Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/220: EU-Umlastkonverter - Die fünfte Kolonne ... (1) (SB)


Reformismus befriedet Widerspruchslage der Klassengesellschaft

"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Veranstaltung am 17. November 2015 in Hamburg-St. Georg


Im Räderwerk bürgerlicher Herrschaft üben reformistische Parteien vielfältige Funktionen aus, die konservative Fraktionen des politischen Spektrums angesichts ihrer Beharrungskräfte nicht annähernd so flexibel und dynamisch wahrnehmen können. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse innovativ weiterzuentwickeln, ohne es zu gravierenden Unwuchten kommen zu lassen, bedarf es zumindest phasenweise parteipolitischer Sammelbecken, die je nach Bedarf Aufbruchstimmung generieren, Widerstand einhegen, Schübe der Drangsalierung durchsetzen, ideologische Tabus brechen oder Niederlagen des Aufbegehrens besiegeln. Soll die Klassengesellschaft fortbestehen, ohne an ihrem unüberbrückbaren Widerspruch zu scheitern, sind neben unverhohlener Gewalt zugleich immer neue Simulationen von Ausgleich und Versöhnung, Partizipation und Perspektive, Lob und Lohn der Unterwerfung und Opferbereitschaft vonnöten.

Als eine der weltweit am höchsten entwickelten Industrienationen mit einer beispiellosen administrativen Durchdringung jeglicher Lebensbereiche kann Deutschland zwangsläufig auf eine lange und reichhaltige Geschichte geradezu klassisch anmutender reformistischer Meisterleistungen zurückblicken. Daß Arbeitsregime und hoch regulierte soziale Grausamkeiten, niederkonkurrierende Exportstärke und Führerschaft in Europa, Rüstungsschmiede und Kriegsbeteiligung, Krisenumlast und Großmachtgelüste mit einer Friedhofsruhe an der Front gesellschaftlicher Auseinandersetzungen einhergehen, wäre ohne die maßgebliche Teilhaberschaft sozialdemokratischer, grüner und dem Namen nach linker Reformbestrebungen nicht zu erwirtschaften.

Was im Lande des europäischen Zuchtmeisters aus historischen Gründen jahrzehntelanger Umbruchprozesse bedurfte, um den sozialen Frieden nicht zu erschüttern, hat in seinem griechischen Jagdrevier die Partei Syriza gleichsam im Zeitraffer durchgepeitscht. In einer verelendeten, aber latent kampfbereiten Gesellschaft gelang es ihr, der Massenbewegung gegen das EU-Regime die Zähne zu ziehen, Hoffnungen auf einen parlamentarischen Ausweg zu fixieren und nach Übernahme der Regierung ein um so tieferes Verhängnis festzuzurren. Woran andere politische Fraktionen gescheitert waren, haben die Reformisten um Alexis Tsipras vollbracht: Die Glut des Zorns lediglich zu einem Strohfeuer angefacht, hat auf unabsehbare Zeit nichts als Asche zurückgelassen.


Veranstaltungsankündigung - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Kontrovers besetztes Podium - Gut strukturierte Diskussion

Zum Abschluß der Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" [1] befaßte sich eine kontrovers konzipierte Podiumsdiskussion in der Kaffeewelt im Georg-Asmussen-Haus in Hamburg-St. Georg mit der Thematik "Das dritte Verelendungsdiktat der Troika. Blanke Erpressung? Ja! Aber auch notwendiges Scheitern des Reformismus?". Leider war es nicht gelungen, Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht oder einen anderen Protagonisten des "Plan B" für die Teilnahme zu gewinnen. Unter Moderation von Uli Ludwig und Harald Humburg diskutierten Dr. Manfred Sohn, Dr. Axel Troost und Thanasis Spanidis miteinander und mit dem zahlreich erschienenen Publikum. Die gut strukturierte Veranstaltung war in zwei Abschnitte unterteilt, die sich jeweils in kurze Vorträge der Referenten, Fragen der Moderatoren und Antworten der Podiumsteilnehmer wie auch ihre Stellungnahmen zu den Beiträgen der jeweils anderen Diskutanten gliederten.

Der Sozialwissenschaftler Dr. Manfred Sohn war von 2008 bis 2013 Mitglied des Niedersächsischen Landtags für die Partei Die Linke. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter "Der dritte Anlauf: Alle Macht den Räten" und "Am Epochenbruch - zum Charakter der gegenwärtigen Krise" und seit fast drei Jahrzehnten bei einem Versicherungsunternehmen in Hannover beschäftigt. Seiner Auffassung nach stößt der heutige Kapitalismus an seine wahre Schranke und hat für Griechenland nur noch das Elend der Dritten Welt zu bieten. Spielräume für Verbesserungen und damit für den Reformismus gebe es nicht mehr. Daher scheiterten reformistische Hoffnungsträger in immer kürzeren Zeiträumen.

Der Diplomvolkswirt Dr. Axel Troost ist ehrenamtlicher Geschäftsführer der Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik (Memorandumsgruppe), seit 2012 stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke und bereits seit 2005 Finanzpolitischer Sprecher der Fraktion im Bundestag. Seines Erachtens ist Syriza an der Schwäche der linken Bewegungen in Europa gescheitert. Damit Südeuropa wieder auf die Beine kommt, müsse ein europäischer New Deal durchgesetzt werden. Die Forderung nach Rückkehr zu einer nationalstaatlichen Gestaltung der Ökonomien solle man den rechtspopulistischen Parteien überlassen. Die Alternative zu weniger Europa sei mehr Europa.

Der Geschichtswissenschaftler Thanasis Spanidis ist politischer Aktivist bei der DKP und SDAJ in Tübingen. Er hat analytische Artikel wie "Jenseits der Eurolinken" und "Die Rolle der Syriza, die Strategie und Taktik der KKE und was daraus zu lernen wäre" verfaßt. Seiner Position zufolge war Syriza schon vor der Regierungsübernahme eine bürgerliche Systempartei und hat wesentlich dazu beigetragen, den Widerstand gegen das Verelendungsdiktat in parlamentarische und pro EU-Bahnen zu lenken. Syriza sei im Juli 2015 nicht gescheitert - Syriza habe vielmehr seine objektive Funktion für die griechische Bourgeoisie erfüllt.

Die erste Runde der Podiumsdiskussion stand unter dem Thema "Griechenlandkrise, Kapitalismus und die EU" und orientierte sich an den folgenden drei Leitfragen:

• Ist die Griechenlandkrise (nur) die Folge einer verfehlten neoliberalen Austeritätspolitik oder Symptom einer tiefergehenden Systemkrise des Kapitalismus?

• Hätte Griechenland durch Schuldenschnitt oder einen europäischen Marshallplan noch eine realistische kapitalistische Entwicklungsperspektive oder hat der heutige Kapitalismus für Griechenland nur noch das Elend der Dritten Welt zu bieten?

• Was offenbart das deutsche Julidiktat über den Charakter der EU: Bollwerk gegen Nationalismus und fortschrittlich veränderbar oder kann die Einheit der Völker nur im gemeinsamen Kampf gegen die imperialistische EU erreicht werden?


Projektion der Leitfragen - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


An der Analyse scheiden sich die Geister

Manfred Sohn formulierte als Ausgangsthese, daß die Krise Griechenlands ein Symptomträger für tieferliegende Krisenursachen und insofern Ausdruck einer nicht auf Griechenland und Schuldenfragen begrenzten Kernproblematik sei, in der sich der Kapitalismus zunehmend befinde. Ein Marshallplan für Griechenland scheitere an der Frage, welche Industrieproduktion neu gestartet werden soll. Angesichts einer Überversorgung Europas mit Autos, Computern oder Handys bedürfe es keiner neuer Fabriken in diesen Branchen. Die Produktivität im Kapitalismus habe ein Maß erreicht, das die elf Millionen Einwohner Griechenlands für das Herstellen von gegenständlichen Waren überflüssig mache. Ausdruck der Illusion sei die Massenwanderung in die Zentren des Kapitalismus, wo die produktive Arbeit noch einigermaßen floriere und mit ihren Erzeugnissen andere Regionen überschwemme. Griechenland könne demgegenüber nur noch Tourismus und Werften bieten, wobei in letzteren bestenfalls 30.000 Menschen Beschäftigung fänden.

Den Kern des Problems habe Marx als die wahre Schranke des Kapitalismus beschrieben: Dieses System bringe nach und nach alle menschlichen Beziehungen und Bedürfnisse in die Warenform, mache sie also zu einer verkäuflichen Ware. Dazu bedürfe es des Mediums Geld, wobei es das Kernanliegen des kapitalistischen Systems sei, alles mit dem Ziel zu Geld zu machen, wiederum Waren herzustellen, um aus diesen mehr Geld zu ziehen. Die innere Dynamik dieses Systems reiße alle religiösen, nationalen, politischen und Zunftschranken nieder. Profit lasse sich jedoch nur durch die Ware Arbeitskraft generieren. Zugleich sei der Kapitalist durch die Konkurrenz gezwungen, die Arbeitskraft beständig aus dem Produktionsprozeß zu entfernen. Der Kapitalismus werde nach Marx erst dann an eine Grenze stoßen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Die ganze Welt ist ein einheitliches kapitalistisches System und alle inneren Beziehungen sind in die Warenform überführt worden. Diese finale Krise beginne jetzt zu greifen. Griechenland sei nicht nur ein Drama, sondern ein Zeichen an der Wand für das, was auf uns zukomme.

Axel Troost hielt dem entgegen, daß es sich durchaus lohne, auch über Veränderungen innerhalb des Kapitalismus nachzudenken. Er glaube nicht daran, daß die Staatsverschuldung zu hoch sei und der Kapitalismus zusammenbrechen werde, da dieser flexibel genug sei, immer wieder neue Formen zu finden. Griechenland habe seit der Militärdiktatur 40 Jahre Klientelismus hinter sich, wie es ihn in diesem Ausmaß in keinem anderen europäischen Land gebe: Korruption, Schmuggel und Schwarzarbeit, eine völlig unfähige Verwaltung, weder eine stabile Rentenversicherung noch ein vernünftiges Steuersystem, das in der Lage wäre, Reiche stärker zu besteuern. Die Wirtschaftspolitik nach dem Beitritt zum Euro habe zu einer starken Abwanderung von Industrie insbesondere nach Bulgarien geführt und die Wettbewerbsfähigkeit nicht verbessert.

Das seien die Rahmenbedingungen bis 2007/2008 gewesen, weshalb Syriza stets betont habe, daß man dorthin nicht zurückkehren, sondern ein neues Griechenland aufbauen wolle. In der Weltwirtschaftskrise seien dem Land die hohen Staatsschulden zum Verhängnis geworden, bei denen es sich nicht um eine Neuverschuldung, sondern vielmehr die ständige Umschuldung der Altschulden handle. Auch Deutschland mit seiner schwarzen Null nehme jedes Jahr 200 Milliarden Euro auf, um alte Schulden nicht wirklich zu tilgen, sondern mit neuen Schulden zu bezahlen. Als die Ratingagenturen befanden, daß Griechenland kein stabiles System sei, wurden die Kredite aufgrund der erhobenen Risikozuschläge wesentlich teurer, was der entscheidende Auslöser der griechischen Krise gewesen sei. Dabei hätte man vor diesem Hintergrund durchaus Alternativen finden können, die auch in einem kapitalistischen europäischen Gesamtzusammenhang möglich gewesen wären, so Troost.

Er habe stets davon abgeraten, den Schuldenschnitt in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Schuldenschnitt bedeute, daß die Griechen von allen Euroländern Geld geschenkt bekommen wollten, und zwar nur sie allein, nicht jedoch andere Länder, wie das im Rahmen einer europäischen Schuldenkonferenz erreicht werden könnte, die etwas ganz anderes sei. Es sei ein Fehler Syrizas gewesen, sich auf den Schuldenschnitt nach dem Beispiel Deutschlands 1953 zu versteifen und auf europäische Solidarität zu hoffen, wie es sie im gegenwärtig verfaßten Europa nicht gebe, das ein Resultat der Regierungen der führenden Mitgliedsländer sei. Seines Erachtens sei es eine verfehlte kapitalistische Politik gewesen, die wesentlich zu dieser Krise beigetragen habe. Anstelle der Austeritätspolitik, die alles aus dem Ruder laufen ließ, hätte man Eurobonds über alle Länder nutzen sollen, um Griechenland zu zinsgünstigen Konditionen Umschuldung zu gewähren und eine Anschubfinanzierung zu geben. Grundsätzlich ließen sich Alternativen nur in der gesamten EU oder Eurozone beraten, nicht jedoch in einem einzelnen schwachen Land. Auch müsse man über Industriepolitik reden, da es mit Grexit oder ohne einer wirtschaftlichen Rekonstruktion bedürfe.

Thanasis Spanidis teilte die Auffassung, daß es keine finale Krise des Kapitalismus gebe. Es handle sich um eine Krise, die in der kapitalistischen Akkumulationsdynamik begründet sei, da diese nur die Bewegungsform des Konjunkturzyklus, nicht aber einen linearen krisenfreien Verlauf kenne. Die gegenwärtige Krise sei keine reine Finanzkrise, sondern das Resultat einer jahrzehntelangen Überakkumulation von Kapital, die von einer konjunkturellen Überproduktionskrise überlagert werde. Die extrem harte Austeritätspolitik habe dazu beigetragen, die Krise zu vertiefen und zu verlängern. Dennoch handle es sich aus Sicht der herrschende Klasse um keine verfehlte oder unvernünftige Politik. Vielmehr gehe es dabei um grundsätzliche Strukturtransformationen des Kapitalismus, um die Schaffung eines neuen Wachstumsmodells, in dem soziale und ökonomische Zugeständnisse an die Arbeiterklasse keine wesentliche Belastung der Profitraten mehr darstellen und die Interessen des Kapitals immer autoritärer und gegen immer weniger Widerstand durchgesetzt werden können. Das sei die Richtung, in die sich die EU insgesamt entwickle.

Die Zeiten, in denen eine keynesianische Wirtschaftspolitik als Paradigma, also eine antizyklische Finanz- und Geldpolitik, das herrschende Modell gewesen ist, seien ein für allemal vorbei. Es gebe zwar einzelne Maßnahmen zur Stärkung der Nachfrage wie Konjunkturprogramme oder die lockere Geldpolitik der EZB, aber nicht mehr im großen Stil wie in den 50er und 60er Jahren. Die Reinigungsfunktion, die Marx den Krisen zuschreibe, daß sie nämlich durch Vernichtung und eine gewisse Zurücksetzung von Kapital die Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung schaffen, werde verhindert, indem man die Krise abzuschwächen versuche. Dadurch blieben die Krisenursachen wie Überakkumulation erhalten. Es sei zuviel Kapital vorhanden, als daß es profitbringend investiert werden könnte. Daher sei die nächste um so heftigere Krise vorprogrammiert.

Mit sozialdemokratischen Konzepten Vorstellungen zu entwerfen, die angesichts der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit, aber auch zwischen den verschiedenen EU-Ländern nicht realisierbar sind, statt die Krisenursachen zu bekämpfen, sei illusorisch. Solche Programme schafften ein falsches Bewußtsein über den Klassencharakter der Politik und des Staates. Stelle man eine Forderung nicht als Kampfforderung, sondern als vermeintlich vernünftiges wirtschaftspolitisches Konzept auf, verschleiere man die dahinterstehenden Klasseninteressen. Wenngleich er sich gegen Reformismus wende, lehne er Reformkämpfe um Verbesserungen keineswegs ab. Bringe man jedoch in diese Kämpfe keine über den Kapitalismus hinausweisende Forderung ein, behindere das auch die Kämpfe um konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt, meinte Spanidis.

Man könne von Griechenland nichts über die EU lernen, was man nicht schon zuvor wissen konnte. Wer davon ausgegangen sei, daß es sich bei ihr um ein Projekt für Frieden und Völkerfreundschaft handle, komme jetzt natürlich in Erklärungsnöte. Aus seiner Perspektive sei die EU seit den Anfängen ihrer Vorläufer ein gegen die Völker, gegen die Arbeiterklasse gerichtetes aggressives, reaktionäres, imperialistisches Gebilde. Seit den 80er Jahren habe sie ihren aggressiven Charakter nach innen massiv verschärft. Zuerst sei es gegen den Kommunismus, aber auch alle Schranken der Kapitalakkumulation gegangen. Längst habe die EU nicht mehr nur eine außenpolitische Bedeutung, sondern auch die Funktion einer beschleunigten wirtschaftspolitischen Transformation in Richtung Liberalisierung, Privatisierung, Exportorientierung und Währungsstabilisierung. Sie sei heute ein Herrschaftssystem, in dem nahezu ungefiltert die Interessen des großen Kapitals durchgesetzt werden, an prominenter Stelle die des deutschen Großkapitals, da es auf der EU-Ebene noch weniger organisierten Widerstand als auf der nationalstaatlichen dagegen gebe und geben könne. In gewisser Weise spiele man die EU-Ebene gegen die nationalstaatliche Ebene aus, und in diesem Sinne gelte es, die auf nationalstaatlicher Ebene erkämpften Errungenschaften gegen die EU zu verteidigen. Aus jeder linken, demokratischen, fortschrittlichen Perspektive müsse man die EU aufs schärfste ablehnen und bekämpfen. Er befürworte jedoch keine bloße Rückübertragung der EU-Funktionen auf die nationalstaatliche Ebene, denn der zentrale Ansatz bleibe die Eigentums- oder Systemfrage, und ohne Sozialismus wäre ein Austritt aus der EU womöglich sogar eine Verschlechterung, jedenfalls aber nicht notwendigerweise ein fortschrittliches Ziel, so Spanidis.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Manfred Sohn
Foto: © 2015 by Schattenblick


Divergenz der Handlungskonsequenzen

Auf Nachfrage der Moderatoren, ob er am Kapitalismus in der chronischen Krise nur noch gleichermaßen verhängnisvolle Handlungsoptionen erkennen könne, bestätigte Manfred Sohn dies. Er spreche nicht von einer Endkrise, sondern vom Beginn der finalen Krise des Kapitalismus, die etwas ganz anderes sei. Vor uns liege eine elende Phase, in der dieses System an seine bereits von Marx abstrakt analysierten und nun in die Wirklichkeit tretenden Grenzen stoße - ein Prozeß des Scheiterns an den eigenen Widersprüchen, der sich über Jahrzehnte hinziehen könne. Axel Troost werfe Tsipras eine verfehlte kapitalistische Politik vor, woraus folge, daß man jetzt eine richtige kapitalistische Politik machen müsse. Thanasis Spanidis meine, es gehe auch um Verbesserungen im Hier und Jetzt. Die nüchterne Frage sei jedoch, ob innerhalb dieses Systems derartige Verbesserungen überhaupt noch möglich sind. Sein Eindruck sei, daß ein großer Teil der Bevölkerung weltweit und sogar in Deutschland in Beantwortung dieser Frage schon weiter sei. Er arbeite seit 30 Jahren in demselben Konzern und könne bestätigen, daß die Formulierung, den Kindern solle es einmal besser gehen als einem selbst, längst durch die Hoffnung abgelöst worden sei, den Kindern möge es künftig nicht allzu viel schlechter gehen. Das sei der sprachliche Reflex auf die Einsicht, daß dieses System an die Grenze der Verbesserungsfähigkeit stoße.

Marx habe im dritten Band des Kapitals den Begriff des fiktiven Kapitals eingeführt. Kaufe man sich beispielsweise ein Auto, sei dies ein Vorgang innerhalb des kapitalistischen Normalbetriebs. Bilde sich jedoch ein System des Kredits heraus, habe sich durch den Schuldschein etwas Fundamentales geändert. Da man diesen Schuldtitel verkaufen könne, bilde sich dasselbe Kapital zweimal ab. Geschehe das massenhaft, wachse ein gewaltiger Berg von Titeln in der Hoffnung auf künftigen Profit. Auf diese Weise würden Krisen in die Zukunft verlagert, was ihren späteren Ausbruch jedoch um so heftiger mache. Nicht einzutreibende Schulden führten irgendwann zum Zusammenbruch.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Axel Troost
Foto: © 2015 by Schattenblick

Axel Troost erwiderte auf die Frage, wie er den Vorschlag Sahra Wagenknechts nach einem geordneten Grexit bewerte, er halte die Annahme für falsch, daß mit der daraus resultierenden Abwertung etwas gewonnen sei. Die Exportmöglichkeiten würden sich bestenfalls im Tourismus verbessern, während sich die Importe einschließlich aller Rohstoffe erheblich verteuerten und man den Kapitalmärkten komplett ausgeliefert wäre. Aus dem Euro auszutreten und zugleich den Schutz der EZB zu erwarten, sei miteinander unvereinbar.

Konfrontriert mit der Aussage Wagenknechts, daß eine von der EU bestimmte Haushalts- und Lohnpolitik verhängnisvoll wäre, da dies jegliche Spielräume für demokratische Entscheidungen in den Mitgliedstaaten beschneide, widersprach Troost. Eine Institution in jedem Land, die die Löhne im Blick habe, sei nicht mit einer Aufgabe der Tarifautonomie gleichzusetzen. Rügten die EU-Kommission, der IWF oder die OECD Deutschland, weil hier zu wenig für die Binnennachfrage getan wird, sei das eine Chance, die Kampfbedingungen zu verbessern. Druck auf die eigene Regierung auszuüben, könne man letztlich als deutsche Linke nicht, da man als Nestbeschmutzer abgestempelt werde. Vielmehr müßten die anderen großen EU-Staaten endlich klarstellen, daß sie sich von Deutschland nicht länger an die Wand fahren lassen. Eine Rückkehr zu einem schrankenlosen D-Mark-Imperialismus sei für ihn keine Lösung. Vielmehr müsse man den EU-Haushalt mindestens verdoppeln, um von dort aus vernünftig Strukturpolitik machen zu können, plädierte Troost für eine Stärkung der EU.

Thanasis Spanidis bekräftigte die Auffassung, daß Syriza die Verantwortung für die Illusion trage, man könne durch eine bessere Verhandlungsweise Zugeständnisse erreichen, die dann zu einer völlig anderen Politik führten. Der Schaden für die Arbeiterbewegung und den Gedanken des sozialen Fortschritts sei unermeßlich. Obgleich es vorauszusehen gewesen sei, daß das passieren würde, hätten sich zahllose Menschen in Griechenland und anderen europäischen Ländern von Syriza in diese Niederlage lotsen lassen.

In der Folge vertiefte Axel Troost sein Plädoyer für einen angemessenen Einsatz der Staatsverschuldung. Schuldenbremse und Fiskalpakt führten zur Stagnation, da die private Dynamik ausbleibe. Die privaten Haushalte in Deutschland bildeten Ersparnisse zwischen 140 und 240 Milliarden Euro im Jahr, die im klassischen Kapitalismus von Unternehmern als Kredit aufgenommen würden, um ihre Investitionen zu finanzieren. Inzwischen häuften die deutschen Unternehmen jedoch ihrerseits enorme Vermögen auf, da sie in Geld schwämmen. Nachfrage schaffen könnte in dieser Situation der Staat, zumal es einen großen Bedarf an öffentlichen Investitionen gebe, doch werde er durch eine gebremste Verschuldung daran gehindert. Dadurch fließe das Geld ins Ausland und trete erst dann als Nachfrage in Erscheinung, wenn das Ausland Kredite aufnimmt. Deswegen sei es sinnvoll, Staatsverschuldung in einem vernünftigen Ausmaß zuzulassen.

Die hohe Staatsverschuldung Deutschlands von über 2 Billionen Euro sei zum überwiegenden Teil in drei Entwicklungsperioden entstanden: Im Zuge der deutschen Einheit seien von 1990 bis 1996 insgesamt 700 Milliarden zusätzliche Schulden entstanden. Zweitens seien in Folge der Steuersenkungspolitik von Rot/Grün zwischen 2002 und 2006 über 300 Milliarden nur deswegen aufgenommen worden. Und drittens habe die Bankenrettung 300 Milliarden gekostet. Mit diesen drei Perioden ließen sich 1,3 Billionen Euro Staatsverschuldung erklären, wobei weder die Steuersenkung noch die Bankenrettung ein Konjunkturprogramm oder Strukturprogramm für öffentliche Ausgaben gewesen sei. Deshalb lehne er die schwarze Null im Bundeshaushalt ab und wolle darüber hinaus auch die Schuldenbremse und den Fiskalpakt zurückdrehen.

Darauf entgegnete Manfred Sohn, daß ein kapitalistischer Staat nicht allein aus den Einnahmen der Staatsbediensteten, deren Steuern und den Schulden allein aufgebaut werden könne, sondern stets wesentliche Bereiche außerhalb des Staatsapparates benötige, die Steuern zahlen, mit denen er seine Ausgaben bestreitet. Wie immer man Griechenland auch finanziere, so sei doch nicht abzusehen, welche nichtstaatlichen Sphären dort so massenhaft entstehen sollten, daß die hohe Arbeitslosenquote spürbar sinke.

Thanasis Spanidis führte in seiner Erwiderung auf die Beiträge der beiden anderen Diskutanten aus, daß einzelne Staaten durch die Internationalisierung des Warenverkehrs Gefahr liefen, daß von ihren erhöhten Staatsausgaben andere Länder durch deren Export profitierten. Grundsätzlich sei im Monopolkapitalismus die Tendenz zu einer sich verschärfenden Stagnation zu erwarten, zumal die zunehmende Rationalisierung die Nachfrage nach Waren auch auf dem Weltmarkt begrenze. Dennoch sei auch er dafür, den Fiskalpakt zu beseitigen. Man müsse sich gegen solche Maßnahmen wenden, ohne daraus Lösungen im Kapitalismus abzuleiten.

Die wahre Schranke des Kapitalismus beschreibe Marx nicht als fixen Punkt, von dem an alles in den Zusammenbruch führe. Vielmehr seien Krisen ein Grundgesetz der Entwicklungsweise des Kapitalismus. Es gebe zwar eine Tendenz zu tieferen Krisen, aber keinen Endpunkt, weil jede Krise die Voraussetzungen schaffe, daß wieder Profite gemacht werden können. Die entscheidende Frage bleibe stets, wer dafür bezahlt. Ungeachtet verengter Spielräume könne und müsse man gegen jede einzelne Sparmaßnahme Widerstand leisten, die die armen Bevölkerungsschichten trifft. Etwas völlig anderes sei es jedoch, wie Axel Troost ein Regierungsprogramm zu präsentieren, mit dem man den Kapitalismus angeblich auf eine bessere Weise verwalten kann, so daß die Unternehmen und zugleich die gesamte Bevölkerung davon profitieren. Diesen Ansatz halte er für eine Illusion, so Thanasis Spanidis.

(wird mit Teil 2 der Podiumsdiskussion fortgesetzt)


Veranstaltung in der Kaffeewelt - Foto: © 2015 by Schattenblick

Manfred Sohn, Axel Troost, Uli Ludwig (auf dem Podium), Harald Humburg (stehend rechts)
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnote:

[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/


Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/210: EU-Umlastkonverter - Monopoly ... (SB)
BERICHT/214: EU-Umlastkonverter - Viel Feind', viel Ehr' ... (SB)
BERICHT/216: EU-Umlastkonverter - Wertschöpfungskolonie Griechenland ... (SB)
BERICHT/217: EU-Umlastkonverter - Militärkolonie der NATO ... (SB)
INTERVIEW/279: EU-Umlastkonverter - Politprothetik ...    Andreas Wehr im Gespräch (SB)
INTERVIEW/282: EU-Umlastkonverter - Taktisch kompatibel, strategisch frei ...    Kurt Baumann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/283: EU-Umlastkonverter - geklärte Fronten ...    Gregor Kritidis im Gespräch (SB)
INTERVIEW/284: EU-Umlastkonverter - Geschichte nährt den Widerstand ...    Claudia Haydt im Gespräch (SB)

15. Dezember 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang