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BERICHT/221: EU-Umlastkonverter - Die fünfte Kolonne ... (2) (SB)


Lähmung des Widerstands ... am Beispiel Syriza

"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Veranstaltung am 17. November 2015 in Hamburg-St. Georg


Mit einer Podiumsdiskussion zum Thema "Das dritte Verelendungsdiktat der Troika. Blanke Erpressung? Ja! Aber auch notwendiges Scheitern des Reformismus?", die in der Kaffeewelt im Georg-Asmussen-Haus in Hamburg-St. Georg stattfand, endete die Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" [1]. Unter Moderation von Harald Humburg und Uli Ludwig führten Dr. Manfred Sohn, Dr. Axel Troost und Thanasis Spanidis eine kontroverse Debatte. Während die erste Runde der Veranstaltung dem Komplex "Griechenlandkrise, Kapitalismus und die EU" gewidmet war, lag der Schwerpunkt des nun folgenden zweiten Teils auf der Thematik "Notwendige Reformstrategie oder notwendiges Scheitern des Reformismus?".

Um die inhaltliche Auseinandersetzung zu strukturieren, hatte das Moderatorenteam der zweiten Diskussionsrunde folgende Leitfragen vorangestellt:

• Hat Syriza ein realistisches Reformprogramm vorgelegt oder der Bevölkerung mit der Orientierung auf eine Wende innerhalb von EU, Eurozone, NATO und Kapitalismus nur Sand in die Augen gestreut?

• Hat Syriza den Widerstand der Werktätigen gegen das Verelendungsdiktat vorangetrieben oder mit einer Orientierung auf Parlament und Verhandlung in Brüssel abgewürgt?

• Ist das dritte Memorandum nur das Ergebnis blanker Erpressung und fehlender europäischer Solidarität oder zugleich notwendiges Scheitern des Reformismus?


Projektion der Leitfragen Runde 2 - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Kontroverse Debatte um Parteipolitik und Parlamentarismus

Wie Thanasis Spanidis eingangs hervorhob, sollte das Reformprogramm Syrizas im Rahmen von Eurozone und EU ohne Bruch mit der Herrschaft des Kapitals verwirklicht werden. Varoufakis habe berichtet, daß seine Argumente für völlig irrelevant erachtet wurden: "Ich hätte genausogut die schwedische Nationalhymne vorsingen können." Es sei um Interessenunterschiede zwischen kapitalistischen Staaten und den dahinterstehenden Kapitalfraktionen, nicht um bloße Meinungsverschiedenheiten zwischen Privatpersonen gegangen, die man durch den Austausch von Argumenten beilegen kann. Das hätte man vorher wissen können und müssen, so Spanidis. Präsentiere man die Verhandlungen mit den sogenannten europäischen Partnern und eine Wiederbelebung der kapitalistischen Akkumulation als Lösungsweg, wie es Syriza getan habe, diene man objektiv einer Desorientierung, Desorganisierung und Lähmung der Bewegung und des Widerstands. Syriza habe die Illusion geschürt, daß die Wahl einer anderen Regierung mit einer anderen Politik gleichzusetzen sei. Damit habe diese Partei die Energie und Hoffnung des Volkes weg vom Klassenkampf und hin zu einem rein parlamentarischen Kampf gelenkt.

Im übrigen habe Syriza in der Widerstandsbewegung nirgendwo eine entscheidende Rolle gespielt, was in gewisser Weise auch gut so gewesen sei, da sie an keiner Stelle eine besonders positive Rolle gespielt habe. Lege man die Wahlergebnisse in den Gewerkschaften oder an den Universitäten zugrunde, zeichne sich ein sehr begrenzter Einfluß Syrizas ab. Eine entscheidende Rolle in der Organisierung des Widerstands habe demgegenüber von Anfang an die Kommunistische Partei (KKE) gespielt. Die Logik der Politik Syrizas habe zur politischen Entwaffnung des Widerstands geführt. Nach einer Hochphase des Widerstands in den Jahren 2010/2011 mit massenhaften und militanten Generalstreiks, Massendemonstrationen von Hunderttausenden Menschen und dem neunmonatigen Streik im Stahlwerk in Aspropyrgos habe mit dem Aufstieg Syrizas zur Massenpartei der Niedergang dieser Bewegung begonnen. Bei der zweiten Parlamentswahl 2012 erlitt die KKE eine schwere Niederlage, und wie sich in den folgenden Monaten und Jahren gezeigt habe, galt dasselbe für die gesamte Bewegung. Die meisten Menschen seien nun zu Hause geblieben, die Streikbereitschaft habe erheblich nachgelassen, und als Syriza schließlich an die Regierung kam, habe dies der Bewegung einen weiteren schweren Schlag versetzt. Spätestens seit dem dritten Memorandum beherrschten Resignation, Enttäuschung, oft auch nur Zynismus, weithin das Feld.

Es seien sogar Fälle bekannt, in denen Syriza lange vor der Regierungsübernahme gegen den Widerstand gearbeitet und dazu beigetragen habe, Ansätze von Protest abzuwürgen. Dessen ungeachtet konstruierten viele Linke nachträglich einen Bruch in der Politik Syrizas, der meist auf Juli 2015 datiert wird, als es angeblich einen grundlegenden Einschnitt gegeben habe. Dieser Auffassung zufolge sei Syriza zuvor links und radikal gewesen, während es sich jetzt um eine Partei von Verrätern handle. Diese Einschätzung werde auch von der Volkseinheit vertreten, die sich von Syriza abgespalten hat. Das sei ihr Gründungsmythos, da sie beanspruche, die ursprüngliche Syriza zu vertreten. Aus seiner Sicht sei das eine völlig falsche Darstellung, so Spanidis. Wenngleich sich Syriza seit dem Sommer offener als zuvor nach rechts bewegt habe, könne von einen grundsätzlichen Bruch doch keine Rede sein.

Professionelle Politiker wie Tsipras schafften es, sich aus allem herauszureden, wofür sie verantwortlich seien. Erstaunlich seien indessen die akrobatischen rhetorischen Übungen, Tsipras freizusprechen, die auch von großen Teilen der deutschen Linken mitvollzogen würden. Stelle man seinen Wählern und Unterstützern einen Plan vor, wie durch Verhandlungen ein besseres Ergebnis herauszuholen sei, worauf hinterher ein noch schlimmeres Resultat als das der Vorgängerregierung präsentiert werde, könne sich doch niemand aus der Verantwortung stehlen. Daher trage der Begriff "Erpressung" eher zur Verwirrung bei, da zu einer erfolgreichen Erpressung natürlich stets jemand gehöre, der sich erpressen läßt. In Verhandlungen zwischen Staaten entscheide das Kräfteverhältnis. Lasse man sich auf Verhandlungen ein, müsse man Abstriche machen, so daß Erpressung ein übliches Element solcher Verhandlungen sei. Bei Griechenland handle es sich seines Erachtens um keine Kolonie, sondern um einen souveränen kapitalistischen Staat, der sich aus politischer und ökonomischer Kalkulation seiner herrschenden Klasse der EU und der Eurozone angeschlossen habe. Mit Ausnahme der Goldenen Morgenröte und der Volkseinheit seien alle Parteien weiterhin für den Euro und trügen die Kürzungspolitik mit. Von Kolonie zu sprechen, sei eine populistische Phrase, die verwendet werde, um die politisch Verantwortlichen aus der Schußlinie zu bringen, schloß Spanidis seine Einschätzung Syrizas.

Dieser Kritik hielt Axel Troost entgegen, man könne natürlich wie die KKE jede Form des Regierens und Mitgestaltens im Kapitalismus ablehnen und sich in die außerparlamentarischen Kämpfe begeben, bis irgendwann der Kapitalismus abgeschafft und der Sozialismus eingeführt werde. Die KKE sei stabil bei 5 Prozent, was in Deutschland völlig unvorstellbar wäre, doch komme sie auch nicht darüber hinaus. Es stelle sich jedoch die Frage, was unter den Rahmenbedingungen ab 2008 und angesichts der Auflagen seitens der Troika zu tun sei. Syriza habe kein sozialistisches Programm, sondern beruhe konzeptionell auf einer Rede von Tsipras in Thessaloniki, die dann ein wenig weiterentwickelt worden sei. Die Wahl sei indessen nur deswegen gewonnen worden, weil Syriza mit einem Reformprogramm angetreten war, das im wesentlichen beinhaltet habe: Bekämpfung der humanitären Krise, Wiederbelebung der Wirtschaft, Investitionen, Arbeitsmarktpolitik und Reform der Institutionen wie insbesondere Aufbau eines Steuersystems und der Kommunalverwaltung. Das sei sicher revisionistisch und keine Veränderung des Staates, aber dafür und auch nur dafür habe es eine politische Mehrheit in Griechenland gegeben. Trete man mit einem radikaleren Programm an, das eher in Richtung Grexit und einer stärkeren Auseinandersetzung geht, scheitere man mangels fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung an der Drei-Prozenthürde.

Tsipras vorzuwerfen, er habe noch nie anders gehandelt, werfe die Frage auf: Hat sich die gesamte europäische Linke von ihm hereinlegen lassen, als sie ihn als Spitzenkandidaten für die Europawahl aufstellte? Wie Troost einräumte, habe er die Euphorie geteilt, das Wahlergebnis in Griechenland könne der Einstieg in eine Veränderung der Eurozone und der EU sein. Diese Illusion hätten Gewerkschaftsführer und linke Sozialwissenschaftler in ihrer Forderung geteilt, nun solle man Europa neu begründen. Wenn sein Vorredner von einer großen Depression in der Partei Syriza, in der Gewerkschaft und in der sozialen Bewegung gesprochen habe, stimme er dem vollkommen zu.

Syriza sei wohl nur deshalb wiedergewählt worden, weil ein großer Teil der Bevölkerung keine Alternative gesehen habe. Nun komme es darauf an, nicht nur Memorandumpolitik zu machen, sondern tatsächlich auch Steuerpolitik aufzubauen und sich mit den Herrschenden auseinanderzusetzen. Jetzt müsse man die Vermögensbesteuerung von Reichen, das Rückholen von im Ausland deponierten Geldern und die Besteuerung von Immobilienkäufen in Angriff nehmen. Das schaffe nur eine Regierung wie die von Tsipras, sofern sie durchhält, ohne sich in den Klientilismus einbinden zu lassen. Das sei zwar ein grausamer Weg, doch wäre die Alternative eine bürgerliche Regierung und eine außerparlamentarische Opposition, die wieder mehr Spielraum hätte, ohne etwas zu verändern.

Er habe kein Problem damit, Syriza eine sozialdemokratische Politik zu attestieren: Oskar Lafontaine und Gregor Gysi haben immer gesagt, was wären wir froh, wenn die SPD mal wieder sozialdemokratische Politik machen würde! Syriza mache keine sozialistische und systemüberwindende Politik, was aber auch nie ihr Anspruch gewesen sei und wofür es in Griechenland keine Mehrheit gebe. Insofern könne man nur hoffen, daß ihr das eine oder andere gelingt. Mit der Euphorie von Syriza 1 sei es jedenfalls vorbei.

Manfred Sohn hielt dem entgegen, er habe den Eindruck, daß seine fünf Jahre als Parlamentarier die unpolitischste Zeit seines Lebens gewesen seien. Er habe ständig mit Leuten geredet, die er sowieso nicht überzeugen konnte. Man müsse sich angesichts sinkender Wahlbeteiligung doch fragen, ob die Überzeugung der Menschen, daß Wahlen ohnehin nichts änderten, nicht vielleicht zutreffe. Was grundlegende Veränderungen betreffe, sei es doch absurd anzunehmen, daß es reicht, alle vier oder fünf Jahre in einem abgedunkelten Raum einen Zettel in einer Urne zu versenken. Diese aberwitzige Vorstellung führe jedoch dazu, daß den Leuten die Illusion vermittelt werde, das sei der zentrale politische Akt ihres Lebens. Deshalb werfe er Syriza insbesondere vor, die Illusion zu verbreiten, ein Urnengang sei Politik. Dies sei doch nur eine Ersatzhandlung für die eigentlichen politischen Taten, bei denen es sich immer um direkte Aktionen handle. Sie seien gefährlicher, unangenehmer und aufwendiger, hätten aber den Vorteil, daß sie bei massenhafter Ausführung auch effektiv seien.

Die Auseinandersetzung werde in den Unternehmen geführt. So sei in seinem Betrieb die Altersversorgung zusammengestrichen worden und die Tarifeingruppierung gefährdet. Dort finde die Lohnpolitik in den Kämpfen statt. Werde die Illusion genährt, man könne die Lohnpolitik in die Urne abdelegieren, werde das Eintreten für die eigenen Interessen vor Ort gebremst. Die vor uns liegende Aufgabe beginne damit, daß man den eigenen Kopf sortiert. Und dazu gehöre folgende grundlegende Einsicht: Es habe Reichtum schon vor dem Kapitalismus gegeben, und er bestehe immer in Dingen, die das Leben angenehm machen, und in der Zeit, diese Dinge zu genießen. Eine andere Form von Reichtum gebe es nicht. Die kapitalistische Periode, in der wir gefangen seien, zeichne folgendes Spezifikum aus: Der Reichtum werde immer über die Geldform vermittelt und verbleibe in diesem Gehege von Geld, Markt und Profit der das System zusammenhaltenden Staatsmaschine. Seine Kernthese laute: Solange diese globalisiert gewordene kapitalistische Menschheit aus diesem Gehege gedanklich und dann auch über die Tat nicht ausbricht, werde es keine Wohlstandssteigerung mehr geben.

Er sehe eine Gemeinsamkeit zwischen Syriza und den hiesigen Auseinandersetzungen. Die Postler hätten nach ihrem tollen Kampf eine Vollklatsche bekommen. Der aufopferungsvolle Kampf der Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen habe zu einem Schlichtungsspruch geführt, bei dem ihnen die Spucke wegbleibe. Es gebe eine Serie von Enttäuschungen wie die Regierungsbeteiligung der PDL in Brandenburg oder den Hoffnungsträger Ramelow, den heute außerhalb Thüringens kaum noch einer kenne. Innerhalb dieses Geheges finde eine asymptomatische Annäherung an einen Nullpunkt statt, da man immer größeren Aufwand für immer weniger benötige. Man rödle wie ein Hamster im Hamsterrad im Gehege von Parlamentarismus und Parteien und stelle fest, daß dieses Jahr noch weniger herausgekommen ist als letztes Jahr. Da müsse man doch fragen, ob die Kraft an dieser Stelle richtig investiert sei oder ob es nicht sinnvoller wäre, diese Parlamentarismusillusion zu vergessen. Wesentlich sei, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und sich kommunal und global den vorhandenen Reichtum anzueignen. Darum komme man nicht herum. Ansonsten gerate man in den beginnenden Strudel, den alle untergehenden Gesellschaftsformationen aufwiesen: Wenn die Leute nicht selber den Arsch hochkriegen, rettet ihn auch kein anderer, unterstrich Sohn.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Manfred Sohn und Axel Troost
Foto: © 2015 by Schattenblick


Mitregieren heißt Kapitalinteressen exekutieren

Nachdem die Moderatoren die unterschiedlichen Positionen der drei Podiumsteilnehmer zur Rolle von Parteien und Parlamentarismus umrissen und eine weitere Präzisierung angeregt hatten, bekam zuerst Axel Troost das Wort. Der Partei Die Linke sei völlig klar, daß es zur Umsetzung ihrer Ziele im Parlament stets auch außerparlamentarischer Bewegungen bedürfe. Syriza habe durch den Wahlsieg lediglich das Mandat bekommen, mit der EU zu verhandeln, aber keine darüber hinausreichende Macht. Ob die griechischen Reeder die Macht innehätten oder das Land den Kapitalmärkten und der EU unterworfen sei, wäre zu diskutieren. Seien die Kapitalfraktionen für die Schuldenbremse verantwortlich oder eine völlig verfehlte neoliberale Politik, wie es sie in dieser extremen Form nur in Deutschland gebe? Es sei natürlich schlecht, sich dem Spardiktat zu unterwerfen, doch sei die Alternative ein Grexit von heute auf morgen. So etwas habe es noch nie gegeben, weshalb man die Folgen nicht kenne. Er sehe seine Aufgabe darin, das Parlamentarische und das Außerparlamentarische miteinander zu verbinden. Gerade weil die sozialen Bewegungen schwänden, bemühe sich Die Linke, eine gemeinsame Front von beidem zu schaffen.

Thanasis Spanidis sah sich in der ungewöhnlichen Situation, einerseits gegen eine reformistische und andererseits eine linksradikale Position Stellung nehmen zu müssen, wie er es ausdrückte. Wenngleich natürlich institutionelle und ideologische Kontinuitäten wie die ordoliberale Position in Deutschland bestünden, sei doch entscheidend, daß sich keine Ideologie und Wirtschaftspolitik auf Dauer halten könne, sofern nicht handfeste Kapitalinteressen und nicht etwa nur ein paar verrückte Ideen dahinterstünden. Nach Analyse der KKE bedeute mitregieren, die Interessen des Kapitals gegen die große Mehrheit des Volkes zu exekutieren, unabhängig davon, welche Intentionen man mit der Regierungsbeteiligung verbinde. Der Kapitalismus lasse mittlerweile wenig Spielräume für ein anderes Regierungsprogramm. Das Argument Axel Troosts, Syriza habe nur für das Reformprogramm eine Mehrheit bekommen, finde er sehr problematisch. Schließlich habe Schäuble lange eine große Mehrheit für seine Politik gegenüber Griechenland hinter sich gehabt. Wofür man eine Mehrheit bekomme, sei nicht unbedingt das, was man deswegen auch unterstütze. Er gehe nicht davon aus, daß eine grundsätzliche Veränderung über das Parlament zu erreichen sei. Auch glaube er nicht, daß Linke, Gewerkschafter und Sozialwissenschaftler getäuscht worden und einer Illusion aufgesessen seien. Es gehe im Kern um ganz verschiedene strategische Konzeptionen und Vorstellungen davon, wie man diese Welt verändern kann. Diese Leute seien darauf hereingefallen, weil sie dieselbe sozialdemokratische Konzeption von Reformen innerhalb des Kapitalismus befürworteten und letzten Endes dasselbe gemacht hätten, wären sie in Griechenland an der Regierung gewesen.

Seines Erachtens habe die KKE in diesem Konflikt die richtige Linie vertreten. Sie habe sich nicht an einer Regierung beteiligt, die absehbar zu weiteren Schlägen gegen die Arbeiterbewegung und den Lebensstandard der breiten Bevölkerung führen werde, sondern setze all ihre Kräfte dafür ein, den Widerstand im Betrieb, auf der Straße, an der Universität und im Wohnviertel gegen jede Maßnahme zu organisieren, die den Lebensstandard der Masse angreift. Zugleich trage sie in diesen Widerstand die Perspektive hinein, daß das Volk ökonomisch und politisch an die Macht kommen müsse und daß derjenige, der die Schlüssel der Wirtschaft in der Hand hält, auch die Macht innehat, und daß nur die Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten einen Ausweg aus der Misere bieten könne.

Die Praxis der KKE belege zugleich, wie auch auf parlamentarischer Ebene sinnvolle politische Arbeit geleistet werden könne, sofern man die Arbeit im Parlament nur als Bühne und für punktuellen Widerstand nutze, ohne dabei Illusionen zu verbreiten, daß man über das Parlament etwas grundsätzlich ändern könne. Es sei gleichermaßen eine Sackgasse, alles zu negieren, was nicht auf den sofortigen Bruch mit dem Kapitalismus hinausläuft. Wie gelange man zu einer Situation, in der es ein Gelegenheitsfenster dafür gibt, die Macht zu übernehmen? Das sei nur möglich, wenn die breite Masse der Bevölkerung innerhalb von konkreten Kämpfen für die eigenen Interessen Erfahrungen sammle und wenn es eine Kommunistische Partei gebe, die in diesen Kämpfen in der ersten Reihe steht und Bewußtsein schafft, so Spanidis.

Manfred Sohn grenzte sich gegen diese Position unter Berufung auf Erfahrungen ab, die er in seiner persönlichen politischen Geschichte gesammelt habe. Erfolge seien in drei Situationen erzielt worden, die alle nichts mit Parlamenten zu tun gehabt hätten. Eine Hausbesetzung in Göttingen habe dazu geführt, daß nach zähen Verhandlungen für anderthalb Jahrzehnte relativ kostengünstiger Wohnraum entstanden sei. Castorblockaden hätten trotz Jürgen Trittin im Ministeramt das Resultat befördert, daß wir dem Atomausstieg so nahe seien wie kaum ein anderes europäisches Land. In seinem Betrieb verdienten die Mitarbeiter im Schnitt eine halbe Gehaltsgruppe mehr als in anderen vergleichbaren Unternehmen, was ebenfalls ein Resultat beständiger direkter Aktionen sei. Daraus ziehe er den Schluß, daß es nur etwas bringt, wenn sich die Leute selber in Bewegung setzen.

Drei Dinge seien zu tun: Die Linken sollten stärker Theoriearbeit betreiben und begreifen, wie dieses System funktioniert und was der Charakter dieser kapitalistischen Krise ist. Zweitens sollte man alles unterstützen, was die Widerständigkeit gegen dieses System fördert wie direkte Aktionen, Betriebsbesetzungen, Hausbesetzungen oder Steuerverweigerungen, weil Menschen dort ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Drittens sollte man an der Organisation arbeiten, die beides zu einem Dritten, qualitativ Höherwertigem bündelt - so etwas habe man früher eine revolutionäre Organisation genannt. Vielleicht war es das, was die Pariser Commune in einem ersten Anlauf vor gut 150 Jahren vorgemacht hat. Es wäre dann nach der Commune und der Oktoberrevolution der dritte Anlauf zum Sozialismus, der hoffentlich diesmal gelinge, weil die Alternative eine sich beschleunigende Spirale in Barbarei, Krise, Krieg und Elend wäre.


Zur Aufgabe der Kommunisten

In Reaktion auf Diskussionsbeiträge aus dem Publikum, in denen anhand von konkreten Beispielen aus der Hamburger Flüchtlingsarbeit von "Selbstermächtigung" die Rede war, plädierte Manfred Sohn für den Begriff "organisierte Selbstermächtigung" als Hauptrichtung der Veränderung. Wo sich die Menschen auch theoretisch fundiert massenhaft ermächtigten, ihr Leben selbst zu gestalten, löse sich die Frage von Reformismus und Revolution in einen Prozeß auf, der seinem Charakter nach revolutionär geworden sei.

Hingegen warnte Thanasis Spanidis davor, von Selbstermächtigung zu sprechen, wenn Menschen in dieser Gesellschaft zur Abwechslung etwas in Angriff nähmen, was nicht vom bürgerlichen Staat vorgeschrieben werde. So wichtig es sei, Flüchtlingen zu helfen, ändere das doch nichts an den Machtverhältnissen und löse den Gegensatz von Reform und Revolution keineswegs auf. Nur weil Menschen aktiv werden, erschüttere das doch nicht das System in seinen Grundfesten. Natürlich müßten Leute aktiv werden, aber die Frage sei doch, wofür und wogegen. Er wende sich nicht gegen Kämpfe für konkrete Verbesserungen, sondern halte sie ganz im Gegenteil für die Voraussetzung, daß Kommunisten mit den Menschen in Kontakt kommen, die sie erreichen wollen. In diesen Kämpfen könne man auf eine Bewußtseinsveränderung hinwirken. Das sei jedoch etwas völlig anderes, als aus der bloßen Aktivität von Menschen ein Potential zur Überwindung des Kapitalismus abzuleiten.

Die Denkweise Syrizas, daß sie an der Regierung alles zum Besseren wenden könne, sei charakteristisch für die gesamte bürgerliche Politik. Syriza sei nur eine Variante unter vielen, wie man dieses System verwalten könne, ohne es als solches anzutasten. Der Auffassung, man könne auf reformistischem Wege Stück für Stück der Staatsmacht erobern, liege eine falsche Vorstellung des Staates zugrunde. Der bürgerliche Staat sei ein Staat des Kapitals, der als ideeller Gesamtkapitalist die Kapitalverwertung durchsetze. Von den Eurokommunisten bis zur Partei Die Linke sei der Anspruch erhoben worden, den Kapitalismus auf reformistischem Weg überwinden zu können, was nirgendwo funktioniert habe. Seinen Vortrag auf eine Hoffnung zu reduzieren, daß irgendwann eine starke Massenbewegung zum Sturm auf das Winterpalais rufe, entspreche nicht dem, was er gesagt habe. Es habe in Griechenland eine ideologisch heterogene Klassenbewegung gegeben, die Widerstand gegen die Austeritätspolitik organisiert hat. Diese Bewegung sei zerstört worden, was die Kampfbedingungen zwangsläufig verschlechtert habe. Daß eine gefestigte Klassenbewegung entsteht, die auf solche Illusionen nicht mehr hereinfällt, sei Aufgabe der Kommunisten, war Thanasis Spanidis das Schlußwort vorbehalten.


Bruch mit Herrschaft in all ihren Wandlungsformen

So endete die diesjährige Veranstaltungsreihe des "Bündnisses Kapitalismus in der Krise" mit einer aufschlußreichen Kontroverse um grundlegende Fragen zu Reformismus, Parteipolitik und Parlamentarismus, die weit über die Rolle Syrizas hinaus zahlreiche wesentliche Fragen der Linken nicht nur in Griechenland ausleuchtete. Wie die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Grünen und reformistischen Mehrheit der Partei Die Linke lehrt, erweist sich das Streben nach Regierungsbeteiligung zwangsläufig als eine Einbahnstraße der Teilhaberschaft an den herrschenden Verhältnissen. Das läßt sich mit moralischen Argumenten nicht angemessen charakterisieren und kritisieren, postulierte dies doch inmitten der Widerspruchslage einer Klassengesellschaft einen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch.

Für eine Linke können übergreifender Konsens, Mehrheitsmeinung und Regierungsfähigkeit nicht Voraussetzung und Maßstab ihrer theoretischen Positionen und praktischen Handlungsweisen sein. Eher schon sollte ihr daran gelegen sein, den Bruch mit der Herrschaft in all ihren Aspekten nicht an der Stelle zu beenden, wo Erfolgsperspektiven, Karrieren und Aufstiegskompromisse weit attraktiver erscheinen als die beharrliche Negation durchweg inakzeptabler Verhältnisse. Das gilt in besonderem Maße in Deutschland, das inmitten globaler Erschütterungen den Mythos des Krisengewinners um jeden Preis zum letztgültigen Leitmotiv erklärt und seiner Bevölkerung den Vorteil schmackhaft macht, jedes Opfer klaglos zu akzeptieren, damit es andere um so schlimmer trifft.

Die nunmehr dritte Veranstaltungsreihe des Hamburger Bündnisses "Kapitalismus in der Krise" bewegte sich einmal mehr auf der Höhe gesellschaftlicher Konflikte, sozialer Kämpfe und kapitalistischer Bestandssicherung. Daß der Erarbeitung theoretischer Grundlagen zur Durchdringung der nicht unkomplizierter werdenden Widerspruchslagen einer Gesellschaft, die durch politisch bestimmte Verschuldungsprozesse ein neofeudales Herrschaftsverhältnis hervorbringt, der rabiaten Innovationsoffensiven, die die Menschen auf vermeintlich selbstbestimmte Weise den Imperativen der Arbeitsgesellschaft unterwerfen, wie einer informationstechnisch hocheffizienten Sozialkontrolle, die tief in die verbliebenen Widerstandspotentiale bislang unauslotbarer Subjektivität greift, viel zu wenig Interesse zuteil wird, ist eine die radikale Linke generell betreffende Schwäche. Sich einer widerständigen Sprache zu bemächtigen, revolutionäre Geschichte nicht dem Vergessen oder gar der Auslegung der Gegenseite zu überlassen, dem beschleunigten Formwandel herrschender Verfügungsgewalt immer einen Schritt voraus zu sein, als bloß auf ihn zu reagieren - all das setzt erhebliches Interesse an Analyse und Kritik, dezidierte Arbeit am Begriff und vor allem die Kontinuität streitbarer Positionierung voraus. Es gibt wahrlich mehr als genug Stoff zur Erarbeitung offensiver Fertigkeiten einer Linken, die beim rückläufigen Stand ihrer Entwicklung viel Anlaß hätte zu verzweifeln, so daß der produktive Zweifel allemal wegweisend ist.


Veranstaltungsplakat an gläserner Eingangstür - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wiedersehen in der "Kaffeewelt"
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnote:

[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/


Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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18. Dezember 2015


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