deutschen Industrie wachse der Druck, die Sanktionen aufzuheben, der bis weit in konservative Kreise der CDU hineinreiche. Die Linkspartei versuche, mit einer eigenen Rußlandpolitik zu agieren, wobei man seines Erachtens derzeit Wahlen mit Feindschaft gegenüber Rußland nicht gewinnen könne. Er würde es auf die Losung bringen: Macht uns die Russen nicht zu Feinden! Im 21. Jahrhundert stehen deutsche Truppen mit der NATO an der russischen Westgrenze. Rußland werde nicht akzeptieren, daß weitere Staaten in die NATO aufgenommen werden. Selbst die Bundesregierung scheue das und berufe sich darauf, daß Krisenländer nicht aufgenommen werden dürfen, weil man sich nicht über die Bündnisverpflichtung in Konflikte hineinziehen lassen will.

Er befürchte, daß Georgien eine reale Chance habe, NATO-Mitglied zu werden, oder mit einer Art Beistandsverabredung angekoppelt werde. Der nächste Konflikt drohe in Moldawien, dessen Regierung nationalistisch-ukrainisch geprägt sei, aber die Mehrheit verloren habe und keine Neuwahlen zulassen werde. Es habe sich eine neue linke Partei gebildet, die als pro-russisch gilt. Sie habe in Umfragen so gut abgeschnitten, daß sie gar nicht erst zu Wahlen zugelassen werde. Der Krisenbogen an der russischen Grenze fördere wiederum in Rußland eine Politik, sich militärisch abzusichern. Dadurch werde vieles, was an Verabredungen und vernünftigen Regelungen etabliert worden sei, wieder zunichte gemacht.

In der SPD finde man eine bestimmte politische Richtung, die eine Verständigung mit Rußland bevorzugt, weil europäische Entspannung und Sicherheit nur mit Moskau herbeizuführen sei. So etwas gebe es vereinzelt auch im Dunstkreis der Unionsparteien, wenn man an Peter Gauweiler, Willy Wimmer oder den Journalisten Jürgen Todenhöfer denke, die sich gegen deutsche Militäreinsätze aussprechen. Indessen seien die Leute rar, die es wagten, sich gegen die Kanzlerin zu positionieren. Welche Entwicklung Europa unter dem Druck der Fluchtbewegung nehmen wird, lasse sich kaum vorhersagen. In Frankreich könnte die nächste Präsidentin Marine le Pen heißen. Es sei jedenfalls klüger, in dieser Situation auf Distanz zur EU zu gehen, als sich ihr völlig unterzuordnen, so Gehrcke.


Zur Funktionsweise der deutschen Medienlandschaft

Was die deutsche Medienlandschaft betrifft, sei der Begriff "Lügenpresse" verpönt, weil man andernfalls sofort im rechten Lager verortet werde. Es seien kaum mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten, die in den sogenannten Leitmedien über außenpolitische Fragen schreiben. Sie beriefen sich auf wissenschaftliche Forschungsinstitute wie die Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann oder die Körberstiftung, insgesamt nicht mehr als zehn große Einrichtungen. Diese zitierten wiederum zehn bis zwanzig Abgeordnete, die sofort zu Experten ernannt würden. Rechne man alles zusammen, seien es keine 200 Leute, die über die öffentliche Berichterstattung die außenpolitische Meinung in diesem Land prägen.

Beispielhaft für dieses System sei die Atlantikbrücke, der man nicht beitreten könne. Man werde vielmehr ausgesucht, wobei in den Parteien ein bestimmter Typus gefragt sei: Jung, am besten mit Einfluß und westlich orientiert. Es würden Reisen in die USA, Seminare und Treffen organisiert, alle fühlten sich bedeutsam und würden gefördert. Werde man bei allen wichtigen Journalisten als bedeutsam vorgeführt, was das Streben jedes Bundestagsabgeordneten sei, dann sei man wer auch in der eigenen Partei. So seien die Netzwerke beschaffen, die Meinung prägen. Habe man sich erst einmal dafür entschieden, schere keiner aus dem Verbund aus, da er andernfalls erledigt sei. Es bedürfe also keines heimlichen Zentralkomitees, das bestimmt, was auf welche Weise berichtet wird. Diese Leute schrieben, was sie für richtig halten, und nennen Assad einen Diktator, der beseitigt werden müsse. Indessen glaubten die Menschen in unserem Land längst nicht mehr alles, was die Medien sagen, und das sei ein bedeutsamer Fortschritt, meinte Gehrcke.


Hartmut Obens und Wolfgang Gehrcke - Foto: © 2015 by Schattenblick

Hartmut Obens, Vorsitzender der Fraktion Die Linke in der Bezirksversammlung Eimsbüttel, führte durch den Abend
Foto: © 2015 by Schattenblick


Alleinstellungsmerkmal Antikriegspartei

Wolfgang Gehrcke plädiert für einen politischen Pazifismus, was nicht bedeuten müsse, nie wieder zu den Waffen zu greifen. Die praktische Erfahrung lehre jedoch, daß man aus dem Strudel der Kriegsbeteiligung nicht mehr herauskommt, wenn man einmal ja gesagt hat. Die anderen Parteien lägen auf der Lauer, Die Linke in dieser Frage aufzubrechen, wobei der Köder die Regierungsbeteiligung sei. Er habe Steinmeier einmal auf dessen Frage, was die Kernpositionen der Linken bei einer rot-roten Regierung wären, folgendes geantwortet: Keine deutschen Soldaten in Auslandseinsätzen und ein sofortiger und vollständiger Rückzug. Zweitens Austritt aus den politischen Strukturen der NATO. Drittens ein hundertprozentiges Nein zu Rüstungsexporten und nicht nur, was schon ein Fortschritt wäre, zu Exporten in Krisengebiete. Daraus würde eine andere Außenpolitik dieses Landes folgen, weshalb die SPD sofort abwinke.

Als die Entsendung einer Fregatte zum Schutz eines US-amerikanischen Schiffs zur Vernichtung von Chemiewaffen diskutiert wurde, sei es gewiß keine Spitzenleistung des Imperialismus gewesen, da mitzufahren. Ihm sei jedoch klar gewesen, welches Einfallstor damit geöffnet wurde. Er sei nicht prinzipiell gegen eine Regierungsbeteiligung zu den Bedingungen, die ihm vorschwebten, und würde sich nach Kräften dafür einsetzen. Aber das sei nicht im Angebot. Gefordert werde ein Arrangement mit der NATO, eine Entsendung der Bundeswehr zu Auslandseinsätzen und dergleichen mehr. Am Ende stünde eine Linkspartei, die nicht mehr links wäre. Dann bräuchte man sie nicht mehr, da eine zweite Sozialdemokratie überflüssig wäre, warnte Gehrcke vor der Preisgabe des herausragenden Alleinstellungsmerkmals, das seine Partei gegenwärtig auszeichnet.


Fußnote:

[1] Interview mit Wolfgang Gehrcke im Schattenblick:
INTERVIEW/285: Globale Kriegsneuralgie - Kampf erklärt, Chance verwehrt ...    Wolfgang Gehrcke im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0285.html

29. Dezember 2015


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